Eine Kampagne über die deutsche Kolonialzeit

Ein Stückchen Afrika für dich, eins für mich

125 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz will eine Kampagne die deutsche Kolonialzeit und ihre Folgen ins Bewusstsein rücken.

Erinnern, aufarbeiten und wiedergutmachen – mit diesen programmatischen Stichwörtern wirbt die Kampagne »125 Jahre nach der Berliner Afrika-Konferenz« für eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus.
Dem Berliner entwicklungspolitischen Ratschlag (BER) ist es zusammen mit dem Verein Berlin Postkolonial und dem Berliner Afrika-Rat gelungen, ein großes Bündnis und eine Vielzahl von Unterstützern für die Kampagne zu gewinnen: entwicklungspolitische Gruppen, Wissenschaftler, afrodeutsche Einzelpersonen und Vereine, Gewerkschafter, Verbände afrikanischer Initiativen und Politiker der SPD, der Linkspartei und der Grünen. Nur kirchliche Gruppen finden sich nicht unter dem Aufruf – obwohl sie angesichts ihrer Missionsgeschichte und dem heutigen entwicklungspolitischen und interkulturellen Engagement viel mit dem Thema zu tun haben.

»Wir wünschen uns, dass unsere Forderungen bei den Politikern ankommen. Selbst manche Bundestagsabgeordnete wissen nichts über die Afrika-Konferenz und deren Folgen«, sagt Sven Mekarides, der Generalsekretär des Berliner Afrika-Rates, dem Dachverband für afrikanische Vereine und Initiativen in Berlin und Brandenburg. Auch Medien, Schulen und andere Institutionen sollen für das Thema sensibilisiert werden. Gleich­zeitig gehe es darum, in die eigenen Reihen der entwicklungspolitischen Szene hineinzuwirken. »Die Entwicklungszusammenarbeit muss sich ihrer kolonialen Vergangenheit bewusst sein«, sagt Armin Massing vom BER. Und die eigene Arbeit müsse immer wieder auf neokoloniale Muster hin überprüft werden.
Das Bündnis lädt am 15. November zur Auftakt-Demonstration. Sie beginnt in der Wilhelmstraße, wo die Konferenz 1884/1885 im Reichskanzlerpalais stattfand. Es folgen Rundgänge durch die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums, Vorträge zur Dekolonisierung von Wissen und Wissenschaft, zum Rassismus in der Sprache und neuen Formen postkolonialer Erinnerung und vieles mehr. Zum Abschluss der Kampagne im Februar 2010 ist ein Tribunal geplant, in dem die Teilnehmer der Konferenz vor 125 Jahren, gemimt von Schauspielern, angeklagt werden. Die Urteile stehen bereits fest. »Sie werden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt«, sagt Mekarides.
Bereits lange vor 1884 gingen Deutsche in Westafrika auf Raubzug und handelten mit versklavten Menschen, mit Elfenbein, Gold und Waffen. Dennoch gilt die Berliner Afrika-Konferenz, die in jenem Jahr begann, als zentrales Ereignis für den deutschen Kolonialismus. Der Reichkanzler Otto Graf von Bismarck hatte damals die Regenten aus zwölf europäischen Ländern, dem Osmanischen Reich und den USA nach Berlin eingeladen, mit dem Ziel, dass sich die Großmächte über ihre kolonialen Interessen einig würden. Eine Teilnahme afrikanischer Politiker war nicht vorgesehen. Die zuvor – mitunter von Kaufleuten – annektierten Gebiete der Deutschen wurden nun von den anderen Kolonialmächten anerkannt. Nach der Konferenz konnte das Deutsche Reich offiziell die folgenden Regionen sein eigen nennen: Deutsch-Südwestafrika, das heutige Namibia, Deutsch-Ostafrika, das heutige Tansania, Burundi und Ruanda sowie die westafrikanischen Staaten Kamerun und Togo. Waren zuvor nur einzelne Gebiete besetzt gewesen, so wurde der Kontinent nun lückenlos aufgeteilt, mit Ausnahme von Äthiopien und Liberia.

Selbst in der aufgeklärten deutschen Öffentlichkeit fehlt nach wie vor das Bewusstsein dafür, dass Deutschland nicht nur eine postfaschistische, sondern auch eine postkoloniale Gesellschaft ist. Eine Gedenkkultur im Hinblick auf die Opfer der Verbrechen des deutschen Kolonialismus in Afrika, in China und im pazifischen Raum existiert nicht. Der Soziologe Reinhart Kößler spricht von einer »öffentlichen Amnesie«.
Dabei waren die Ereignisse damals keineswegs geheim gehalten worden. Mit welcher Unverblümtheit etwa der Vernichtungskrieg gegen die Herero 1904 bis 1908 der Öffentlichkeit hierzulande präsentiert wurde, ist bemerkenswert. Postkarten von Gefangenen in Ketten, von Lagern und Hinrichtungsszenen wurden hergestellt, auch Bilder von Herero-Frauen, die mit Glasscherben die Schädel ihrer toten Verwandten säubern mussten, damit diese in das Pathologische Institut Berlin geschickt werden konnten. Dass die Deutschen am Anfang des 20. Jahrhunderts die angekündigte Vernichtung von Bevölkerungsgruppen bewusst mitgetragen haben, war ein Skandal, der aber nie als solcher empfunden wurde.
Das Bündnis fordert »ideelle und materielle Entschädigung für die ehemaligen deutschen und europäischen Kolonien« und stellt dabei klar, dass es nicht darum gehen kann, Geld aus der Entwicklungszusammenarbeit zu Reparationen umzuwidmen. Zuletzt hatte es die schwarz-rote Bundesregierung mit dem Hinweis auf die vergleichsweise hohen Hilfeleistungen an Namibia abgelehnt, sich mit Klagen der Herero in den USA gegen Deutschland und deutsche Unternehmen wie die Deutsche Bank und die Reederei Deutsche Afrika-Linien zu befassen. Umso interessanter ist es, dass mittlerweile Mitglieder der SPD die Forderungen der Kampagne unterschrieben haben.
Wie sich das Bündnis eine angemessene Entschädigung vorstellt, bleibt allerdings offen. »Das ist nicht unsere Aufgabe«, erklärt Christian Kopp vom Verein Berlin Postkolonial. Statt Vorgaben zu machen, solle vielmehr eine Debatte dazu initiiert werden. Gefordert wird auch eine Bundesstiftung zum Gedenken und zur kritischen Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit. Auf diese Weise könne beispielsweise die Bildungsarbeit finanziert werden. Der deutsche Kolonialismus müsse eine größere Rolle in der Geschichtsschreibung spielen, sagt Kopp.
»Der Kolonialismus ist nicht vergangen, er prägt noch immer unsere Gegenwart«, heißt es in dem Aufruf. Was genau aber macht das postkoloniale Deutschland aus? Und welche Missstände in den afrikanischen Ländern haben ihre Wurzeln im Kolonialismus? So einige Fragen haben einen direkten Bezug zur Kolonialzeit, etwa, wenn es um Raubkunst oder die Überreste von Afrikanern geht, die in deutschen Museen lagern. Auch der alltägliche Rassismus, die Tatsache, dass im 21. Jahrhundert immer noch viele Menschen von der Existenz von »Rassen« ausgehen und dass nach der letzten Heitmeyer-Studie »Deutsche Zustände« zwölf Prozent der Deutschen sagen, dass Weiße zu Recht in der Welt führend seien, kann indirekt auf die Verharmlosung der Kolonialzeit zurückgeführt werden. Die ungerechte Landaufteilung, die großen Viehfarmen und die Plantagenökonomie in einigen Ländern Afrikas rühren ebenfalls von der Kolonialzeit her.
Komplizierter wird es, wenn gegenwärtige Kriege in afrikanischen Ländern, Wirtschaftsabkommen zum Vorteil der Europäischen Union oder die Verpachtung von gigantischen Ackerflächen an ausländische Konzerne aus Asien und Europa als direkte Folge oder neue Form des Kolonialismus interpretiert werden, wie es in der Broschüre zur Kampagne stellenweise der Fall ist. Manchmal – und da wäre Trennschärfe wichtig – schlägt eben auch nur der schnöde Kapitalismus zu.

»Es ist sehr schwierig«, sagt Mekarides vom Berliner Afrika-Rat über die Zusammenarbeit im Bündnis. Schließlich arbeiteten in vielen Gruppen »Deutsche, die nicht betroffen sind«. Einigen Interessierten sei der Ton der Forderungen zu rau gewesen, andere hätten die Verantwortung der afrikanischen Eliten für Missstände in den afrikanischen Ländern thematisieren wollen. Doch das habe in dem Aufruf nichts zu suchen, sagt Mekarides. »Es geht nicht darum, sich selbst zu diskreditieren. Außerdem: Wer gibt den afrikanischen Eliten das Geld? Die Europäer sind mitschuldig.«
Hier zeigen sich schon einige der Kontroversen, die eine Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus mit sich bringt. Noch ist offen, ob über sie auch diskutiert wird. Womöglich werden sie dem schwierigen Ziel der Kampagne untergeordnet – nämlich überhaupt mit dem Thema Gehör zu finden. Fragen der Geschichtsschreibung, der Sprechposition, der Zielgruppen von Veranstaltungen in der Einwanderungsgesellschaft und der Präsentation von Menschen, die Rassismus erfahren, sind zu klären. Begriffe sind ebenso umstritten wie die Einordnung historischer und aktueller Ereignisse. Zum Beispiel werden manchmal die Opfer des Holocaust und des Kolonialismus in Konkurrenz zueinander gesetzt, und es gelingt häufig nicht, das Spezifische des Antisemitismus im Vergleich zum Rassismus zu erfassen. Der Holocaust wird dann unzutreffenderweise als Fortsetzung der Kolonialverbrechen interpretiert.
Bereits vor 25 Jahren fanden Aktionen zur Afrika-Konferenz statt, ebenso 2004. Fast scheint es, als verpufften viele Bemührungen und als müsse man jedes Mal wieder von vorne beginnen. Immerhin tut sich einiges auf lokaler Ebene, wo seit einigen Jahren etwa vermehrt gefordert wird, Straßen umzubenennen und Mahnmale aufzustellen. »Es entwickelt sich, und ich finde, man kann optimistisch sein«, sagt Kopp.