Über völkisches Denken in Ungarn

Made in Ungarn

Imre Kertész hat mit seiner Warnung vor dem erstarkenden Antisemitismus in Ungarn den Hass der Rechten auf sich gezogen.
Karl Pfeifer über die lange Tradition des völkischen Denkens in Ungarn

Wieder einmal sind völkische Ungarn empört. Aktueller Anlass ist ein Interview in der Welt vom 7.  November. Der in Berlin lebende ungarisch-jüdische Schriftsteller und Nobelpreisträger Imre Kertész, der als 15jähriger nach Auschwitz deportiert wurde, bringt darin die gesellschaftliche Lage in Ungarn auf den Punkt: »Die Lage hat sich in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich verschlechtert. Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen. Die alten Laster der Ungarn, ihre Verlogenheit und ihr Hang zum Verdrängen, gedeihen wie eh und je.«
Prompt wurde er deswegen – nicht zum ersten Mal – von rechten Medien Ungarns kritisiert und damit einmal mehr in seiner Aussage bestätigt. So behauptete Zsolt Bayer, einer der prominentesten rechten Journalisten, in der Tageszeitung Magyar Hirlap: »Wer nur Verbrechen, Ausgrenzung, Antisemitismus sieht, in dem wohnt drinnen der Teufel. Der Schrecken. Der ist wurzellos. Und bedauernswert unrettbar. Ganz zu schweigen davon, dass er auch unendlich langweilig ist, leider.«
Die rechte Presse gerät jedes Mal in Rage, wenn Kertész im Ausland darauf aufmerksam macht, was sie in Ungarn treibt. Denn wer diese Medien nüchtern beobachtet, kann feststellen, wie frustrierte Schriftsteller und Nationalisten ihm den Nobelpreis und sein internationales Renommee neiden und wie das oft in einem antisemitischen Crescendo mündet.
Vollends paradox wird es, wenn diejenigen, die ihm explizit oder implizit absprechen, ein Ungar zu sein, sich über Kertész besonders empören, weil er bemerkt: »Ich bin ein Produkt der europäischen Kultur, ein Décadent, wenn Sie so wollen, ein Entwurzelter, stempeln Sie mich nicht zum Ungarn.«
Mit verhaltener Ironie macht er sich über die ungarischen Nationalisten lustig, die ihn dessen beschuldigen, wozu er sich nun erklärt. Kertész weiß, in der Regel sind seine Gegner nicht in der Lage, Ironie zu verstehen, weswegen sie ihm übel nehmen, was sie selbst postulieren: Imre Kertész, György Konrád und Péter Nádas seien dekadent und »wurzellos«.
Der für die liberale Wochenzeitung Élet és Irodalom schreibende Literaturkritiker Sándor Radnóti gibt sich dagegen als Fürsprecher von Kertész aus, er glaubt aber, ihn wieder ungarisieren zu können, indem er ihm eine Beleidigtheit zuschreibt, die er als zutiefst ungarisch klassifiziert.
Doch es geht um mehr, es geht um die seit den dreißiger Jahren immer tiefer werdende Kluft in der ungarischen Kultur zwischen den Völkischen und den Urbanen, wobei die Urbanen (unter denen es viele Juden gab) von den jeweiligen Machthabern immer wieder mit Argwohn betrachtet wurden. Viele Völkische (népi) fanden während der vierziger Jahre ihren Weg zu den Pfeilkreuzlern, während nur eine Minderheit von ihnen kommunistisch wurde, jedoch in der Regel am Antisemitismus festhielt.
Die Völkischen in der Zwischenkriegszeit befassten sich mit der Lage der »drei Millionen Bettler«, wie die Landarbeiter damals genannt wurden. Zwar änderte sich durch die Industri­alisierung die Struktur der Gesellschaft, doch der völkische Gedanke wirkte weiter.
Es gehörte zur Propaganda des »realen Sozialismus« vorzugeben, Rassismus, Antisemitismus und Chauvinismus gäbe es nicht mehr, weil doch die Herrschenden erklärten, damit nichts mehr zu tun zu haben. Man tat so, als habe die ungarische Gesellschaft nach 1945 damit gebrochen, obwohl man nur verdrängt hatte.
Die ungarische Lebenslüge, die auf einer bequemen »antifaschistischen« Legende gründete, wonach an der Tragödie Ungarns 1944 lediglich »die Deutschen« schuld gewesen seien, versuchte, so gut es ging, die Tatsachen unter den Teppich zu kehren.
Sogar das Wort »Jude« wurde tabuisiert und durch das Wort »Verfolgter« ersetzt, der Widerstand gegen die Nationalsozialisten und ihre ungarischen Helfershelfer maßlos übertrieben. Natürlich war das sowjettreue Kádár-Regime auch sehr bemüht, sich den Anschein einer selbstbewussten Nation zu geben, schon um vergessen zu machen, wer es Ende 1956 installierte, und so wurden gerade die Völkischen, die heute vorgeben, sie hätten schon von jeher gegen das Regime opponiert, obwohl einige ihrer Anführer damals gerade als IM fungierten, immer wieder bevorzugt.
Nach der Wende kam es zunächst zu einem Kompromiss in der Politik zwischen »Urbanen« und »Völkischen«. Die liberale Elite, in der Menschen jüdischer Abstammung überrepräsentiert waren, hatte während der letzten Jahre des Kádár-Regimes die Hilfe von György Soros genossen, viele wurden in die USA eingeladen, und sie glaubten, in Ungarn würde eine »Zivilgesellschaft« entstehen, die nichts so dringend braucht, wie eine Art »First amendment«, ab­solute Meinungsfreiheit, die in Ungarn allerdings als vollkommene Freiheit zur Hetze gegen Minderheiten, Liberale und Linke verstanden wird. So hofften sie vielleicht insgeheim, sich vom »Makel« der Urbanität (»jüdische Abstammung«) zu befreien und von der völkischen Mehrheit als gleichberechtigt akzeptiert zu werden.
Doch es kam natürlich anders, als die konservative Regierung 1992 begann, das autoritäre und halbfeudale Horthy-Regime zu rehabilitieren. Da wurden Denkmäler für die »Helden« errichtet, die schlecht ausgerüstet zum Kampf gegen die Rote Armee geschickt worden waren. Die rechten Medien begannen, unverschämt die Geschichte zu fälschen und zu erklären, an der Deportation einer halben Million jüdischer Ungarn im Frühjahr 1944 seien – außer den Deutschen – allein die Pfeilkreuzler schuld gewesen, die aber erst am 15. Oktober 1944 – nach einem missglückten Versuch Horthys, einen Separatfrieden zu erreichen – die Macht erhielten.
Diese Legende vom judenfreundlichen Horthy-Regime wird immer wieder auch im Ausland von Journalisten hartnäckig verbreitet, obwohl die Horthy-Administration die Juden, bevor sie deportiert wurden, registrierte, konzen­trierte und beraubte, um sie dann von ungarischen Gendarmen und Polizisten binnen sechs Wochen in die Viehwaggons treiben zu lassen, mit denen die meisten nach Auschwitz-Birkenau kamen. Die professionellen Geschichtsverdreher versuchen, antisemitische Maßnahmen als von der deutschen Politik aufgezwungen zu erklären. Doch bereits 1920 hatte das ungarische Parlament als erstes in Europa einen numerus clausus eingeführt, d.h. eine radikale Einschränkung für jüdische Studenten. Im Wahlkampf vor der Parlamentswahl 1920 versprachen alle Parteien mit Ausnahme der Sozialdemokraten, die »Judenfrage« zu lösen. Auch der katholische Bischof Ottokár Prohaszka – ein Bewunderer Horthys – verlangte dies in seinem 1920 im Hamburger Deutschvölkischen Verlag publizierten Elaborat.
Die Neo-Pfeilkreuzler der rechtsextremen Partei Jobbik und die paramilitärischen Organisationen in ihrem Dunstkreis marschierten am 22. November auf, um den 90. Jahrestag des Einmarschs von Miklós Horthy in Budapest zu feiern. Und weil Horthy damals auf einem weißen Pferd in die »sündige Stadt« ritt, reinszenierte der rechtsextremistische Pöbel dies. Die Anführer erklärten, sie würden – so wie ihr Vorbild – »Budapest von den Roten« säubern: »Die Rattenvernichtung läuft schon seit den EU-Wahlen.«
Die Mehrheit der Ungarn hat anscheinend nichts dagegen, und die paar kleinen Gruppen, die dagegen sind, machen den Fehler, sich anti­faschistisch zu nennen, was den Irrglauben bestärkt, es handle sich um eine aus dem Ausland importierte Ideologie und nicht um echtes verwurzeltes ungarisches Gedankengut.