Über die Forderung von Freiräumen bei Studierendenprotesten

Exzellente Exklusionen

Wenn Studenten im Rahmen ihres Protestes »Freiräume« fordern, hinken sie dem Zeitgeist hinterher: Die selbsternannte Elite ist ihnen immer schon ein wenig voraus.

Mit dem bundesweiten Bildungsprotest der Stu­den­ten und Schüler, der mit den Demonstrationen am Dienstag einen vorläufigen Höhepunkt er­lebte, ist die Forderung nach studentischen »Freiräumen« wieder populär geworden. Um Frei­räume zu fordern, werden Hörsäle besetzt, Seminare in Diskussionsforen umfunktioniert und autonome Veranstaltungen abgehalten. Natürlich ist dies zu einem guten Teil Symbolpolitik. Die meisten Beteiligten dürften sich darüber klar sein, dass die Schaffung eines »freien« Raums noch keine vernünftigen Debatten garantiert, wie auch umgekehrt im »unfreien« universitären Alltag durchaus sinnvoll geredet und gehandelt wer­den kann. Vielmehr verschafft sich in der Forderung nach Freiräumen das Unbehagen darüber Luft, dass es den Universitätsverwaltungen in den wenigen Jahren seit dem Beginn des Bologna-Prozesses und der Einführung von Bachelor und Master gelungen ist, nahezu alle Elemente selbstbestimmten Lernens, über deren Notwendigkeit zuvor bis weit in die Präsidien hin­ein Konsens zu bestehen schien, aus den Lehrplänen und dem Seminaralltag zu tilgen.

Mit welcher Selbstverständlichkeit seither pädagogische Praktiken wiedereingeführt wurden, die bis in die neunziger Jahre durchaus nicht nur unter »linken« Professoren als anachronistisch galten, ist tatsächlich erschreckend. Die monologische Vorlesung ist zumindest im Bachelor längst wieder die wichtigste Unterrichtsform, angehende Geisteswissenschaftler werden in ihren Einführungsveranstaltungen durch Multiple-Choice-Tests und Klausuren weit unter Abiturniveau beleidigt, Dozenten schämen sich nicht mehr, Hausaufgaben zu geben, und stumpfsinnige Pflichtveranstaltungen, etwa zur Schulung »kommunikativer Kom­petenz«, zwingen die Studenten in einen rigiden Zeitplan, der es ihnen nahezu unmöglich macht, zu tun, wofür sie eigentlich an der Uni sind: freiwillig Texte zu lesen, sich eigene Arbeitsgebiete zu erschließen, herauszufinden, bei welchem Dozenten sie sich gut aufgehoben fühlen, und zu­mindest eine Ahnung von der Möglichkeit zu bekommen, Arbeit und geistiges Interesse zu vereinbaren.
Leider scheinen die Protagonisten des Bildungs­streiks aber selbst nur vage Vorstellungen davon zu haben, wie denn jene »Freiheit« zu nutzen wäre, für die man – ironischerweise meist geduldet oder sogar unterstützt von den jeweiligen Präsidien – »Raum« schaffen will. Im Eingangsbereich der Freien Universität Berlin stehen seit einigen Wochen einige Zelte, daneben wurde provisorisch eine Ecke mit Couchgarnituren und Stühlen abgegrenzt, die mit dem Schild »Studentischer Freiraum – Feel free to join« beworben wird. Hierhin werden unter anderem »Momo«-Lesungen übertragen, was wohl witzig sein soll, außerdem gibt es an der Wand einen »Frustfleck«, an den man Zettel mit Kritik und Verbesserungswünschen pin­nen kann. Der Infantilismus der ganzen Veranstaltung springt deutlich ins Auge. Die »Freiräume« wurden denn auch sofort okkupiert von den üblichen Verdächtigen: Postkoloniale Antirassisten werben für »Kultursensibilität« und warnen vor dem »westlichen Blick«, Antisexisten zwingen allen Beteiligten auf, was sie für »geschlechtersensible Sprache« halten, trotzkistische Splittergruppen hetzen gegen das »Finanzkapital«, und »linke Zusammenhänge« verschiedener Art versuchen abzugreifen, was immer das Krisenbewusstsein ihnen an Agitationsmöglichkeiten bietet.
Dabei gäbe es für Menschen, denen die Universität mehr bedeutet als einen bloßen Frustanlass, ein paar Schritte weiter im selben Gebäude ge­nug zu tun. Die Zerschlagung der Einheit von Forschung und Lehre, in deren Folge eine ganze Ge­neration fähiger Dozenten zu Fließbandpädagogen erniedrigt worden ist, hat sich hier nämlich schon längst auch raumplanerisch manifestiert: Die Mitarbeiter der Cluster und Sonderforschungs­bereiche residieren, von Lehraufgaben weitestgehend entlastet, in abgeschlossenen Gebäudetrakten, für deren Betreten man teilweise sogar einen Nummerncode benötigt. Mit der universitären Öf­fentlichkeit kommunizieren die Exellenzcluster fast ausschließlich über regelmäßig stattfindende Symposien, in denen die Arbeitsergebnisse zu einzelnen Themenfeldern präsentiert werden.

Die einzelnen Fachbibliotheken schaffen eine immer größere Zahl von Büchern gezielt für einzelne Cluster und Sonderforschungsbereiche an. Diese stehen dann zwar im Katalog, sind aber nicht allgemein zugänglich und können selbst von studentischen Hilfskräften manchmal nur mit Mühe beschafft werden. Obzwar vom Universitäts­etat bezahlt, werden sie faktisch als Eigentum des jeweiligen Sonderforschungsbereichs behandelt.
Die Zahl studentischer Cafés, die für das geistige Leben einer Universität unersetzlich sind und früher auch von Professoren regelmäßig frequentiert wurden, ist seit der Zentralisierung der FU in nur wenigen Gebäuden mit dem Argument ver­stärkten Raumbedarfs reduziert worden. Es gibt so gut wie keine Gastvorträge innerhalb regulärer Seminare mehr, die Kommentare im Vorlesungsverzeichnis sind auf der Bachelor-Ebene vollständig standardisiert, und die Studenten kommunizieren mit ihren Dozenten immer seltener in Sprech­stunden, sondern via Computer, wo sie sich für Seminare anmelden, ihr Lektürepensum erfahren und ihre Noten einsehen können. Eine ver­antwortliche individuelle Betreuung ist unter solchen Bedingungen kaum noch möglich.
Vor allem aber kann von einer universitären Öf­fentlichkeit kaum mehr die Rede sein. Zu einer solchen gehören ein intensiver wissenschaftlicher Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden, ein Spektrum geistiger »Schulen«, das den Studenten die Erfahrung der notwendigen Widersprüchlichkeit ihres Gegenstandes ermöglicht, vor allem aber eine Atmosphäre, die den Aufenthalt an der Universität auch über die unbedingt notwenigen Besuche hinaus geistig und menschlich erfreulich macht. Wo man indessen schon am Eingang durch prospektive Angehörige des studentischen Prekariats behelligt wird, die einem mit routiniert erstarrtem Lächeln Werbegeschenke andrehen wollen und Erwachsene wie Minderjährige anreden (»Hast du Lust auf was Süßes für die klei­ne Pause?«), wo der öffentliche Raum für Messen und universitätsferne Werbeveranstaltungen vermietet wird und wo man nicht einmal genug Zeit hat, zeitvergessen durch die Bücherreihen zu wan­dern, um etwas zu finden, was man nicht gesucht hat – da will jeder, der bei Vernunft ist, so schnell wie möglich raus.
Wie man nach dem Prinzip der Landnahme »Freiräume« schafft, haben die universitären Rackets den Studenten also längst vorgemacht, meint »Freiraumpolitik« doch nichts anderes als die Entmachtung des öffentlichen Raumes qua unmittelbarer »Aneignung«. Wohl auch deshalb reagieren die Präsidien so verständnisvoll auf studentische Unmutsbekundungen: Für Leute, die sich so konstruktiv zeigen, wird sich früher oder später tatsächlich manch freier Raum finden, und wenn es ganz toll kommt, werden die Bildungsprotestler im kommenden Semester für ihre »Lust auf Mitgestaltung« belobigt, während der in lauter exklusive Freiräume parzellierte universitäre Raum geistig und gesellschaftlich verödet. Universitärer Protest, der Bildung nicht nur als Ticket für den eigenen Lebenslauf begreift, sollte auf solchen Widersprüchen beharren, statt sich damit zu bescheiden, den Boss um ein Spielzimmer für den kreativen Nachwuchs zu bitten.