Über Netlabels, die Musik im Internet verschenken

Sie nennen es nicht Arbeit

Es gibt rund tausend Netlabels, die die Musik ihrer Künstler nicht mehr als Ware vertreiben wollen, sondern im Internet verschenken. Für viele Elektro-Bastler erscheint das als Weg, ihre Kreativität auszuleben, andere nutzen das Netz als Karriereforum.

Rund zwanzig Leute warten vor dem Club auf Einlass und werden langsam unruhig. Der Türsteher mit der Alpha-Industries-Jacke und den kleinen Kreolen grinst nur. »Seit einer Stunde warte ich schon. Komm, wir gehen, hab’ kein’ Bock mehr«, sagt ein junger Mann zu seiner zitternden Begleitung im Mini-Rock. Aber dann bleiben die beiden doch. In der »Roten Sonne« in München spielt heute das Kollektiv Turmstraße sein Set. Zehn Euro Ein­tritt verlangt der glatzköpfige Typ an der Kasse, während er mit schwarzen Handschuhen alles filzt, was irgendwie nach Tasche aussieht. Drinnen ist es stickig und voll, das Kollektiv Turmstraße hat es geschafft, den Club zu füllen.
Kollektiv Turmstraße, das sind Christian Hilscher und Nico Plagemann, die anfangs nur dieselbe WG und die Begeisterung für elektronische Musik miteinander teilten. Das war um 1999. Das Duo gehört zur ersten Netaudio-Generation. In der Anfangszeit der Band wurde die Liebe zur elektronischen Musik nur im Internet ausgelebt. Kostenlos konnte ihre Musik auf ihrer Website als Datenbündel heruntergeladen werden. Creative Commons (CC) diente ihnen als Lizenz, um ihre Produktionen zu vertreiben.
Creative Commons, was so viel heißt wie »kreatives Gemeinschaftsgut«, ist eine Non-Profit-Organisation, die im Internet Standard-Lizenzverträge zum Herunterladen anbietet. Diese Art der Lizenzierung bietet Freiheiten, die das deutsche Urheberrecht nicht zulässt. Die Gema bleibt dabei außen vor, Lieder können im öffentlichen Raum ohne Abgabe an diese Einrichtung gespielt werden. Auch können die Werke von Fans geremixt und legal kopiert werden. Meistens ist nur geregelt, dass bei kommerzieller Nutzung bezahlt werden muss.
Nachdem sich erste Erfolge einstellten und sich eine Fangemeinde bildete, gründeten Hilscher und Plagemann, die beide in Hamburg leben, das Label »Musik gewinnt Freunde« und verkaufen ihre Werke heute auf Vinyl oder CD. Sie machen damit Gewinn, was einige in der Webaudio-Gemeinde nicht gerne sehen. Denn für sie ist Musik Allgemeingut und soll wie ein öffentlicher Park in der Stadt für jeden kostenlos zugänglich sein.
»Viele Künstler, die mal mit CC-Musik begonnen haben, setzen heute primär auf Verkauf. Wenn erst mal eine genügend große Fan-Base existiert, wollen viele einen Plattenvertrag haben«, kritisiert Ronny Kraak vom Kraftfuttermischwerk, einem Beat-Bastler-Duo aus Potsdam. Er selbst ist ein Net­audio-Künstler der ersten Stunde und nach wie vor Verfechter einer kostenlosen Kultur im Netz. Auch wenn er inzwischen ein bisschen gnädiger auf diejenigen schaut, die auf kommerzielle Vertriebsstrukturen setzen.
Als das Weblabel Thinner, auf dem Kraftfuttermischwerk debütierte, vor einiger Zeit auf die Bezahlvariante umstellte, wurde in den Foren diskutiert, bis die Tastaturen glühten. Denn das Label aus Frankfurt war mit seiner Professionalität und seiner Reichweite beim Vertrieb über das Internet ein Vorzeigeprojekt der For-Free-Variante. Aber da gerade Künstler, die den Ruf von Thinner mitgeprägt haben, irgendwann Geld verdienen und sich einer Verwertungsgesellschaft wie der Gema anschließen wollten, sei dieser Schritt notwendig geworden, argumentiert Sebastian Redenz, einer der Thinner-Gründer.
Kraftfuttermischwerk haben diesen Schritt nicht mitgemacht, sie bieten ihre Musik inzwischen zum kostenlosen Download auf der eigenen Website an. Thinner, sagt Kraak, sei für Kraftfuttermischwerk eine Art Heimat gewesen. Es sei für ihn um etwas Grundsätzliches gegangen. Veröffentlichungen im Rahmen von CC waren für ihn und seinen Bandkollegen Nico Wawersig ein Weg, sich dem üblichen Prozedere zu entziehen, das notwendig gewesen wäre, um an einen Plattenvertrag zu kommen. »Auf Thinner zu veröffentlichen und sich dem kommerziellen Musikvertrieb zu verweigern, war natürlich auch etwas Politisches. Ein wenig Mittelfinger-Attitüde war natürlich auch dabei.« Unabhängig bleiben und die künstlerische Kreativität ausleben, das ist für die beiden Potsdamer das Wichtigste. »Wir hatten bei den Netlabels immer freie Hand, was wir wie rausgeben wollten.« So können sie heute mehrere Genres gleichzeitig bedienen. Von Drum’n’ Bass bis Ambient – Hauptsache elektronisch.
»Die ganze Branche ist obsolet geworden und kämpft mit den aggressivsten Mitteln ums Überleben«, sagt der Berliner Rapper Jenz Steiner. Der selbsternannte »King vom Prenzlauer Berg« mit dem DIY-Image bezeichnet sich auch als »Medienaktivist«. Seine Überzeugung ist es, dass ein unabhängiger Künstler heute auf die Medienindustrie verzichten könne. »Die können nichts, was ich nicht auch selbst kann.« In einem Video läuft der Musiker mit dem Lächeln eines Wim Thoelke über die Schönhauser Allee und besingt ein hübsches Mädchen in bester Siebziger-Jahre-Hitparaden-Manier. Passend dazu trägt er einen Anzug aus blauem Cord. »Mein Liedchen ›Schönhauser Allee‹ wurde bis zum heutigen Tag 53 551 Mal heruntergeladen«, sagt Steiner über das Stück, das seit November 2007 auf Youtube zu sehen ist. Das Internet biete ihm als Verbreitungsweg einfach unglaubliche Möglichkeiten. Schon in den neunziger Jahren hat er in Eigenregie Tapes aufgenommen und vertrieben. Die Bekanntheit wächst und ist für die Künstler messbar, und diese Popularität wirkt sich auch auf die Liveauftritte aus. Aber Geld verdient damit keiner. Kraftfuttermisch­werk haben mal 75 Euro verdient, als auf der Homepage von Thinner noch ein »Pay what you want«-Link angeboten wurde. Doch zu stören scheint das niemanden. »Wer Geld verdienen will, soll arbeiten gehen«, sagt Steiner zum Thema Lebensunterhalt und Musikmachen. Genauso sieht es Kraak. Dass man der Musikindustrie durch staatliche Subventionen aus der Krise helfen könnte, halten die beiden für absurd.
Antina Michels, eine der Organisatorinnen des zweiten Netaudio-Festivals, das vom 8. bis 11. Oktober in dem Berliner Club Maria stattfindet, hat ihre Magisterarbeit in Ethnologie zum Thema Netlabels verfasst. Sie sieht die Krise der Labels als Chance und beurteilt eine staatliche Förderung eher skeptisch. »Im Zuge der Krise der Musikindustrie konnten die aufstrebenden Netlabels, aber auch Tonträger produzierende Indie-Labels stärker ökonomische Nischen besetzen«, sagt sie und glaubt, dass es noch weiter in diese Richtung geht: »Da sich die Majors jetzt wieder mehr und mehr auf ihre Kernkompetenz, die Produktion von Mainstream-Stars, konzentrierten, ist eine sprunghaft steigende Zahl von Independent-Labels zu beobachten«. Auf dem Net­audio-Festival werden neben Steiner und dem Kraftfuttermischwerk noch weitere 70 Künstler auftreten, die wahrscheinlich alles andere als eine verzweifelte und depressive Stimmung verbreiten werden. Denn anders als der Vorsitzende des Bundesverbandes der Musik­industrie, Dieter Gorny, hoffen die Musiker hier noch auf eine glorreiche Zukunft. Dass das Festival vom Berliner Hauptstadtkulturfonds unterstützt wird, wird jetzt mal außer Acht gelassen.

Vom 8. bis 11. Oktober findet in Berlin das Netaudio-­Festival statt.