Die Lager der »Aktion Reinhardt« in Polen

Die vergessenen Lager des Holocaust

Belzec, Majdanek, Sobibor. In den Lagern, die im Raum Lublin errichtet wurden, perfektionierten die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs im Rahmen der »Aktion Reinhardt« die industrielle Massenvernich­tung. Unterstützt wurden sie dabei von »hilfswilligen« Kriegsgefangenen. Unter ihnen war auch Iwan Demjanjuk.

Lublin im Oktober. Mit einer Gruppe des Bildungs­werks Stanislaw Hantz treffen wir im ehemaligen jüdischen Viertel der Altstadt Mitglieder der polnischen Organisation Studna pamieci und eine niederländische Gruppe von der Stichting Sobibor. Eine Woche lang wollen wir gemeinsam mit dem polnischen Historiker Robert Kuwalek nach den Spuren der Opfer und Täter der »Aktion Reinhardt« und der vergessenen Lager des Holocaust in Polen suchen.
Die Aktion Reinhardt war die größte, zentral ko­ordinierte deutsche Vernichtungsaktion im Zweiten Weltkrieg. In kaum mehr als einem Jahr, vom Frühjahr 1942 bis Herbst 1943, ermordeten die Deutschen und ihre ukrainischen und lettischen Helfershelfer zwei Millionen Juden und 50 000 Sinti und Roma. Im Rahmen der Aktion Reinhardt entwickelten und perfektionierten sie die industrielle Massenvernichtung. Ihr Planungs- und Befehlszentrum errichteten sie in Lublin. Mit der Durchführung der Aktion beauftragte Heinrich Himm­ler den Lubliner SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik.

Die Reise beginnt in Trawniki, 30 Kilometer südöstlich von Lublin. Kurz nach dem Überfall auf die Sowjetunion ließ Globocnik dort auf dem Gelände einer stillgelegten Zuckerfabrik im Sommer 1941 ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene er­richten. Wenig später wurde er von Himmler mit der Aufstellung von so genannten fremdvölkischen Einheiten beauftragt, um Hilfstruppen für die deutsche Vernichtungspolitik zu rekrutieren. Das Fabrikgelände in Trawniki wurde zum SS-Ausbildungslager. Unter den Kriegsgefangenen meldeten sich als »Freiwillige« vor allem Letten und Ukrainer, da diese am stärksten mit dem Antibolschewismus und eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen sympathisierten.
Die »Trawnikis« wurden einem paramilitärischen Drill unterzogen. Danach wurden sie unter anderem als Wachmannschaften in den Todeslagern Belzec, Sobibor und Treblinka eingesetzt. Sie sorgten mit brutaler Gewalt für eine Atmosphäre permanenter Angst, damit bei den hilflosen Opfern vom Verlassen der Deportationszüge bis zu der Ermordung in den Gaskammern keinerlei Widerstand aufkommen konnte. Mit Hilfe der Trawnikis konnten die Deutschen ihr eigenes Personal stark rationalisieren. Nur jeweils 30 bis 40 Deutsche kommandierten bei der Ermordung von 1,5 Millionen Menschen in Belzec, Sobibor und Treblinka die Trawnikis. Unter den Trawnikis war auch Iwan Demjanjuk, 1920 bei Kosjatyn in der Ukraine geboren und 1940 in die sowjetische Armee eingezogen. Als er 1942 in deutsche Gefangenschaft geriet, meldete er sich in Chelm als »Hilfs­williger«. Nach seiner Ausbildung in Trawniki wurde er zunächst im KZ Majdanek zur Bewachung jüdischer Zwangsarbeiter eingesetzt. Am 27. März 1943 wechselte er nach Sobibor. Dort beteiligte er sich bis zum September 1943 an den Mordaktionen. Nach der Auflösung des Lagers Sobibor übernahm er einen Posten im KZ Flossen­bürg. Bis 1952 lebte er unbehelligt in Deutschland und wanderte dann in die USA aus. Ende November steht er in München endlich vor Gericht.
Neben dem SS-Ausbildungslager richteten die Deutschen im Sommer 1942 in Trawniki ein jüdisches Zwangsarbeiterlager ein. Hier mussten jüdische Arbeitshäftlinge die Kleidung der in den Ver­nichtungslagern Ermordeten sortieren, reinigen und ausbessern. Von Trawniki wurden die Kleidungsstücke dann ins Deutsche Reich gesendet und an deutsche Familien verteilt. Nach den Aufständen in Sobibor und Treblinka ordnete Himm­ler auch für den Raum Lublin die Ermordung aller jüdischen Arbeitshäftlinge an. Bei der »Aktion Erntefest«, der größten Massenhinrichtung des Zwei­ten Weltkriegs, erschossen die Deutschen am 3. und 4. November 1943 43 000 jüdische Arbeitshäftlinge im Raum Lublin, darunter 6 000 in Trawniki. Die Fabrikhallen des SS-Ausbildungslagers und der jüdischen Zwangsarbeitsstätten sind in Trawniki bis heute erhalten. Doch der Zugang wird uns verwehrt. Heute produziert dort eine polnische Firma Uniformen für die deutsche Polizei.

In Belzec, einem kleinen Ort an der Bahnstrecke Lublin-Lviv-Lemberg, wurde die Massentötung durch Vergasung perfektioniert. Nach der offiziellen Beendigung des Euthanasie-Programms in Deutschland (Deckname »T4«) wurde ein Großteil des Personals, das Gaskammern für die Ermordung von Behinderten und psychisch Kranken ent­wickelt hatte, für die Aktion Reinhardt eingesetzt, um Todesfabriken zu konzipieren. Während die Gaskammern der Euthanasie-Anstalten eine Kapazität von 20 Personen hatten, bauten die T4-Mitarbeiter Anfang 1942 in Belzec drei Gaskammern, in denen die Ermordung von 1 400 Menschen gleichzeitig möglich war. Ab dem 17. März 1942 rollten die Züge nach Belzec. Doch die Kapazität der Gaskammern reichte für die an­kom­men­den Züge nicht aus, und ein anderer Zweck als die sofortige Tötung war für das Lager nicht vorgesehen. Mitte April wurde es vorübergehend geschlossen. Als der Lagerbetrieb Mitte Mai 1942 wieder aufgenommen wurde, konnten innerhalb einer knappen halben Stunde 4 000 Menschen vergast werden.
Für die gesamte Abwicklung eines Transportes – die Entladung aus den Zügen, das Entkleiden, das Scheren der Haare der Frauen, die Tötung, das anschließende Herausbrechen der Goldzähne bei den Opfern und das Verscharren der Leichen in den zuvor ausgehobenen Massengräbern – brauch­ten die Deutschen kaum mehr als zwei Stun­den. Als Belzec Ende 1942 seine Leichenproduktion einstellte, hatten die T4-Bediensteten und ihre in Trawniki ausgebildeten Helfer 500 000 Jüdinnen und Juden getötet. Dennoch ist der Name Belzec fast gänzlich aus dem deutschen Gedächtnis gelöscht. Erst 2004 entstand eine eindrucksvolle Gedenkstätte mit einem informativen, modernen Museum. Als Geldgeber sind Sponsoren aus Israel, den USA und Polen aufgelistet. Deut­sche Unterstützung? Fehlanzeige.
Treblinka war das einzige Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, das sich nicht im Distrikt Lublin befand. Trotz der entlegenen Lage war das KZ in der Umgebung kein Geheimnis. In Treblinka steigerten die Deutschen ihre bereits in Belzec kontinuierlich erhöhte Tötungskapazität noch weiter. Die T4-Mitarbeiter errichteten hier 13 Gaskammern, in denen sie von Juli 1942 bis November 1943 täglich bis 25 000 Menschen ermordeten. Am Ende waren es mehr als 800 000 Opfer, die höchste Todesziffer aller Lager der Aktion Reinhardt. Bei einem Aufstand am 2. August 1943 gelang rund 250 Häftlingen die Flucht. Zumindest kurzfristig.
Doch nur 60 jüdische Arbeitssklaven aus Treblinka überlebten den Krieg. Nach dem Aufstand schlossen die Deutschen das Lager, beseitigten alle Spuren ihrer Vernichtungsmaschinerie und errichteten auf den Massengräbern einen Bauernhof. Erst 1964 wurde an der Stelle der früheren Gaskammern ein großer Granitquader als Mahnmal eingeweiht, umgeben von 17 000 Granitsteinen, vereinzelt finden sich darauf die Namen polnischer Städte und Dörfer. Bis auf den Leiter des Waisenhauses im Warschauer Ghetto, Janusz Korczak, fehlt die Benennung von Namen der Opfer. Auch im kleinen, baufälligen Museum am Rande des Lagergeländes fehlen Namenslisten und persönliche Berichte. Von deutschem Geld für einen Erhalt der Gedenkstätte fehlt auch hier jede Spur.

Bereits die Lage des KZ in Majdanek widerlegt die Lüge »Niemand hat es wissen können«. Nur zwei Kilometer von Lublin, an einer großen Ausfallstra­ße, weitet sich der Blick am Lagertor und fällt auf die Skyline der Stadt. Hier und in einer noch näher am Stadtzentrum gelegenen Dependance exerzierten die Deutschen die »Vernichtung durch Arbeit«. Hier mussten Zehntausende jüdische und polnische Sklavenarbeiter buchstäblich bis zur Vergasung für die Wehrmacht und die Lieben zuhause schuften, etwa indem sie die Haare der kurz vor ihrer Ermordung in den Lagern der Aktion Reinhardt geschorenen Frauen zu Filz verarbeiteten, der dann in einer Firma in der Oberlausitz zu Socken für U-Boot-Besatzungen wurde. Und hier erfanden die Deutschen aus Spaß das Prinzip der Tötung durch sinnlose Arbeit, zum Beispiel indem sie jüdische Häftlinge bis zur totalen Erschöpfung Sandberge von einer Lagerseite zur an­deren und zurück schleppen ließen. Von den Opfern blieb in Majdanek oft nicht einmal die Asche in den Massengräbern zurück. Die deutschen Auf­seher verstreuten sie als Dünger in ihrer Lagerlandwirtschaft, um Riesenkohlköpfe zu erzeugen.
Im Gegensatz zu Belzec, Treblinka und Sobibor begegnen einem hier viele polnische Schulklassen. Unsere Freundinnen von der Studna pamieci klären uns auf: Nicht wegen der Erinnerung an die jüdischen, sondern der Erinnerung an die pol­nischen Opfer steht Majdanek auf dem staatlichen Lehrplan.

Sobibor war für viele Juden aus den Niederlanden, dem Deutschen Reich, der Tschechoslowakei und Polen die Endstation. Im dritten Vernichtungslager der Aktion Reinhardt, 80 Kilometer östlich von Lublin, ermordeten die Deutschen und ihre ukrainischen Helfer, unter ihnen Iwan Demjanjuk, 250 000 Menschen. Im Dienst für die Mörder waren auch Hunderte von Gänsen, die mit ihrem Geschnatter die Schreie aus den Gaskammern übertönen sollten. Zum Vergnügen hielten sich die Täter ein Bordell mit jüdischen Frauen, eine Schweinefarm mit besseren hygienischen Verhält­nissen als in den Baracken der jüdischen Arbeitshäftlinge und eine Kegelbahn, auf der jüdische Putzfrauen Totenschädel fanden. Erst ein Aufstand am 14. Oktober 1943 unterbrach das Morden. Unter dem Vorwand, neugeschneiderte Mäntel anzuprobieren, gelang es der Gruppe der Aufständischen, 16 SS-Männer einzeln in die Werkstätten zu locken und sie dort mit Äxten zu töten. Als die Häftlinge daraufhin versuchten, den Stacheldraht zu durchschneiden, wurden sie von den Trawnikis und den restlichen Deutschen beschossen. Den­noch konnten mehr als 300 der zu diesem Zeitpunkt 600 Lagerinsassen fliehen. Nur 40 von ihnen überlebten das Kriegsende. Heute steht nur noch das grüne Holzgebäude der Lagerkommandantur. Es ist aber keineswegs Teil der Gedenkstätte, sondern wird von Polen bewohnt.
Eine kleine Gedenkstätte entstand 1965, mit einem Mahnmal an der Stelle der Gaskammern, aber ohne Benennung jüdischer Opfer. Auf einer Tafel am Eingang war zu lesen: »In diesem Lager wurden 250 000 russische Kriegsgefangene, Juden, Polen, Zigeuner ermordet.« Jahrelang versuch­te der Sobibor-Überlebende Thomas Blatt vergeblich, eine neue Tafel anbringen zu lassen, die explizit auf die jüdischen Opfer verweist. Schließlich tausch­te er Anfang der achtziger Jahre in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Tafeln aus. Bis 1993 war auf dem Lagergelände ein Kindergarten mit Spielplatz in Betrieb. Erst danach wurde das Haus des Kindergartens in ein kleines Museum umgewandelt. 2003 wurde eine Gedenk­allee auf dem ehemaligen Weg zu den Gaskammern angelegt. Hier werden heute vier neue Steine mit den Namen von Ermordeten eingeweiht. Bisher gibt es nur etwa 100 solcher Steine, die den Opfern an dem Ort ihrer Ermordung ihre Namen wiedergeben. Weitere Spenden sind erforderlich. Geld aus Deutsch­land ist nicht zu erwarten.