Über den autoritären Kapitalismus der Volksrepublik China

Die Kontinuität der Volksfront

Der autoritäre Kapitalismus der heutigen Volksrepublik ist gar nicht so neu. Schon unter Mao war die »demokratische Diktatur des Volkes« mit kapitalistischen Produktionsweisen durchaus vereinbar.

Für die Kommunistische Partei gibt es am 1. Oktober Grund zu feiern. Denn 60 Jahre nach dem Sieg der Revolution von 1949 sind die Erben Mao Zedongs immer noch an der Macht. Das System der Einparteien-Herrschaft hat nicht nur den Zusammenbruch des Ostblocks überlebt, sondern schlägt sich auch in der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise erstaunlich gut. Trotz sozialer und ethnisch begründeter Unruhen scheint es noch immer keine Kraft im Land zu geben, die wirklich in der Lage ist, die Kommunistische Partei Chinas herauszufordern. Nicht nur das scheint verwunderlich. Wundern könnte man sich auch darüber, wie es möglich war, dass aus Maos eins­tigem Revolutionsmodell der autoritäre Superkapitalismus von heute wurde. Der Geburtstag der Volksrepublik soll ein Anlass sein, statt der Brüche die Kontinuitäten in den Vordergrund zu stellen.
Historisch zeichnet sich der chinesische Sozialismus schon immer durch eine gewisse Ambivalenz aus. Die Volksrepublik wurde 1949 nicht als sozialistischer Staat, sondern offiziell als »demokratische Diktatur des Volkes« beziehungsweise als »Neue Demokratie« gegründet. Schon während des Widerstandskrieges gegen Japan von 1937 bis 1945 und dem darauffolgenden Bürgerkrieg mit der Guomindang von 1946 bis 1949 versuchten Mao Zedong und seine Genossen, ein möglichst vielfältiges Bündnis aus Arbeitern, Bauern, Intellektuellen, Kleinbürgern, »patriotischen« Banditen, übergelaufenen Warlords, Vertretern ethnisch definierter Minderheiten und der so genannten nationalen Bourgeoisie zu schaffen. Denn in den roten Stützpunkten auf dem Land hatte die Partei lernen müssen, dass eine radikale Klassenkampfpolitik gegen die Mittelschichten nicht sinnvoll war.

Darum wurde nach 1949 zunächst nur das so genannte bürokratische Kapital enteignet. 45 Prozent des Bodens wurden an die Bauern neu verteilt. Diesen Millionen von neuen Kleineigentümern versprach die Partei, dass die Phase der »Neuen Demokratie« mit gemischten Wirtschaftsformen zehn bis 15 Jahre andauern würde. Nicht wenige Kapitalisten verzichteten angesichts dessen auf die Flucht aus Shanghai. Auch Intellektuelle kamen aus dem Ausland zurück, um beim Aufbau des neuen Chinas zu helfen. Schließlich war das Land in einem schlechten Zustand: Die durchschnittliche Lebenserwartung lag 1949 bei 35 Jahren, rund 80 Prozent der Bevölkerung konnten weder lesen noch schreiben.
Trotz der wirtschaftlichen Stabilsierung des Landes drängte Mao ab 1953 auf einen Kurswechsel. Seiner Meinung nach vergrößerten sich die sozialen Unterschiede auf dem Land erneut, in den Städten drohte eine Versorgungkrise, da die Bauern mehr konsumierten, anstatt das Getreide zu verkaufen. Die Antwort der Partei hieß erst Abschaffung des privaten Getreidehandels, dann Kollektivierung der Landwirtschaft. Bis 1956 konnte die sozialistische Umwälzung der Indus­trie und Landwirtschaft im Wesentlichen abgeschlossen werden. Schon bald entstanden in der Parteiführung jedoch Zweifel, ob das sowjetische Modell mit zentralistischer Planwirtschaft und beschleunigter Urbanisierung wirklich geeignet war, um die Probleme von 600 Millionen chinesischen Bauern zu lösen. Der erste Versuch, einen chinesischen Weg zum Sozialismus zu finden, endete zwischen 1958 und 1961 während des so genannten »Großen Sprungs nach vorne« im ­Desaster. In diesen Jahren starben 15 bis 40 Millionen Menschen an Hunger.

Dennoch wurden einige Elemente der Strategie des »Großen Sprungs« Mitte der sechziger Jahre wieder in entradikalisierter Form aufgegriffen: Es folgte eine Phase der Dezentralisierung von Planung und Administration, von Experimenten auf lokaler Ebene sowie eine ländliche Industrialisierung, die auf Kollektivbetrieben der Volkskommunen basierte. Nach den Reformen von 1978 sollten die ländlichen Gemeindebetriebe entscheidend zum Wirtschaftsaufschwung beitragen. Anstatt neue Maßnahmen gleich landesweit durchzusetzen, werden sie in China häufig erst in lokalen Modellen ausprobiert. So sollte auch die Führung um Deng Xiaoping den Kapitalismus und die Auswirkungen ausländischer Direktinvestitionen zunächst in so genannten Sonderwirtschaftszonen erproben. Diese Dezentralisierung erleichterte in den achtziger Jahren den Übergang von der Plan- zur Marktwirtschaft, der der Sowjetunion wesentlich schwerer fiel.
Doch mit dem Parteiapparat wurde Mao schon zu Anfang der sechziger Jahre immer unzufriedener, er befürchtete, Bürokratismus und Routine würden den revolutionären Eifer der Massen ersticken. Die Parteilinke wagte damals gar zu fragen, was denn an einer Fabrik sozialistisch sei, wenn die Arbeiter nichts zu sagen hätten, oder was an einer Universität sozialistisch sei, wenn nur die alten Formen der Arbeitsteilung reproduziert würden. Solange Warenproduktion existiere, drohe die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus. Die Kulturrevolution war 1966 der Versuch Maos, vor allem städtische Jugendliche und radikale Arbeiter gegen den rechten Flügel der Partei zu mobilisieren. Rote Garden und Rebellengruppen entstanden. Zu Beginn riefen die Parteilinken dazu auf, neben der Partei neue basisdemokratische Organe nach dem Vorbild der Pariser Kommune zu schaffen. Allerdings eskalierte die Kulturrevolution schon im Laufe des Jahres 1967 in Fraktionskämpfen und bürgerkriegsartigen Unruhen. Mao setzte in Folge die Armee ein. Im Laufe der nächsten Jahre wurde die Herrschaft der Partei wiederhergestellt, Rebellengruppen wurden aufgelöst und Millionen von Jugendlichen auf das Land verschickt. Das war die faktische Zerschlagung der Roten Garden. Die Kulturrevolution als Massenbewegung wurde spätestens 1968/69 vom Militär beendet.
Trotz aller radikalen Rhetorik von der Weltrevolution gelang der Volksrepublik mit dem Besuch des US-Präsidenten Nixon 1972 ein großer außenpolitischer Coup – in Folge der Annäherung an die USA bekam China seinen ständigen Sitz im Uno-Sicherheitsrat zurück und wurde von wichtigen kapitalistischen Staaten anerkannt. Die Grundlagen für die außenpolitische Öffnung nach 1978 wurden also schon während Maos Lebzeiten gelegt.
Nicht lange nach Maos Tod 1976 wurde die Parteilinke um die so genannte Vierer-Bande mit einem Staatsstreich gestürzt. Die chinesische Gesellschaft war von den ständigen Kampagnen ausgelaugt, und die meisten Rebellen von 1966 waren desillusioniert und frustriert. Selbst die drei Millionen Mitglieder zählende Arbeitermiliz, die von den Linken aufgebaut wurde, war nicht mehr in der Lage, etwas gegen den Putsch der Rechten auszurichten. Die neue Führung machte sich in den nächsten Jahren daran, die klassisch leninistische Parteiherrschaft wiederherzustellen und Massenkampagnen sowie Massenbeteiligung an Entscheidungsprozessen abzuschaffen. Neben neuen Gesichtern konnten Revolutionsveteranen wie Deng Xiaoping oder Chen Yun die neue Führung legitimieren.

Mit der Reform- und Öffnungspolitik von 1978 wurden die Elemente der »Neuen Demokratie« von 1949 wieder neu aufgegriffen: Viele Opfer von Maos Kampagnen wurden rehabilitiert, die Intellektuellen als »Teil der Arbeiterklasse« wieder in das System integriert. Die 55 »nationalen Minderheiten« sollten durch größere Toleranz gegenüber ihren Religionen und Traditionen wieder gewonnen werden. Auf dem Land führte die KPCh nach 1983 das Familienverantwortlichkeitssystem ein. Auf Grundlage von Staatsbesitz an Boden und einer egalitären Verteilung wurden die Bauernfamilien zur entscheidenden Wirtschaftseinheit – ein System, das den Verhältnissen ähnelte, die nach der Bodenreform von 1949 und 1950 geschaffen wurden. Gegenüber den Unternehmern gab die Führung um Deng Xiaoping gar die Parole aus: »Reich werden ist keine Schande«. Weil sich die Privatisierung von Staatsbetrieben und die damit einhergehenden Massenentlassungen in einem Zeitraum von 20 Jahren vollzogen wurden, konnte die Partei Widerstand seitens der Arbeiter in Grenzen halten.

Doch auch nach der Privatisierung sollte die Kontrolle der Wirtschaft durch die Partei im Vergleich zur Ära Maos zwar weniger streng gehandhabt, aber nicht aufgegeben werden. Bis heute reguliert der Staat die Wirtschaft stark.
Doch trotz der Parallele zwischen Maos »Neuer Demokratie« von 1949 und den Reformen von 1978 standen diese unter anderen Vorzeichen. Mao und seine Genossen sahen die »Neue Demokratie« als Etappe zum Sozialismus. Es existierten sowohl in der ländlichen als auch in der urbanen Gesellschaft soziale Kräfte, die dieses Ziel unterstützten. Auch fand die chinesische Revolution im Kontext der Entkolonialisierung Asiens statt. Die neue Führung um Deng sah den Rückgriff auf die »Neue Demokratie« nach dem Scheitern der Kulturrevolution dagegen als einen Ausweg aus der Krise. Heute gilt dieser Zustand nicht mehr als Etappe auf dem Weg zum Sozialismus, sondern wird zum »Sozialismus mit chinesischer Besonderheit« verklärt, die Existenz von Privateigentum und Markt wird von keinen bedeutenden Kräften in Frage gestellt.
Blickt man auf die 60jährige Geschichte der Volksrepublik China zurück, erscheint die sozialistische Phase von 1956 bis 1978 als relativ kurz und besonders brutal. Als Bilanz bleibt, was Barrington Moore schon 1966 in »Die sozialen Ursprünge von Diktatur und Demokratie« beschrieb: In rückständigen Ländern wie Russland und China wurden die Kommunisten aufgrund des Mangels eines starken Bürgertums zum Vollstrecker der Mission, die Marx eigentlich der Bourgeoisie zugewiesen hatte. Der Anspruch, eine emanzipierte Gesellschaft mit weniger hierarchischer Arbeitsteilung und Ausbeutung aufzubauen, ist in China 1958 und 1966 gescheitert. Auf dem Gebiet von Nationbuilding, Modernisierung, Industrialisierung und Urbanisierung hat die KPCh nach 60 Jahren zwar beeindruckende Erfolge aufzuweisen. Schockierend sind allerdings die Opfer, die vor allem die ländliche Bevölkerung bringen musste. Dass sie noch heute die meisten zu tragen hat, darin vor allem besteht die Tragik der Kontinuität der chinesischen Volksfront zum 60. Jahrestag.