Das Internierungslager für Migranten auf Lesbos wurde geschlossen

»Schlimmer als Dantes Inferno«

Monatelang revoltierten im überfüllten Internierungslager Pagani auf der griechischen Insel Lesbos Migranten und Flüchtlinge. Nach einem erneuten Bootsunglück vor der Insel ließ die neue Regierung am Wochenende die Einrichtung schließen.

Die griechische Urlaubinsel Lesbos ist in diesem Jahr zu einem der zentralen Einreiseorte für Bootsflüchtlinge nach Europa geworden. Vergangene Woche starben acht afghanische Flüchtlinge, vier Frauen und vier Kinder, nach einem Boots­unglück vor Lesbos. Die Geschichte hat auch eine traurige Verbindung zu Deutschland, wo ein Afgha­ne, der seit fünf Jahren in Wiesbaden lebt, bei dem Bootsunglück seine Frau und seine 11jährige Tochter verloren hat. Er bemüht sich jetzt in Lesbos um eine Überführung der Leichen nach Deutschland.
Wären Mutter und Tochter lebend auf der Insel angekommen, hätten sie ihre ersten Tage oder vielleicht auch Wochen im Internierungslager für Flüchtlinge und Migranten in Pagani verbringen müssen, einer Einrichtung, die der stellvertretende Innenminister Griechenlands Spiros Vougias vergangene Woche nach einem Besuch als »schlim­mer als Dantes Inferno« beschrieb.
Monatelang war das Internierungslager überfüllt, fast täglich revoltierten die Insassen. Die Pro­testaktionen hatten bereits im Sommer angefangen, unterstützt wurden die Migrantinnen und Migranten auch von den Aktivisten des No-Border-Camps 2009, das Ende August auf Lesbos statt­fand (Jungle World 37/09). In den vergangenen Wochen hatte sich der Protest der Migranten radikalisiert: Sie verbrannten Matratzen und organisierten Aktionen innerhalb des Lagers.
Offenbar mit Erfolg. Denn am Samstag ließ das griechische Innenministerium das Lager schließen. Die letzten Insassen wurden freigelassen und bekamen Tickets für die Fähre nach Athen. Der Protest der Flüchtlinge hatte sich nicht nur gegen die Überfüllung und die katastrophalen Lebensbedingungen im Lager gerichtet, sondern auch ge­gen die willkürlichen Freilassungen aus Pagani. Bereits seit Wochen herrscht im Hafen von Mytilini Chaos. Dort drängen sich Hunderte von Flüchtlingen, die versuchen, auf die Fähre nach Athen zu steigen. Sie hoffen auf Sicherheit, Schutz und ein bes­seres Leben in einem anderen europäischen Land. Für ihre Unterbringung und ihren Schutz wird in Griechenland bis jetzt nichts getan. Die Hoffnung auf Anerkennung als Asylanten haben viele bereits jetzt aufgegeben. In Griechenland liegt die Annerkennungsquote bei knapp einem Prozent.

In den Räumen des Internierungslagers, das die Unterbringung von 300 Personen vorsah, wurden in den vergangenen Monaten bis zu 600 Menschen zusammengepfercht. Unter ihnen befanden sich Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und Somalia, die monatelang unter inhumanen Haftbedingungen ohne eine richterliche Anordnung festgehalten wurden.
Die sanitäre Situation waren katastrophal. Mehr als 150 Menschen teilten sich eine Toilette, manche schliefen auf dem Boden, auf dreckigen Matratzen und Decken. Viele wurden unter diesen Bedingungen krank. »Es ist egal, ob jemand Magenschmerzen, Fieber oder Kopfschmerzen hat. Die geben allen dasselbe Medikament«, sagt Zaher, ein 20jähriger Afghane, der einige Tage vor der Schließung aus Pagani entlassen wurde. »Es ist ein Ort, wo nicht mal Tiere leben könnten!« Vier Monate hat Zaher dort verbracht, obwohl er bereits im Juli einen Asylantrag gestellt hat. Er erzählt von Willkür und Misshandlungen, die in Pagani an der Tagesordnung gewesen seien. Neulich etwa ha­be ein Polizist einen Mitgefangenen niedergeschlagen. »Er schlug auf ihn ein, bis er am Boden lag«, erinnert sich Zaher. Das soll einige Stunden nach einem Besuch des griechischen Vize-Innenministers Vougias in Pagani geschehen sein.
Nun ist Pagani geschlossen, wichtig sei es aber, die griechische Inhaftierungspolitik zu beenden, meinen Menschenrechtler. »Es müssen offe­ne Auf­nahmeeinrichtungen für die Flüchtlinge gebaut werden«, fordert etwa Karl Kopp von Pro Asyl.
Die sozialistische Regierung von Georgios Papan­dreou, die Anfang Oktober mit einer Mehrheit von 44 Prozent gewählt wurde, hat Hoffnungen auf eine Verbesserung in der griechischen Asyl- und Migrationspolitik geweckt. Menschenrechtsorganisationen wie Pro Asyl und Human Rights Watch prangern das griechische Haftregime, den fehlenden Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren und die brutalen Polizeiaktionen gegen Flüchtlinge und Migranten an.

Mit 13 676 Kilometer hat Griechenland Europas längste Seeküste. Nach offiziellen Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ist Grie­chenland derzeit die erste Anlaufstelle für Flüchtlinge und Migranten in der Europäischen Union. Um 68 Prozent haben demnach die Ankünfte an Griechenlands Küsten in den ersten sechs Monaten des Jahres zugenommen. Von den insgesamt 51 600 Personen, die an den Außengrenzen der EU festgenommen wurden, kamen 35 600 in Griechenland an; in Italien waren es 7 100, in Spanien 4 800.
Menschenrechtsorganisationen klagen immer wieder über illegale Rückführungen über den Grenzfluss Evros in die Türkei. Mit Gewalt und un­ter Androhung von Waffeneinsatz werden Migranten auf türkischen Boden abgeschoben. Unter ihnen befinden sich Personen, die einen Asylantrag gestellt haben oder die durch die Dublin-II-Verordnung – die vorsieht, dass das erste Land, das ein Asylsuchender betreten hat, zuständig für seinen Asylantrag ist – von anderen EU-Ländern nach Griechenland zurückgeschickt wurden.
Mit seiner repressiven Asylpolitik steht Griechen­land nicht allein. Im Nachbarland Italien feiert Innenminister Roberto Maroni aus der rechtspopulistischen Lega Nord den Erfolg seiner fremdenfeindlichen Asylpolitik. Das zentrale Aufnahmelager auf der sizilianischen Insel Lampedusa wurde im Sommer geräumt. Nach der Verabschiedung des Sicherheitspakets werden Flüchtlinge, die die italienische Küste erreichen wollen, auf hoher See abgefangen und direkt nach Libyen zurücktransportiert, ohne dass sie die Möglichkeit erhalten, einen Asylantrag zu stellen.
Wie aussichtslos die Situation für Flüchtlinge in Griechenland ist, zeigt auch ein neuer Trend. Immer mehr Flüchtlinge, meist aus Afghanistan, fangen derzeit an, den Weg zurück in ihr Herkunftsland zu suchen, wie die Zahlen aus der afghanischen Botschaft in Belgien bestätigen. An diese haben sich seit September über 200 afghanische Flüchtlinge gewendet, die in Griechenland angekommen sind, um die nötigen Reisedoku­men­te für einen Rückflug nach Afghanistan zu bekommen. Denn in Athen gibt es weder eine afghanische Botschaft noch ein Konsulat. Auch Rachim bereitet seine Rückreise nach Afghanistan vor. Der junge Afghane sitzt im Garten des Heims für minderjährige Flüchtlinge in der kleinen Stadt Ajiassos auf Lesbos. Dort sind knapp 100 Jugendliche untergebracht, hauptsächlich Afghanen. Dreimal hat Rachim versucht, über Griechenland in ein anderes europäisches Land zu kommen. Jetzt will er zurück nach Afghanistan, um von dort aus in den Iran zu gelangen, wo seine Familie lebt. »Der Druck ist hoch. Meine Familie sagt, ich solle es weiter versuchen. Die Schlepper sagen, ich sei kein Mann, wenn ich aufgebe. Ich habe mich aber entschlossen. Ich habe keine Kraft. Ich habe keine Hoffnung mehr auf Europa.«