Die Linke und der Mauerfall – über den neuen deutschen Nationalismus

Freibier und Freiheit sind nicht dasselbe

Bei der Kritik an der deutschen Nation und beim Protest gegen die Wendefeierlichkeiten kann es nicht nur um Rassismus und Antisemitismus gehen. Auch die Herrschaft einer falschen Freiheit sollte kritisiert werden.

Mit den staatsoffiziellen Feierlichkeiten zu 20 Jahren politische »Wende« und »Mauerfall« geht der deutsche Jubiläumsnationalismus 2009 in die zweite Runde. Nach der Sause zum 60. Geburtstag der BRD erreicht im Herbst die geschichtsträchtige Inszenierung nationaler Selbstvergewisserung ihren Höhepunkt. Auf den Fanmeilen von Leipzig bis Berlin kann, darf und soll jeder mitmachen. Die Staatsbürger kuscheln sich ans »Wir« und hören, dass sie schon viel geleistet haben. Und noch viel mehr leisten müssen, um es auch in Zukunft besser zu haben als der Rest, jedenfalls im Durchschnitt.
Das Scheitern des Realsozialismus und die »friedliche Revolution« 1989 dienen dabei als historische Sinnstiftungen für die aktuellen Zwangslagen bürgerlicher Herrschaft. Nicht des Jubiläums wegen sind also auf die Wendefeierlichkeiten die Waffen der Kritik zu richten. Die staatsbürgerliche Erbauung zum kapitalistischen Hauen und Stechen nimmt im November die Form der Selbstbestätigung der Deutschen »als freiheitsliebendes« Volk an.

Mehr als eine Bierlaune
Wer angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise meint, zum nationalen Jubiläum werde allzu Abseitiges verhandelt, übersieht dabei den systematischen Zusammenhang zwischen Staat, kapitalistischer Konkurrenz auf dem Weltmarkt und dem Nationalismus als Ideologie kollektiver Identität. Die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft verdammt ihre Individuen zur Konkurrenz gegeneinander und macht sie gleichzeitig zu Komplizen im weltweiten Kampf der Standorte. Denn von der Konkurrenzfähigkeit der nationalen Verwertungszone hängen Bildungschancen, Arbeitsplätze, ökonomisches Wachstum, öffentliche Dienste und Transferleistungen ab. Die objektive Abhängigkeit des Individuums vom Schicksal »seines« Staates in der Weltmarktkonkurrenz vermittelt sich dem Alltagsbewusstsein als selbstverständliche und unhintergehbare Voraussetzung individueller Existenz. Dieser gesellschaftlich produzierte Schein einer »naturwüchsigen« Zusammengehörigkeit von Individuum und Staat stiftet eine gefühlte Gewissheit nationaler Identität.
In der linken Debatte zur Kritik der Wendefeierlichkeiten wäre es falsch, diese allgemein-systematische Bestimmung des Nationalismus gegen die jeweils aktuelle, das heißt historisch-spezifische, Gestalt auszuspielen. Denn für eine politische Intervention scheint es wenig zielführend, ausschließlich auf den Inhalt nationaler Begründungsmuster zu verweisen oder ausschließlich auf ihre soziale Form. Gerade bei den Wendefeierlichkeiten wird deutlich, wie flexibel und veränderbar die Inhalte des deutschen Nationalismus sind: Als später Sieger der Geschichte reiht sich Deutschland mit der »friedlichen Revolution« jetzt in die Riege bürgerlicher Staaten wie die USA und Frankreich ein, die längst über einen revolutionären Gründungsmythos verfügten. Wer den gegenwärtigen Kultur- und Gedenknationalismus analysiert, kann sehen, wie Deutschland die Geschichte des Nationalsozialismus zur Quelle eines gehobenen Selbstbildes gemacht hat. Die Rede von der »Erfahrung zweier Diktaturen« relativiert nicht nur in totalitarismustheoretischer Manier den NS – sie legt vor allem um beide die schwarz-rot-goldene Aufarbeitungsschärpe. Legitimation durch Aufarbeitung heißt die Devise.

Mit Anstand voran
Antifaschistinnen und Antifaschisten dürfte es insofern nicht verwundern, wenn am Rande der offiziellen Wendefeierlichkeiten durchaus auch den Opfern der rassistischen Übergriffe von Rostock-Lichtenhagen bis Hoyerswerda gedacht würde. Zwar belegen sozialwissenschaftliche Studien, dass bei rund 15 Prozent der deutschen Bevölkerung offen rassistische und antisemitische Ansichten vorherrschen. Gleichzeitig gilt es aber anzuerkennen, dass im politischen Mainstream bundesdeutscher Öffentlichkeit ein völkisch-rassistischer Nationalismus deutlich diskreditiert ist. Mit Polizei, Verfassungsschutz und öffentlichen Förderprogrammen zeigt der Staat, dass es ihm mit seinem Engagement gegen Nazis und Rassisten durchaus ernst ist. Deshalb greift eine Linke, der zur Kritik an der deutschen Nation nicht mehr als Rassismus und Antisemitismus einfällt, zu kurz. Mit der moralischen Verurteilung der selbsteingestandenen Unzulänglichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft ist sie den Regierungsparteien oft näher, als ihr recht sein kann. Wichtiger aber ist: Der neue – sich durchaus multikulturell und europäisch gebende – deutsche Mitmach-Nationalismus gerät so als moderne Gestalt der Identifikation mit der Nation völlig aus dem Fokus. Ohne einen kritischen Begriff von der reellen Verstaatlichung der Individuen im Kapitalismus ist dieser weder zu begreifen noch lässt er sich politisch bekämpfen.
Die heutige Reduktion der komplexen Entwicklungen von 1989 und der Vielstimmigkeit des Wendeprotestes auf die Schlagworte »Freiheit« und »Einheit« ist Ideologie und Wahrheit zugleich. Ideologie, weil aus dem Bankrott des Ostblocks in der Systemkonkurrenz mit dem kapitalistischen Westen ein »Wille zur Freiheit« der DDR-Bürger – das heißt aller Deutschen – gemacht wird. Wahrheit, weil mit Freiheit und Einheit die Individuen tatsächlich auf die Spielregeln der Kapitalverwertung in der globalen Standortkonkurrenz eingeschworen werden. Denn bürgerliche Freiheit ist gesellschaftlich wesentlich die Freiheit zur kapitalistischen Konkurrenz nach Recht und Gesetz, unter Anerkennung des staatlich garantierten Privateigentums. Als allgemeiner Vergesellschaftungsmodus stiftet diese Konkurrenz für jedes Individuum den unausweichlichen Zwang, das eigene Leben gegen andere und in Ausnutzung anderer zu gewinnen, auf private Rechnung und privates Risiko. Diese Herrschaft der falschen Freiheit ist mit dem Scheitern des Realsozialismus tatsächlich alternativlos geworden. Dies ist die eigentliche Lehre aus dem 9. November 1989.

It’s Showtime
Das ideologische Postulat Francis Fukuyamas, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Siegeszug der liberalen Demokratie und der kapitalistischen Marktwirtschaft sei das Ende der Geschichte eingetreten, erfährt im Jahr 2009 eine paradoxe Neuauflage. Angesichts der schwersten Weltwirtschaftskrise seit den zwanziger Jahren kann heute kaum behauptet werden, der Kapitalismus habe die Menschheit in einen Zustand allgemeiner Glückseligkeit geführt. Im Gegenteil, unter den »gesellschaftlichen Naturgesetzen« des kapitalistischen Verwertungszwangs darf die Geschichte nie stillstehen. Gleichzeitig beschränkt sich die aktuelle Diskussion über den Kapitalismus aber auf die Frage nach dem ausgewogenen Verhältnis zwischen »Markt« und »Staat«. Doch genau darin bestätigt sie die allgemeinen Prinzipien kapitalistischer Herrschaft und schreibt die feindliche Grundordnung dieser Gesellschaft fort. Entscheidend ist, was nicht auf der Tagesordnung steht: nämlich die Befreiung vom Automatismus einer irrationalen Vergesellschaftungsweise.
Das Scheitern des Realsozialismus hat nicht die Notwendigkeit widerlegt, den Kapitalismus als ein verselbständigtes, überflüssiges Zwangsverhältnis abzuschaffen. Auch lässt sich aus seinem Niedergang kein Argument ableiten, warum eine kommunistische Gesellschaft prinzipiell unmöglich sein sollte. Gleichwohl muss eine antikapitalistische Bewegung kritisch darüber diskutieren, warum alle bisherigen Versuche, sich über die kapitalistische Produktionsweise zu erheben, so grandios gescheitert sind. Denn gemessen am Marxschen Diktum vom »Verein freier Menschen« stellt sich die Geschichte des realen Sozialismus als Farce dar. Die Ostblockstaaten stützten zwar insgesamt kein System privatkapitalistischer Produktivitätskonkurrenz. Doch ebenso wenig verwirklichten ihre ökonomischen Planwerke die Freiheit selbstbewusster gesellschaftlicher Produzenten. Ihre Produktionssteuerung unterstand staatspolitischen Zwecken und Zwängen. Maßgeblich waren in letzter Instanz nicht Entwicklungsziele der technischen Naturbeherrschung und Güterversorgung, sondern die Imperative der bewaffneten Systemkonkurrenz. Es regierte nicht Produzentenautonomie, sondern Staatszwang. Im Rahmen einer Selbstkritik der linksradikalen Bewegung sollte über die Analyse des Realsozialismus engagiert gestritten werden. Nicht, um den Kommunismus ad acta zu legen, sondern gerade, um ihn wieder auf die Agenda zu setzen.