Wertformanalyse und Vergemeinschaftung

Geld spielt keine Rolle

Wertformanalyse und globale Vergemeinschaftung.

In seinem Vortrag über value, price and pro­fit von 1865 benutzte Karl Marx zum ersten Mal durchgehend den Begriff »la­bou­ring power«. In den vorangegange­nen Manuskripten dominierte noch die Bezeichnung »Arbeitsvermögen« oder »Ar­beitsfähigkeit«. Es handelt sich um eines der Schlüsselprobleme der Kritik der politischen Öko­nomie, das Marx bereits in den Grundrissen aus den 1850er Jahren eigentlich gelöst hatte, als er schrieb, dass der »Arbeiter für den Wert seiner Arbeitsfähigkeit als eine vorhandene Grö­ße ihre schöpferische Kraft hingiebt« (MEGA II/1.1: 226). Anstelle von Arbeitsfähigkeit stand an der zitier­ten Stelle nämlich ursprünglich der Terminus »Arbeit«, der zunächst durch »Arbeitsvermögen« und dann durch »Arbeitsfähigkeit« ersetzt wurde (vgl. den Kommentar dazu in MEGA II/4.1: 31). Bei der Niederschrift des Vortrags aber ging nun Marx endgültig zu dem Terminus »Arbeitskraft« über, der seither in seiner Analyse des Kapitalverhältnisses bestimmend ist.
Wenn Marx so lange nach dem richtigen Wort suchte und sich auch immer wieder korrigierte, hat das seinen guten Grund. Er wusste bereits, dass die Kritik der politischen Ökonomie nur durchführbar ist, wenn unmissverständlich deut­lich wird, dass der Arbeiter eben nicht, wie er ursprünglich dachte, seine Arbeit verkauft, sondern die Kraft, mit welcher er arbeitet. Nur wenn die Arbeitskraft zur Ware wird und nicht die Arbeit selber, kann der Mehrwert, den sie produziert, im Vertrag, den Arbeiter und Unternehmer abschließen, unsichtbar sein; nur dann kann überhaupt erklärt werden, warum das Kapital akkumuliert, obwohl doch immer nur, laut Vertrag, Gleiches gegen Gleiches getauscht wird; wie also Ausbeutung unter dem Gesetz des Tausches überhaupt möglich ist. Die Bezeich­nungen »Arbeitsfähigkeit« und »Arbeitsvermögen« haben gegenüber jener der »Arbeitskraft« den Nachteil, dass sie ungenauer sind und, werden sie nicht näher bestimmt, den Arbeitsvertrag womöglich auch wie einen Kreditvertrag aussehen lassen: Option auf die später zu leistende Arbeit. Aber es ist dieser bereits bei Vertragsunterzeichnung existierende Gegenstand des Vertrages, der in der Produktion konsumiert wird, und nicht das, was er – als Vermögen oder Fähigkeit – erst zu leisten hat. Denn Kraft oder Power bezeichnet die Einheit der Fähigkeit zusammen mit ihrer leiblichen Voraussetzung, die eigentlich unauflösbare Identität des Vermö­gens mit seinem Besitzer, die der Arbeitsvertrag aber als auflösbar erweist; Kraft oder Power hält fest, dass es der Physis eines einzelnen Individuums bedarf, damit von Fähigkeit und Vermögen überhaupt gesprochen werden kann. So fügt Marx noch im »Kapital«, wenn er von Ar­beits­vermögen spricht, die Bezeichnung Arbeitskraft erläuternd hinzu, um gerade dieses leibliche Moment zu betonen – »Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existiren und die er in Bewegung setzt, so Gebrauchwerthe irgend einer Art producirt« (MEGA II/5: 120).
Zugleich wird damit aber auch hervorgehoben, dass es bereits der Vertrag ist, der die Arbeitskraft als etwas vom Individuum Abspaltbares be­handelt, wenn also jene Fähigkeiten noch gar nicht in Bewegung gesetzt sind, während Vermö­gen oder Fähigkeit eher noch nahelegen könnten, dass die Produktion erst diese Abspaltung vornimmt, als ob darin der Arbeiter erst seine Arbeitskraft als ein von ihm Getrenntes er fährt. Mit anderen Worten: Es wird deutlich, dass es sich um ein juristisches Verhältnis handelt, das hergestellt wird und das nur herzustellen ist, wenn es eine dritte Instanz gibt, jenseits der Ver­tragspartner, durch welche die Einhaltung des Vertrages garantiert werden kann.
Dieses Verhältnis erlaubt es überhaupt erst, wie Marx es tut, zwischen dem »Menschen« und dem »Inbegriff seiner physischen und geistigen Fähigkeiten« zu unterscheiden, sodass jener mit dem Bewusstsein und dem Willen ausgestattet werden kann, diese in Bewegung zu setzen, im Unterschied zum Sklaven, dem solche Reflexionsfähigkeit nicht zuerkannt wird, denn er ist nicht vertragsfähig. Es ist somit die Voraussetzung dafür, dass alle Individuen der Gesellschaft zu politischen Subjekten werden. Das Vermögen oder die Fähigkeit, seine Arbeitskraft zu verkaufen, und der Zwang, es tun zu müssen, um zu überleben, machen zusammen das Vermögen einer Gesellschaft aus, body politic im Sinne von Hobbes zu werden.
Erst durch diese Konzentration auf die Arbeits­kraft ist es Marx selber möglich, vom Individuum auszugehen und die irreführende Metapher von Basis und Überbau, die Gesellschaft unabhängig vom Zusammenhang zwischen Einzelnem und Ganzem zu denken gestattet (und die er sogar im Vorwort zur »Kritik zur politischen Ökonomie« von 1859 noch einmal bemüht hatte; MEW 13: 9), hinter sich zu lassen. Im Kapital löst sich die falsche räumliche Vorstellung des gesellschaftlichen Seins in eben jene Zeitverhält­nisse auf, worin die Ausbeutung unter den Bedingungen des Arbeitsvertrages realisiert werden kann. Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit heißt die Abstraktion, die im Tausch der Waren vollzogen wird, wenn die Arbeitskraft zum Gegenstand des Vertrages geworden ist. Damit ver­kehren sich die Verhältnisse und alles gerät durcheinander – und bleibt doch in einem Punkt beim Alten: Der Überbau erscheint plötzlich als Voraussetzung der Basis, da doch erst die durch den Souverän gedeckten Rechtsverhältnisse, die Marx eigentlich zum Überbau gezählt hat, den Vertrag ermöglichen; aber eben diese Bedingungen haben selbst wiederum die Gewalt zur Voraussetzung, die solchermaßen nicht als die Basis, aber als Zusammenhang des Ganzen durch alle Vermittlungen hindurch sich zu erkennen gibt.
Was wunder, dass Marx den Begriff der Arbeits­kraft offenbar durch Hobbes schätzen lernte. Er zitiert in seinem Vortrag über value, price and profit aus dem Leviathan: »The value, or worth of a man, is, as in all other Things, his price: that is, so much as would be given for the Use of his Power.« (Vgl. HL: 51) Dabei hebt Marx price und Use of Power ausdrücklich hervor (MEGA II/4.1: 412) und erklärt auch, warum: »One of the oldest economists and most original philosophers of England, Thomas Hobbes, has already in his Leviathan instinctively hit upon this point, overlooked by all his successors.« (Ebd.) All die be­rühm­ten Ökonomen und Philosophen haben übersehen oder besser: verdrängt, was Hobbes noch wusste. Und er hatte den Gebrauch der Arbeitskraft zur Sprache gebracht, als dieser Gebrauch – im Zuge der von Marx so genannten »sogenannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals« – alles Gesellschaftliche umzuwälzen begann. Darum aber auch fällt bei Hobbes die Ar­beitskraft mit der politischen Macht, der Souverän mit dem Kapital unmittelbar in eins. Es liegt darin eine Wahrheit, die erst noch entfaltet werden musste. Das eben ist zur Aufgabe der Kritik der politischen Ökonomie geworden.
Power bedeutet ja bei Hobbes: unmittelbare Einheit von Arbeitskraft und politischer Macht. Der Staat, den er mittels Gesellschaftsvertrag kon­struiert, ist nichts anderes als eine politische Umdeutung des Arbeitsvertrages, Extrapolation des Kapitalverhältnisses: Die Individuen, die als Gleiche zu betrachten sind, schließen einen Vertrag miteinander ab, aus dem dann der Leviathan hervorgeht, das schlechthin Ungleiche, der Souverän, mit dem der Untertan keinen Vertrag abgeschlossen hat und keinen abschließen kann, weil es keine übergeordnete Instanz für ihn gibt, die diesen Vertrag decken könnte – so wie Arbeiter und Kapitalist, rechtlich als gleiche Markt­teilnehmer betrachtet, einen Vertrag miteinander abschließen, dem dann das Ungeheuer des sich selbst verwertenden Werts, das automa­tische Subjekt, entspringt, das schlechthin Ungleiche, das Kapital, mit dem weder der Kapitalist noch der Proletarier einen Vertrag über den Profit oder den Lohn abschließen kann. Denn nie­mand weiß, was es abwirft, wenn es den Wert im Konkurrenzkampf mit den anderen Kapitalien realisiert. Verlangt der Souverän von allen seinen Bürgern Unterwerfung, die bis zum Opfer des Lebens reichen kann, so zwingt das Kapital den Unternehmer und den Arbeiter, nicht nur seiner Verwertungslogik sich zu unterwerfen, sondern verlangt gegebenenfalls das Opfer des Profits oder Lohnes.
Genau hier ist bei Hobbes aber auch der Vertrag, der nicht mit dem Staat abgeschlossen wer­den kann, sondern aus dem der Staat besteht, begrenzt: Die legitime Zwangsgewalt gelte nur so lange »and no longer, the power lasteth by which he is able to protect them«; sie muss vor der Innerlichkeit des Individuums, seinem Bewusstsein, haltmachen, es kann nicht durch Befehlen, sondern nur durch Belehrung gebildet werden; und Bedingung ist, dass die Gesetze, nach denen die Gewalt einschreitet, für jeden kenntlich gemacht werden: »no law, made after a fact done can make it a Crime«. Mit einem Wort und in den Begriffen der Kritik der politischen Ökonomie: Der Staat darf die Arbeitskraft nicht einfach kommandieren und nicht vernichten – er darf dem Individuum nicht die Fähigkeit nehmen, seine Arbeitskraft zu verkaufen: er muss seinen Leib schützen und kann sein Bewusstsein nicht befehligen.
Marx musste die unmittelbare Einheit von Ar­beitskraft und politischer Macht auflösen und dezidiert von labouring power sprechen, um dann aber der politischen Macht in der Geldware wieder zu begegnen. Denn »nur die gesellschaft­liche That kann eine bestimmte Waare zum allgemeinen Aequivalent machen. Die gesellschaftliche Action aller andern Waaren schließt daher eine bestimmte Waare aus, worin sie allseitig ihre Wer­the darstellen. Dadurch wird die Naturalform dieser Waare gesellschaftlich gültige Aequivalentform. Allgemeines Aequivalent zu sein wird durch den gesellschaftlichen Prozeß zur specifisch gesellschaftlichen Funktion der aus­ge­schlos­senen Waare. So wird sie – Geld.« (MEGA II/5: 54; [Hervorheb. d. V.]) Eine Instanz ist erforderlich, jenseits der Waren, »jenseits des bürgerlichen Systems«, wo sich der »Naturinstinct« ihrer Besitzer, in dem freilich nur die Natur der Waren selber wirkt, verkörpern kann, um im Diesseits der Waren überhaupt etwas zu bewirken. Hier nun gerade greift Marx zur Bibel (1), als wäre er Hobbes, nämlich ganz unironisch: Die zehn künftigen Herrscher oder Könige »haben einen gemeinsamen Plan, und sie übergeben ihre Kraft und Macht dem Tier. Und kaufen oder verkaufen kann niemand, wenn er nicht das Zei­chen oder den Namen des Tieres hat oder die Zahl seines Namens.« (Ebd.: 54; 707)
Mythisierend ist diese Anleihe bei der Apokalypse des Johannes, weil Warenbesitzer oder die Waren selber als politische Herrscher fungieren. Doch die Wahrheit in der Gleichnisrede liegt nicht allein darin, dass es des Staates bedarf, da­mit das Tier Kraft und Macht hat; dass Zeichen und Namen und Zahl darin sich buchstäblich ver­selbständigen; sondern auch, dass es zehn künf­tige Herrscher sind und nicht nur einer, der seine Kraft und Macht dem Tier übergibt – aber sie können es, nicht weil sie einen gemeinsamen Plan haben, im Gegenteil: weil sie zueinander stehen wie Gladiatoren – »having their weapons pointing and their eyes fixed on one another« (HL: 77 f.).

Vom Kapital zu Leviathan
Obgleich alle Staaten gemeinhin einen gleichen Zweck haben, nämlich den, sich zu behaupten, so hat doch jeder Staat einen, der ihm eigentümlich ist.
Montesquieu (MGD 1: 214 f.)

Das Problem der Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx ist nicht, dass sie vom Staat ab­strahiert, um dessen Analyse späteren Teilen der großen Arbeit über das Kapital zu überlassen. Das Problem ist, dass sie durch diese Abstraktion den Eindruck erzeugt, als ließe sich über den Staat wie über das Kapital in der Einzahl schreiben.
Staat ist nicht gleich Staat, aber Kapital ist gleich Kapital. Der Staat ist zwar insofern überall gleich, als er die gleichen Funktionen erfüllt und vergleichbar ist in ihrer Realisierung, aber die Gleichheit selbst existiert nicht unabhängig von den Vergleichbaren, sondern nur zusammen mit deren Unterschieden. Das Kapital hingegen ist immer dasselbe, nur existiert es im Geld unabhängig von den einzelnen Kapitalien, es realisiert stets Wert, und Wert ist Wert, Inbegriff von Identität: das einzige »Ding«, das mit vollem Recht dem Nichtidentischen spottet. Diese Doppelexistenz des Kapitals in seiner Identität gegenüber der einfachen, aber pluralen Existenz des Staates festzuhalten, ist also der Wertbegriff geradezu geschaffen.
Das Kapital stiftet demnach überall und allzeit ein identisches Verhältnis, und die Beziehungen verschiedener konkreter Kapitalien zueinander können immer nur als ein Beispiel für dieses Verhältnis genommen werden: »das scheinbar unabhängige Wirken der Einzelnen und ihr regelloses Zusammenstoßen ist grade das Setzen ihres allgemeinen Gesetzes« (MEW 42: 559). Dieses erscheint »im Unterschied zu den beson­dren Kapitalien nur als eine Abstraktion«, »nicht eine willkürliche Abstraktion, sondern eine Abstraktion, die die differentia specifica des Kapitals im Unterschied zu allen andren Formen des Reichtums auffasst – oder Weisen, worin die Produktion (gesellschaftliche) sich entwickelt. Es sind dies Bestimmungen, die jedem Kapital als solchem gemein, oder jede bestimmte Summe von Werten zum Kapital machen.« Aber zugleich ist »das Kapital im Allgemeinen im Unter­schied von den besondren reellen Kapitalien selbst eine reelle Existenz«. Es muss sich stets »doppelt setzen«, »sich auf sich selbst als fremdes beziehn«. Während das Allgemeine des Kapitals »daher einerseits nur gedachte differentia specifica, ist sie zugleich eine besondre reelle Form neben der Form des Besondern und Einzelnen.« (Ebd.: 362 f.) Es ist eben, und da taucht das Tier aus der Apokalypse wieder auf, »als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, … auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs« (MEGA II/5: 37).
Der Staat jedoch, ohne den der Wert nicht zu Geld werden kann, führt an sich keine solche Doppelexistenz: seine Allgemeinheit ist als nur gedachte differentia specifica festzuhalten: anerkanntes Gewaltmonopol auf einem bestimmten Territorium. Diese Allgemeinheit stellt keine besondere reelle Form neben der Form des Besonderen und Einzelnen dar. Es gibt ihn nicht, den Staat schlechthin, der neben den anderen Staaten wie das Geld neben den Waren existiert und existieren muss – wenngleich Völkerbund, Uno und die ganze Völkerrechtsideologie gerade diese Halluzination hervorzubringen trachten. Kommt es zu einem wirklichen Konflikt, zeigt sich, was dieser »Staat« aller Staaten wert ist, wenn nicht ein Staat oder mehrere Staaten an seiner statt und in seinem Namen losschlagen.
Leviathan ist also wirklich nur eine Metapher, kein Name für ein wirklich existierendes Tier. Hobbes unterstellt mit ihr keineswegs, dass dieses Ungeheuer als einzelnes neben allen anderen wirklich existiert, sondern bezeichnet damit die Notwendigkeit, die durchaus verschiedene Staaten hervorbringt – und so verweist die Metapher eben selber noch auf jenes ungeheuerliche Tier, das – nach dem Bild von Marx – realiter als »das Tier« unter den Löwen, Tigern, Hasen lebt, die Wertform, nur dass Hobbes noch nicht die Begriffe dafür haben konnte, es auch bei seinem wirklichen Namen zu nennen. Nicht der Staat an sich, sondern allein das Wesen oder eben Unwesen, das Staaten notwendig macht, existiert als wirkliches Ungeheuer – und es lässt sich anfassen, wenn man in die Geldbörse greift. Wer aber den Ausweis in die Hand nimmt, hat damit das bloße, wenn auch allgemein aner­kannte Zeichen dafür, dass er zu einem von ihnen gehört. Auch wenn dieses Zeichen sich im Eigentum des Staates befindet, es ist selbst kein Stück von dessen Territorium, auf dem der Ausweisbesitzer sich aufhalten darf; während das Geld, das einer besitzt oder gerade ausgibt, immer schon ein Teil des Werts ist, der beständig zirkuliert.
Die politischen Subjekte sind wie die »ökonomischen Charaktermasken« (Marx) nur zum Schein autonom, ihre Heteronomie jedoch ist an­derer Art als die der Kapitalien in der Konkurrenz, die von den Charaktermasken kaschiert wird. Ihre Notwendigkeit, sich zu verfeinden oder zu verbünden, besteht seit der ursprünglichen Akkumulation nicht mehr in den unmittelbaren Formen der Ausbeutung (Sklaverei, Leib­eigenschaft, Lehnswesen etc.), sondern in den vermittelten des Kapitalverhältnisses, und dieses hat sich alle anderen Bedingungen für Feindschaft und Bündnis untergeordnet. Es setzt die Feindschaft zwischen den Staaten historisch und logisch voraus – aber diese Feindschaft erhält erst durch jenes Verhältnis ihre unbedingte, das heißt: alle anderen Bedingungen in sich aufhebende und bewahrende Notwendigkeit.
Krieg und Frieden, Kampf um Hegemonie und Zusammenschluss zur Allianz wären darum keineswegs mit der Konkurrenz der Kapitalien einfach gleichzusetzen. Was die Staaten gegeneinander mobilisiert oder zum Abkommen zusammenschließt, ist immer durch jene Doppel­existenz des Kapitals hindurch vermittelt: Jeder Staat muss einerseits für die Kapitalien seines Machtbereiches auftreten, für deren Eigner und für die Arbeitsplätze, die damit verbunden sind, sich in die Schanze werfen; und andererseits, so­weit er das auf seinem doch beschränkten Territorium vermag – die wirkliche Einheit des Kapitals an sich, also des Kapitalverhältnisses im allgemeinen, sichern. Die Einheit zur Geltung zu bringen, bestimmt darum ebenso seine alltägliche Finanz- und Währungspolitik wie alle For­men der Krisenbewältigung, einschließlich Krieg und Vernichtung. So gerät ­jeder Staat in den Bann des Warenfetisches: Wäre er nur der Repräsentant der herrschenden Klasse oder der dominierenden Kapitalfraktionen, das Handeln der politischen Subjekte könnte leicht durchschaut werden. Die Zusammenhänge für ihr Han­deln sind jedoch, je ­vermittelter die Gesellschaft, des­to weiter deren eigenem Blickfeld entrückt. Sie werden wie die der ökonomischen Subjekte hinter dem Rücken der Individuen hergestellt. Dennoch stehen die Subjekte im Politischen zueinander in einem anderen Verhältnis als die Arbeitskraftbehälter und Konsummonaden auf dem Markt: Sind sie auch vom Kapital in allem, was sie tun, hinter ihrem Rücken bestimmt, kommen sie dennoch nicht umhin, dieser Bestimmung ganz bewusst eine je verschiedene politische Bedeutung beizumessen und danach zu handeln.

Ausnahmezustand und Belagerungszustand
»Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« (Schmitt 1996: 13) Der apologetische Charakter der berühmten Definition ist in ihrem definitorischen Wesen verankert: darin, dass sie den Staat nicht historisiert; die Definition fragt nicht nach dem gesellschaftlichen Ursprung des Ausnahmezustands.
Der frühe Staat jedoch existierte in einer anderen Form als der moderne: Es gab keinen Sou­verän, der über den Ausnahmezustand entschied. Denn von Ausnahme kann ohne Regel nicht gesprochen werden. Und die vormodernen Formen der Ausbeutung hatten keine ­allen gemeinsame Regel, wenn unter Regel ein abstraktes Prinzip, eine iden­tische Form verstanden wird: Die Ausbeutung, die den frühen Staat begründete, war eine Vielfalt ohne abstrakte Einheit, willkürlich in ihren Formen, regellos, ob Sklaverei, Leibeigenschaft, asiatische Despotie: Herrschaft bestand darin, den anderen zu etwas zu zwingen – wie das geschieht, da­für gab es keine einheitliche Regel, kein Gesetz, sondern die verschiedensten Traditionen und Gebräuche.
Die alte Gesellschaft kannte den Gegensatz von konkreter Ausbeutung und abstrakter Form nicht. Abstraktion, soweit sie bereits im Ansatz durch Tausch und Raub vollzogen worden ist, blieb an die Person, ans Individuum gebunden. Der einzelne Herrscher, Priester oder die jewei­lige Adelsdynastie war das Subjekt der Abstraktion, aber die Abstraktion, die Gott und Reich bedeutet, war noch im Konkreten, als Eigenschaft väterlicher Autorität, nachvollziehbar. Diese Bindung der Abstraktion ans Individuum wird von der kapitalistischen Verwertung aufgehoben. Wenn sie danach wieder hergestellt wird, wie nachhaltig in der faschistischen, stalinistischen oder nationalsozialistischen Führerfigur oder vorübergehend im demokratischen, liberalen Staatsmann, ist sie durch den Wert, durch die Identifikation mit ihm, hindurch­gegangen. »Sofern Herrschaftsverhältnisse sich auf dieser Basis wieder entwickeln, ist aber gewußt, daß sie bloß aus dem Verhältnis hervorgehn, worin der Käufer, der Repräsentant der Arbeitsbedingungen, dem Verkäufer, dem Besitzer des Arbeitsvermögens, gegenübertritt.« (MEW 43: 124) Führer und Geführter, Staatsmann und Wähler identifizieren sich, so seltsam es klingen mag, mit einer Abstraktion, deren Objekt sie selbst wie alle anderen Individuen und Dinge sind, und gewinnen aus dieser Identifikation ihren Stellenwert im Staat – ihr Subjektbewusstsein.
Für diesen modernen Staat, der das Kapital eben­so nötig hat wie das Kapital ihn, gilt nun wirklich die Definition von Souveränität, die Schmitt an der Wende zum Nationalsozialismus formuliert hat. Denn seine Voraussetzung ist eine Gesellschaft, die den Ausnahmezustand als Krise systematisch hervorbringt, indem sie nämlich den Normalzustand schafft, der auf einer abstrakten Regel beruht: auf dem Gesetz des Werts, der totalen Form, der sich alle konkre­ten Formen von Ausbeutung als Inhalte integrieren. Mit ihm wird der Zwang im selben Maß stumm, als er die offene Gewalt in jedem Moment selbstverständlich voraussetzen kann. Schon Max Weber hatte davon einen Begriff, an den Schmitt anknüpfen konnte: »Die wirkliche Herrschaftsstruktur bestimmt sich nach der Beantwortung der Frage: was geschehen würde, wenn ein satzungsgemäß unentbehrlicher Kom­promiß (z. B. über das Budget) nicht zustande käme.«
Die Ausnahme bringt die Einheit des Ganzen gewaltsam zur Geltung – die Einheit also, die in der Regel gesetzt ist. So muss die Krise auch im Normalzustand gegenwärtig sein – als permanente Angst: »Bei Strafe des Untergangs« lau­tet das Leitmotiv der Souveränität wie der Verwertung. Erst die Allgegenwart der Bedrohung konstituiert die Allgemeinheit des modernen Staates. Also wird das Individuum zum Subjekt verstaatlicht, indem es diese Angst vor dem Ausnahmezustand entwickelt. Alles, was getan, alles, was gedacht wird, muss Bezug auf diesen Staat nehmen, so wie alles, was gebraucht, alles was beschafft wird, Bezug nehmen muss auf die Verwertung. (Früher gab es nicht nur ökonomische Schlupflöcher, sondern auch staatsfreie Räume und eine abgestufte Herrschermacht. Heu­te ist der Staat in allen Räumen gleichmäßig anwesend.)
Die Bedrohung ist durchs Kapital gesetzt: Die Verwertung des Werts macht die Individuen überflüssig, und im Ausnahmezustand wird ihre Überflüssigkeit vom Staat beim Wort genommen: »Die politische Einheit muss gegebenenfalls das Opfer des Lebens verlangen.« (Schmitt 1996: 70) Die Individuen versuchen demgegenüber – solange sie sich als Individuen begreifen –, permanent unter Beweis zu stellen, dass sie nicht oder noch nicht überflüssig sind – und nur solange das im großen Maßstab gelingt, spricht man von Normalzustand.
Das Ideologische an Carl Schmitts Begriff vom Ausnahmezustand liegt jedoch darin, dass in ihm der Belagerungszustand zum Verschwinden gebracht wird – als der Zusammenhang, in dem die Staaten zueinander stehen. Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheiden kann, weil er von den Gewaltverhältnissen zwischen den Staaten dazu ausersehen ist. Ausersehen bedeutet recht eigentlich: In ihm ver­körpern sich diese Verhältnisse. Seine Möglichkeiten, im Inneren die Entscheidung über den Aus­nahmezustand zu treffen, sind identisch mit der Macht, die er im Äußeren den ­anderen Staaten entgegensetzen kann. Er schöpft alle seine Kompetenzen und Kapazitäten zur Herrschaft, und das heißt: zur Sicherung der Verwertung des Werts, daraus, dass er von potentiellen Feinden umlagert ist – auch wenn er gerade die besten Freundschaftsbeziehungen mit ihnen pflegt. Jeder Staat befindet sich, so gesehen, immer im Belagerungszustand, sonst könnte er gar nicht existieren.
So ist das Bewusstsein, einer Nation anzugehö­ren, nichts anderes als der geistige Belagerungszustand. Das Negative, das darin besteht, von Fein­den umgeben zu sein, wird zu einem positiven »Gefühl«, wird als Abstammung und Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft substantialisiert. Nation ist die Form, in der die Gewaltverhältnisse zwischen den Staaten in deren Innerem positive Gestalt annehmen.
Nur wenn begriffen wird, dass die Gewalt aus dem Verhältnis zwischen den Staaten kommt, kann der Zweck des Staates im Schutz des Einzelnen begriffen werden. Umgekehrt: wenn wirklich vom einzelnen ausgegangen wird, seiner Gefährdung, dann erst kann die Entstehung der Gewalt im Verhältnis zwischen den Staaten erkannt werden.

Von der Arbeiterbewegung zur Antiglobalisierungsbewegung
Wenn die Nachfolger von Hobbes, wie Marx beklagt, die Erkenntnis des Leviathan über den Zusammenhang von price und use of power ver­gessen hatten, dann verdrängten jene, die sich in der Nachfolge von Marx glaubten, die Kritik des Staates in der Kritik der politischen Ökonomie, die darum zur bloßen Theorie wurde. Aber eben das geschah auf ganz bestimmte Weise: Die Gewaltverhältnisse zwischen den Staaten wur­den aus dem Kapital abgeleitet, aber nicht ebenso das Kapital aus den Gewaltverhältnissen zwischen den Staaten. Mit seinem Hang, den Zusammenhang des Ganzen zugunsten eines ein­seitigen Ableitungsverhältnisses aufzulösen, konnte der Marxismus gar nicht umhin, das Sche­ma von Basis und Überbau, das Marx in der Wertformanalyse durchbrochen hatte, wieder zusammenzusetzen und endgültig zu konservie­ren. Denn nur so ließ sich Staat machen mit Marx.
Konsequent zu Ende gedacht findet sich diese Austreibung der Wertformanalyse in Rudolf Hilferdings Studie übers Finanzkapital, die folge­richtig beim »Generalkartell« als dem Welt­souverän endet, den die Sozialdemokraten bloß noch in Regie nehmen müssten. Die »Kartellierung« ist ein automatischer »historischer Prozess«: Sie ergreift alle kapitalistischen Produktionszweige und eliminiert vollständig das Konkurrenzverhältnis (1968: 313). Unter den von Hilferding angenommenen Voraussetzungen ist es nur logisch, wenn die Studie zu dem Ergebnis kommt, »dass es eine absolute Grenze für die Kartellierung nicht gibt. Vielmehr ist eine Tendenz zu stetiger Ausbreitung der Kartellierung vorhanden … Als Resultat des Prozesses ergäbe sich dann ein Generalkartell. Die ganze kapitalistische Produktion wird bewusst geregelt von einer Instanz, die das Ausmaß der Produktion in allen ihren Sphären bestimmt. Dann wird die Preisfestsetzung rein nominell und bedeutet nur mehr die Verteilung des Gesamtprodukts auf die Kartellmagnaten einerseits, auf die Masse aller anderen Gesellschaftsmitglieder anderseits. Der Preis ist dann nicht Resultat einer sach­lichen Beziehung, die die Menschen eingegangen sind, sondern eine bloß rechnungsmäßige Art der Zuteilung von Sachen durch Personen an Personen. Das Geld spielt dann keine Rolle. Es kann völlig verschwinden, da es sich ja um Zuteilung von Sachen handelt und nicht um Zuteilung von Werten. Mit der Anarchie der Produktion schwindet der sachliche Schein, schwin­det die Wertgegenständlichkeit der Ware, schwindet also das Geld. Das Kartell verteilt das Produkt … Es ist die bewusst geregelte Gesellschaft in antagonistischer Form. Aber dieser Antagonismus ist Antagonismus der Verteilung. Die Verteilung selbst ist bewusst geregelt und damit die Notwen­digkeit des Geldes vorüber … Die Zirkulation des Geldes ist unnötig geworden, der rastlose Umlauf des Geldes hat sein Ziel erreicht, die geregelte Gesellschaft, und das Perpetuum mobile der Zirkulation findet seine Ruh’.« (Ebd.: 321 f.)
Es ist die Ruh’, die sich dann auch sogleich im Generalkartell der Sowjetunion einstellen soll­te. Ist einmal das automatische Subjekt, der sich selbst verwertende Wert, als perpetuum mobile verharmlost, als wär’s eine Schnellpolka von Johann Strauß, dann ist die Herrschaft sozialistischer Banden nicht mehr weit, die mit Gewalt und Zwang die Arbeitskraft in die einzelnen Produktionszweige dirigieren, um das abgepresste Mehrprodukt, je nach Gutdünken – und Wohlverhalten der Untertanen – zu verteilen.
Ein Sozialdemokrat wie Hilferding hatte allerdings die Gewalt bereits so sehr verinnerlicht, dass er sich gar nicht mehr fragte, warum denn, wenn es nur ein einziges Generalkartell gäbe und das kapitalistische Prinzip der freien Konkurrenz durch das sozialistische Prinzip planmäßiger Produktion abgelöst wäre, diejenigen, die in einem solchen Staat arbeiten müssten, überhaupt akzeptieren, dass sie arbeiten müssen und die anderen, die das Produzierte verteilen, nicht. Wie, außer durch rohe Gewalt, könnte über­haupt etwas verteilt werden? Je mehr die Mar­xisten sich darüber ausschwiegen, desto nationalistischer wurden sie. »Wir großrussischen Arbeiter«, sagte Lenin 1914, »die wir vom Gefühl nationalen Stolzes erfüllt sind, wollen um jeden Preis ein freies und unabhängiges, ein selbständiges, demokratisches, republikanisches, stolzes Großrussland, das seine Beziehun­gen zu den Nachbarn auf dem menschlichen Prinzip der Gleichheit aufbaut.« (LW 21: 92 f.)
Die Antiglobalisierungsbewegung ist in diesem Sinn die Erbin all dessen, was seit Hobbes zur Verdrängung und Abwehr der Gewaltverhältnisse beigetragen wurde: So wie auf der einen Seite das Kapital sich akkumuliert und globalisiert, so auf der anderen die Dummheit. Ihre Repräsentanten wollen den gerechten Tausch, denn sie gehen davon aus, dass die Arbeitenden ihre Arbeit verkaufen, nicht ihre Arbeitskraft, und wenn sie genug dafür bekämen, wäre die andere Welt, von der sie dauernd verkünden, dass sie möglich sei, Wirklichkeit. Wer aber glaubt, bestimmen zu können, was gerecht ist und was nicht bei einem solchen Tausch, phantasiert sich selbst in die Rolle des automatischen Subjekts, aber eins, das vom Staat kommandiert werden soll wie im Realen Sozialismus. Von diesem ist nichts übriggeblieben als das irreale Bild vom Staat, das nun aber frei verfügbar ist für jeden Idioten auf dieser Welt. Zu einem politischen Faktor wird es erst durch einen gemeinsamen Feind – und niemand kann sich dazu so gut eignen wie jemand, der sich weigert, die Verdrängung der Gewaltverhältnisse aus dem Bewusstsein mitzumachen.

Fußnote:
(1) Es handelt sich um die Apokalypse, die Offenbarung des Johannes (17,13 und 13, 16 – 17).

Literatur:
HL: Thomas Hobbes: Leviathan [Leviathan Or The Matter, Forme and Power of A Commonwealth Ecclesiasticall and Civil by Thomas Hobbes of Malmesbury 1651] with selected variants from the Latin edition of 1668. Edited by
Edwin Curley. Indianapolis – Cambridge 1994
LW: W. I. Lenin: Werke. 40 Bde. Berlin/DDR 1955 – 65
MEGA: Karl Marx, Friedrich Engels: Gesamtausgabe.
Abt. I – IV. Berlin, 1975 ff.
MEW: Marx-Engels-Werke. 43 Bde. Berlin/DDR 1956 – 1990
Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital. Eine Studie über die
jüngste Entwicklung des Kapitalismus. [1910] Frankfurt – Wien 1968
Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität. [1922] 7. Aufl. Berlin 1996
Max Weber: Gesammelte politische Schriften. Hg. v.
Johannes Winckelmann. Tübingen 1988

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Gerhard Scheit: Der Wahn vom Weltsouverän. Kritik des Völkerrechts. Ça-ira-Verlag, Freiburg 2009. 300 Seiten, 20 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.