»Holger dachte Ästhetik und Politik zusammen«

Gespräch mit Harun Farocki über den Filmstudenten Holger Meins und seinen Weg in die RAF

Es gibt diese furchtbaren Fernsehaufnahmen von der Verhaftung von Holger Meins: Er ist bis auf die Unterhose nackt und wird von zwei Polizisten zu einer Wanne geschleppt. Er schreit und schreit und schreit. Keine Worte, nur Laute, fast wie ein Tier. Hast du das damals im Fernsehen gesehen?

Ja. Das war erschreckend, gerade die Nacktheit. Ich nehme an, daß die Polizei die ausgezogen hat. Das hat seine Fortsetzung gefunden in den Bildern von seinem Tod im Gefängnis nach dem Hungerstreik. Dieses Skelett, fast nicht mehr menschlich. Das sah so aus wie diese Körperfunde wie ein Schrekkensbild aus dem Dreißigjährigen Krieg. Ich hatte erwartet, daß die sich wie die japanischen Zengakuren in einem Haus verschanzen und sich von der Polizei zusammenschießen lassen.

Zu dieser Zeit waren die RAF-Leute in der Öffentlichkeit zu Unmenschen hochstilisiert worden. Du kanntest einen, Holger Meins. Wie war das, ihn plötzlich als "Public Enemy Number One" im Fernsehen zu sehen?

Wir wohnten seit Frühjahr 1968 in der Grunewaldstraße in Berlin-Schöneberg. Ich weiß noch, daß Holger uns beim Umzug geholfen hat. Später wurde unser Haus in der Grunewaldstraße ein linkes Zentrum. In der Wohnung unter uns war eine Kommune. Da gab es einen Kinderladen, ein Videostudio, eine Druckerei, wo Raubdrucke gemacht wurden. Holger Meins hatte da auch mal kurz gewohnt, vielleicht war er auch nur dort gemeldet. Auf jeden Fall kam für ihn die Süddeutsche Zeitung. Da gab es einen Tag, an dem ein Bericht über ihn auf der ersten Seite war, mit einer falschen Schreibweise. "Mons" wurde er, glaube ich, geschrieben. Und auf der Zeitung, die im Briefkasten steckte, stand daneben geschrieben: "Meins".

Das waren ganz seltsame Zeiten: Wenn man keinen Anzug trug oder keine langen Haare hatte, dann galt man als Hippie oder Rauschgiftsüchtiger oder Ost-Agent. Dann bekamen wir Kinder, und plötzlich änderte sich das Verhältnis zu unseren Nachbarn. Wir hatten einen Anwalt, der herausfand, daß die meisten Leute im Haus zuviel Miete bezahlten, vor allem die Ausländer. Wir machten 1970 eine Hausversammlung, und eine türkische Familie bekam plötzlich 700 Mark zurück. Das strahlte auch auf uns ab. Und genauso war es mit Baader-Meinhof, die konnten auch ein Robin-Hood-haftes Ansehen gewinnen. Sie hatten den Armen noch nichts gegeben, aber immerhin nahmen sie den Banken etwas weg. Außerdem waren sie mit ihrer Intelligenz der Polizei voraus.

Ich hätte gedacht, daß die RAF nur in der linken Szene diesen Nimbus der RAF hatte.

Nicht nur. Ich habe das auch in Banken gehört, daß die Leute Witze darüber machten. Diese Art von Sympathie kostet ja nicht viel. Man hält ein bißchen zu denen, weil die so einen tollen Putz machen. Und von dieser Sympathie erhielten auch wir etwas. Immer, wenn eine Meldung kam, der und der ist verhaftet worden, gab es Mitleidsbekundungen von den Nachbarn: Der war doch so nett, und das ist ja eine Schweinerei. Es kam auch sehr viel Polizei in die Grunewaldstaße. Bei jeder Gelegenheit rückte völlig sinnlos eine Hundertschaft an, umstellte die Höfe und durchsuchte die Wohnung. Dabei war vollkommen klar, daß sich da niemand mehr verstecken würde.

Wann war das? Im "Deutschen Herbst"?

Nein, nach der Lorenz-Entführung 1975 kamen sie, und 1977 erwartete ich das auch. Aber da hatte sich das professionalisiert. Da wußten sie, wo sie hingehen mußten und wo nicht. Es war ernst geworden.

Gehen wir mal zurück in die Zeit, in der du zusammen mit Holger Meins an der DFFB studiert hast. Wie ist dir das in Erinnerung?

Holger hatte schon viel mehr Filmerfahrung als die meisten von uns. Der war ein richtiger Cineast. Er hatte eine große Ahnung davon, daß das, was man in der Filmschule lernt - was richtig ist und was nicht - ein sehr unsicheres Terrain ist. Der hatte so eine vom Underground geprägte Ästhetik. Er hatte schon mal mit Hellmuth Costard in Hamburg an dem Film "Klammer auf, Klammer zu" gearbeitet. Es gab an der Uni Hamburg eine Filmwerkstatt, da hatte er Erfahrungen gesammelt, und daher beherrschte er auch die Kamera. Bestimmt wäre aus ihm ein wirklich unabhängiger Filmemacher wie Costard geworden. Denn er hatte das Zeug zu filmen - einen eigenen Stil.

An der Filmakademie war damals alles noch sehr verschult. Dreimal die Woche sah man Filme und redete darüber. Ullrich Gregor zeigte die Filmgeschichte anthologisch runter. Da merkte ich, daß Holger sehr gute Standards hatte und ein gutes Auge und eine ästhetische Erziehung. Wenn er einen Film sah, konnte er seine ästhetische Radikalität gut erkennen und einem auch vermitteln.

Holger kämpfte gegen den Fernseheinfluß. Wenn man politisch ist, kann es ja sehr leicht kommen, daß man das alles mit Wörtern macht, und die Bilder nur als Hintergrund nimmt. Damals habe ich ihm auch beim Schneiden und Vertonen seines Films "Oskar Langenfeld" zugeschaut.

Holger Meins Film "Oskar Langenfeld" ist von einer unglaublichen filmästhetischen Strenge. Könnte man von einem Zusammenhang zwischen der künstlerischen Rigidität und der späteren politischen Radikalität von Holger Meins sprechen?

Ich erinnere mich da an einen Satz von ihm, wo er sagte, die Künstler hätten die Neigung, die Aggressivität gegen sich selber zu kehren, und es käme darauf an, sie gegen die wirklichen Feinde zu richten. Er dachte das bestimmt zusammen, Ästhetik und Politik. Ich glaube, daß er unheimlich gespalten war, ob er Filme oder Politik machen sollte. Er hat sich aber immer sehr loyal verhalten. Er hat zum Beispiel in den Film "Johnson & Co" von Hartmut Bitomsky seine ganze Kraft reingesteckt, auch wenn er es vielleicht in Zweifel zog, ob man überhaupt noch solche Filme machen sollte.

Ich hatte mit ihm einen interessanten Konflikt: Wir waren 1967 bei dem Filmfestival in Knokke, und ich habe ein Flugblatt verfaßt, daß so eine Marxsche Rhetorik hatte. Bevor das gedruckt wurde, hat Holger noch drei Sätze geändert. Ich habe ihm gesagt, daß er damit den ganzen Rhythmus des Textes zerstört habe. Ich traute mich, ihm so was zu sagen, weil ich erwartete, daß er es verstünde. Aber an dieser Stelle verstand er nicht mehr. Er fand es wichtiger, daß da das politisch Richtige stand, als daß der Text noch seine Form hatte.

Aber ich weiß auch noch, daß wir 1967 in Knokke den Film "Wavelength" von Michael Snow zusammen sahen, der ihm unglaublich imponierte. Wir haben in Knokke ja gegen so eine billige Avantgarde polemisiert.Aber bei "Wavelength" spürte Holger sofort die ästhetische Radikalität, und war schwer beeindruckt. Den Film haben wir also nicht gestört, im Gegensatz zu einigen anderen.

1968 tauchte an der DFFB ein Film mit dem Titel "Herstellung eines Molotow-Cocktails" auf, in dem demonstriert wurde, wie man eine Brandbombe bastelte. Offenbar war dieser Film von Holger Meins. Das könnte man ja als die Ankündigung eines Wechsels von filmischer zu politischer Radikalität deuten ...

War der von Holger? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich schon. In "Le Gai Savoir" von Godard beschreibt der Mann ja auch metaphorisch die Frau als Molotow-Cocktail, das hatte so etwas Zeichenhaftes: der Molotow-Cocktail und die Kalaschnikow, das sind die Waffen der Schwachen und Unterlegenen. Diese Bedeutung hat der Molotow-Cocktail gehabt.

Ich habe die "Herstellung eines Molotow-Cocktails" in der TU gesehen. Wenn wir damals unsere Filme in einer studentischen Öffentlichkeit zeigten, gab es immer eine unheimliche Enttäuschung. Das lag vielleicht an unseren Produktionsmitteln: daß die Filme schwarz-weiß waren und einen fiepsigen Ton hatten, und keine Italo-Western waren, wo es bumst und knallt. Irgendwie erwartete das Auditorium von unseren Filmen, daß wir etwas unglaublich Neues, Explosives machen würden. Wenn sie dann eine von unseren DFFB-Dokumentationen sahen, fragten die sich: Was ist denn das für ein lächerlicher kleiner Wasserwerfer? Das war in ihrem Erleben alles viel größer.

Die Sache mit den Waffen hatte natürlich viel damit zu tun, daß durch das weltpolitische Patt seit 1945 alles versteinert, erstarrt war. Die Idee, die mit dem Vietnamkrieg und der kubanischen Revolution aufkam, war, daß die Guerilla-Bewegungen der Dritten Welt durch ein Unterlaufen der hohen technologischen Schwelle der Großmächte etwas ändern könnten. Am Anfang waren beim SDS die meisten Leute dagegen, daß man überhaupt Gewalt ausübte. Sie waren sogar gegen Rangeleien mit der Polizei. Es wurde argumentiert, daß das vollkommen aktionistisch wäre und der Organisation schadete. In dem Zusammenhang gab es bei mir schon den Impuls: Doch, doch, man muß noch einen Schritt weiter gehen. Das hatte natürlich auch die Funktion, sich selbst zu überzeugen, daß man sich traut, seine Schlaghemmungen zu überwinden.

In deinem Film "Ihre Zeitungen" wird ja auch mit politischer Gewalt kokettiert: Ein kämpfendes Kollektiv hantiert mit Pflastersteinen, zum Schluß hört man eine Fensterscheibe klirren; die Gruppe hat schon einen Touch von Stadtguerilla. Diese Ideen tauchen zur selben Zeit in deinen und in Holger Meins' Filmen auf, aber dennoch hat nur Meins den Weg der politischen Gewalt gewählt. Warum?

Retrospektiv weiß ich, daß ich nie in den Untergrund gegangen wäre, weil ich mich viel zu sehr darauf festgelegt hatte, Filme zu machen oder intellektuell-künstlerisch tätig zu sein. Ob das bei Holger so anders war, oder ob er nicht nur durch eine bestimmte Konstellation daran gehindert wurde, weiß ich nicht. Vielleicht hätte er ja wieder Filme gemacht, wenn er nach fünf Jahren aus dem Gefängnis gekommen wäre. Da bin ich ganz vorsichtig, was den kleinen Ausschlag gibt für eine so große Entscheidung.

Der andere DFFB-Student, der in den siebziger Jahren in den Untergrund gegangen ist und später bei einer Autorazzia erschossen wurde, ist der Schweizer Philip Sauber. Kannst du dich an ihn erinnern?

Ja, er wohnte ja auch unter uns, mit einer Frau und deren Kind. Deswegen hatte ich über meine Töchter relativ viel Kontakt mit ihm. An der Filmakademie hatte er vor unserem Rausschmiß einen Film mit dem Titel "Der einsame Wanderer" gemacht, den ich sehr bewundere. Das ist einer der schönsten Filme, die damals entstanden sind. Philip war damals 22 Jahre alt. Die ästhetische Sicherheit, mit der er das Murnausche Genre paraphrasierte, und dann auch in Berlin gleich wieder architektonisch und lichtmäßig das Äquivalent findet! Ein erstaunlicher Film. Bei dem war die Zerrissenheit klar zwischen ästhetischer Bestimmung und politischem Anspruch. Nach dem Rausschmiß aus der Filmakademie wollte er in der Grunewaldstraße ein Studio machen, in dem politische Videos gemacht werden sollten.

Was ist aus dem Plan geworden?

So gut wie nichts. Ich kann mich daran erinnern, daß da ein Film über die Schwarzen in den USA gemacht worden ist, mit Musik von MC5. So ein bißchen nach dem Modell von Godards Werkstätten. Chris Marker hat ja auch so was gemacht, so ein Kollektiv, wo gemeinsam Filme gemacht werden.

Als wir aus der Filmakademie geflogen waren, wurde viel diskutiert. Wir hatten eine Abfindung bekommen, und wir haben uns überlegt, ob wir das Geld zusammenlegen und gemeinsam produzieren sollten. Und ich erinnere mich, daß Holger Meins sagte: "Eine Vereinigung der Filmemacher ist ganz falsch. Die Filmemacher müssen sich anderen Erfahrungsfeldern, assoziieren." Das fand ich einen sehr richtigen Gedanken, und das gilt für mich heute noch. Man sollte da hingehen, wo andere etwas tun, statt eine Filmemacher-Innung zu gründen.

Hat die Härte, mit der der deutsche Staat gegen die RAF vorgegangen ist, auch zur eigenen Distanzierung von dieser Form politischer Radikalität beigetragen?

Wenn die Polizei damals in die Grunewaldstraße gekommen ist, haben die immer zu mir gesagt: Wir wissen ja, daß sie Gewalt als politisches Mittel ablehnen. Dabei hatte ich mich nie dazu geäußert. Diese Form von Isolierung wollte ich unbedingt vermeiden, daß die Polizei wußte: Das sind die Guten, das sind die Schlechten.

In den siebziger Jahren war mein Telefonbuch voll mit Namen von Leuten, die entweder Selbstmord begangen hatten oder Opfer ihrer terroristischen Aktionen geworden waren. Das war wirklich erschreckend. Ich habe heute noch einen Traum von einem, der sich über mich totlacht, weil ich immer noch auf der Erde rumlaufe. Wenn jemand, den du kennst, sich im Gefängnis zu Tode hungert, stellt das in Frage, was du selbst tust ... Wo ist eigentlich dein Engagement ...? Was bist du selbst eigentlich für ein faules Schwein ...? Das hat einen unglaublichen moralischen Druck auf mich ausgeübt.

Bei einigen war es ziemlich klar, daß die Bullen eine gute Gelegenheit ergriffen hatten, um mal jemanden abzuknallen, zum Beispiel bei Georg von Rauch. Andere hatten es aber darauf angelegt, sich zu heroisieren. Dagegen hatte ich eine starke Abwehr. Auch bei der RAF war ja immer ein Element moralischer Erpressung dabei. In allem, was sie taten, sagten sie immer: Ihr seid ja nur zu feige, wir tun es, keiner hilft uns.

Warst Du ein "Sympathisant" der RAF, wie es damals hieß?

Ich fand die Guerilla-Idee falsch. Ich sah keinen Anhaltspunkt dafür, wie das gehen könnte. Ich sah in der Bevölkerung Deutschlands keine Majorität, die bereit war, so was zu unterstützen, ich merkte, wie schnell sich kulturell alles änderte, von dieser Vorkriegsethik zum Konsumismus von heute. Diesen Leuten konnte man nicht mehr mit dem antiimperialistischen Kampf in den Metropolen kommen.

Wie schätzt du heute die Bedeutung der RAF ein?

Die RAF hat wohl dem Staat geholfen zu verstehen, daß er gar nicht mehr in diesem Sinne ein Repressionsapparat war, und daß es anachronistisch ist, die Leute auf so plumpe Weise zu unterdrücken. Der Staat hat ja bei dieser Kriegsspielerei, mit Fahndungsapparat und Eingreiftruppen, gerne mitgespielt. Aber wie der Mensch zugerichtet wird, kann man wohl eher mit Foucault verstehen als mit diesen Vorstellungen aus dem Feudalismus und Anti-Feudalismus.

Foucault sagt in einem Interview, daß die Kommunisten so wütend auf die Strukturalisten reagierten, weil das eine neue Möglichkeit war, links zu sein, ohne was mit dem Marxismus zu tun zu haben. In den fünfziger Jahren gab es dieses Übungsdorf in West-Berlin, wo die Polizei einen kommunistischen Aufstand als Rollenspiel durchspielte. Leider habe ich das nie gefilmt. Da gab es Leute, die SED-Agenten darstellten, die gingen da durch die Straße und wiegelten die Leute auf. Mit solchen Vorstellungen ist die Polizei 1967/68 in die Konflikte mit den Studenten reingegangen. Die haben gedacht, das sind alles Agenten aus dem Osten. Die konnten sich nicht vorstellen, daß da auch der nette Nachbarssohn dabei sein könnte.

Innerhalb der nächsten fünf Jahre lernten sie dann, daß sie da gar nicht gegen ein Heer von Ostagenten kämpften. Die RAF hat aber immer noch mit diesen anarchistischen Termini gearbeitet, daß sie eine Armee seien und mit einer militärischen Taktik operierten. Diese Vorstellung von Opposition und Repression ist obsolet geworden. Das hat die Opposition an dieser RAF-Tragödie gelernt, das hat aber auch der Staat daraus gelernt.

1968, so kommt es mir heute vor, war vor allem das Ende des Humanismus. In dem Sinne, daß es noch einmal um die Aufhebung der Entfremdung ging, um den Anspruch, auf der Höhe der Gegenwart zu sein, bewußt in die Geschichte einzugreifen. Die größeren Bücher, die zur gleichen Zeit herauskamen, Foucault und Derrida, handelten davon, daß es zu spät ist für die Autonomie und daß die Verdinglichung eine zivilisatorische Tatsache ist. Man kommt da nicht mehr hin, so wie man nicht mehr ohne Strom und Heizung leben kann - außer in Survival-Kursen.