Gehirndoping. Konkurrenzvorteil für Pillenschlucker

No Dope, no Hope

Der neueste Hype nennt sich Gehirndoping. Es ist die heimliche Hoffnung auf Schlüsselqualifikationen zum Einnehmen und der Neid über die pharmakologische Abkürzung.

Doping – das war bis vor kurzem das jährliche Ritual zur Tour de France: Öffentlich-rechtliche Gesinnungshuber greinen über Werteverfall und unlauteren Wettbewerb. Inzwischen aber hat das Thema die Schmuddelecke von Rad- und anderem »unsauberen« Sport verlassen und weit größere Kreise gezogen. Unter dem Stichwort »Gehirndoping« verhandeln Drogenexperten, Wissenschaftsjournalisten und Populärethiker – teils sorgenvoll, teils unverständig und immer heimlich fasziniert – das Vordringen chemischer Fitmacher in Ausbildung und Lohnarbeit.
Gemeint sind damit in erster Linie jene Präparate, die, auch bei Menschen ohne entsprechende Krankheitsbilder, Denk- und Konzentrationsleistungen fördern und Abschlaffen verhindern sollen. Darunter fallen Medikamente, die – wie Modafinil (Markenname: Vigil) – gegen Narkolepsie und – wie Donepezil – zur Gedächtnisstärkung bei Dementen und Alzheimerpatienten entwickelt wurden; schließlich, als wohl bekanntestes, Methylphenidat, besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin, das in der Regel so genannten hyperaktiven Kindern verschrieben wird.
In zweiter Linie aber geht es überhaupt um Substanzen, die, indem sie bestimmte Botenstoffe im Gehirn blockieren, sich schnell und ohne Aufwand zum Adjustieren der Psyche verwenden lassen; vor allem Antidepressiva wie das nach wie vor beliebte Prozac, von dem inzwischen in den USA 22 Millionen Dosen jährlich verschrieben werden.

Tatsächlich zeigt eine 2009 publizierte Studie der DAK, dass in Deutschland zwei Millionen Menschen, das heißt fünf Prozent der Beschäftigten, schon einmal »leistungsfördernde« Medikamente am Arbeitsplatz eingenommen haben; etwa 800 000 sollen dies regelmäßig tun. Dabei bevorzugen Männer, dem Rollenbild gemäß, mehrheitlich Stimulantien, Frauen dagegen eher Stimmungsaufheller. Was die Anzahl der Schüler und Studenten betrifft, die sich chemisch aufpeppen, herrschen dagegen hierzulande eher wilde Spekulationen vor. Empirische Studien in den USA kamen zum Ergebnis, dass im Jahr 2005 insgesamt vier Prozent der Studenten illegal zu stimulierenden Mitteln gegriffen hatten – was allerdings den Magdeburger Neurobiologen Henning Scheich nicht daran hinderte, die hiesige Öffentlichkeit vor amerikanischen Zuständen zu warnen: Dort gebe es »fast keinen College-Studenten mehr, der für die Prüfung nicht Ritalin nimmt«.
Dass Abiturienten sich nicht mehr, wie es sich gehört, mit Kaffee und Dextro-Energen, sondern mit Amphetaminen und Antidementia bei Laune halten müssen – dieses überaus beliebte Horror­szenario bietet immer wieder hervorragenden Anlass für einen jener wohlfeilen, weil folgenlosen Appelle gegen die »Unmenschlichkeit des Erfolgsdrucks«, wie sie unter den Landsleuten immer dann so beliebt sind, wenn es mal wieder soziale Wärme braucht. Statt über Kündigungsschutz und Schulzeitverkürzung lässt sich dann, ganz gemütlich, über Gesinnung reden. Und umso mehr, als in der Warnung vor den chemisch angetriebenen Berufsrobotern der Umschlag von der Sorge in den volksgemeinschaftlichen Hass stets angelegt ist: Das Imago vom Schüler oder Angestellten, der seine Leistungen nur noch mit Drogen zu optimieren weiß, ist von dem des Junkies, der sein Glück sich nicht erarbeitet, sondern in die Venen schießt, so weit nicht entfernt. Aus beiden spricht immer auch der geheime Neid über die pharmakologische Abkürzung.

Der Konkurrenzvorteil des Pillenschluckers treibt auch jene Ärzte und Bioethiker um, die in der Novemberausgabe der Zeitschrift Gehirn und Geist ein »Memorandum« zum »optimierten Gehirn« publizierten. Statt Grund zur Sorge erkennen sie freilich lauter wunderbare »Gestaltungsmöglichkeiten«; weswegen sie statt von »Gehirndoping« auch lieber von »Neuro-Enhancement« sprechen. Die entsprechenden Präparate sollen nicht mehr als verschreibungspflichtige Medikamente behandelt, sondern – ganz pragmatisch und liberal – allen, selbst den »sozial Schwachen«, zur Verfügung gestellt werden.
Das mag drogenpolitisch vernünftig sein; sympathisch macht es die Autoren dennoch nicht. Als abgeklärte Posthumanisten können sie auf Moralpanik über die widernatürlichen Manipulationen des Geistes verzichten; auch deswegen, weil für sie geistige Autonomie ohnehin nur ein unwissenschaftliches Phantasieprodukt darstellt. Die »Freiheit« und »Kreativität«, die sie meinen, fällt daher mit ihrem Gegenteil unmittelbar in eins: einer »Lebensform«, zu der die »Anstrengung, im sozialen Wettbewerb erfolgreich sein zu wollen«, nun einmal gehöre.
Ganz entspannt können sie daher auch zugeben, dass sich die gedächtnis- und konzentrationsfördernde Wirkung der gängigen »Enhancer«, außerhalb ihres medizinisch vorgesehenen verwendungsgebietes, bislang nirgends wissenschaftlich hat belegen lassen. Wo nämlich der Mensch nicht von der Vernunft, sondern von seinen Synapsenschaltungen bestimmt wird, da müsste es doch mit dem Teufel zugehen, wenn sich nicht irgendwann auch die richtige Stellschraube finden ließe.
Das Vertrauen darin, was Gehirndoping alles mit den Menschen anstellen könne, eint begeisterte Propagandisten desselben mit ums Abendland besorgten Mahnern und Warnern. Die Fetischisierung der Stoffe war stets die Crux nahezu jeder drogenpolitischen Debatte. Darauf sprechen auch die Konsumenten an. Im Zeitalter der Flexibilität und der Teamfähigkeit, der Innovationen und des Fit durch Freude, kurz: des terroristischen Zwangs zur beständigen Arbeit an sich selbst, können sie kaum noch anders, als sich von den Pillen Wunderdinge zu erhoffen. Was die Ideologen, wenn sie ihre Wunsch- oder Schreckensbilder unendlicher pharmakologischer Manipulierbarkeit zeichnen, begrifflich festklopfen, das sehnen die Gebraucher herbei: den zur chemischen Formel geronnenen Prozess postindustrieller Subjektivierung. Möglicherweise ist, was die Neuropharmaka, jenseits jeder physiologisch dingfest zu machenden Wirkung, so attraktiv macht, wirklich vor allem der Glaube, mittels ihrer ließen sich die gesellschaftlichen Vorgaben endlich konsumierbar machen: Schlüsselqualifikationen zum Einnehmen.
Das ist durchaus nicht abwertend gemeint. Sich an die Vorgaben anzupassen, steht ja nicht im Belieben des Einzelnen; der Belastung standzuhalten, ob mit Yoga und Jogging, mit Kaffee und Zigaretten oder mit Prozac und Vigil, kann in der Tat befreiend wirken – oder schlicht die letzte Hoffnung sein. Und gerade Kiffern und Acidheads, die sich auf die Subversivität ihres Rausches am meisten einbilden, stünde es am allerwenigsten an, überlegen auf die armseligen User von Grand­dad’s little helpers herabzublicken. Auch die Gegenkultur der sechziger Jahre hat ja, man lese nur die Schriften Timothy Learys, mit Haschisch und LSD propagiert, was dem Stand der Produktivkräfte gemäß war: den für seine eigenen Bedürfnisse sensiblen, seine eigenen Potentiale erschließenden produktiven Konsumenten. Heute geht man das Gleiche an, nur etwas weniger überhöht.

Es mag nämlich der Konsum von Neuropharmaka, der sich weder durch Rausch und Transzendenz noch durch Geschmack und Geselligkeit rechtfertigen lässt, der profanste sein – gerade dadurch ist er zugleich, was jeder Ecstasy-User sich so gerne auf die Fahnen schreibt, genuin hedonistisch. Denn Hedonismus, dieses vom Altgriechischen ins Linksrebellische versetzte Zauberwort, meinte ja nie, was heute alle darunter verstehen, Wollust und Ekstase. Sein Ziel hieß stets, ebenso bescheiden wie maßlos, die Leiden des Lebens zu minimieren. Heute kann das dann eben heißen, Medikamente für Alzheimerpatienten oder unruhige Kinder einzunehmen.
Es ist ja kein Zufall, dass der Hype um die Neurodrogen mit der Ausbreitung neuer psychischer Störungen einhergeht, den »neuen Leiden der Seele« (Julia Kristeva). Die öffentliche Anteilnahme am Tod Robert Enkes, die größte in Deutschland seit Adenauers Tod, demonstrierte schlagend, wie viele bereit sind, sich in einem leitenden Angestellten, der, wie es dann heißt, am Druck zerbrochen sei, wiederzuerkennen. Tatsächlich ist der Anteil der psychischen Krankheiten am allgemeinen Krankenstand in den vergangenen sieben Jahren signifikant gewachsen; kein Bericht über Enkes Selbstmord, der zu erwähnen vergaß, dass Depressionen und Anverwandtes – diffuse Ängste, Überforderungsgefühle, Antriebslosigkeit – zur Volkskrankheit avanciert sind.

Es ist denkbar, dass diese Störungen noch eine große Zukunft haben, eben weil die Gesellschaft, aus der sie erwachsen, keine Zukunft mehr hat. Wo selbst den Privilegiertesten ihre Privilegien zur Qual werden, erscheint Vergesellschaftung ihren Mitgliedern nicht mehr als Verheißung, sondern bloß noch als Zumutung; die eigene Reproduktion als endloser, monotoner Dauerstress. Weil ohnehin kaum jemand sich dieser Anforderung gewachsen fühlt, gerät jeder nicht kanalisierte Affekt, jede unvorhergesehene Regung zur Störung: Müdigkeit, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Nervosität zeigen nicht mehr an, wie es um meine ureigenen Bedürfnisse steht, sondern wie wenig ich den Ansprüchen um mich herum zu genügen in der Lage bin. Was »ich« will, muss ich daher, und sei es eben pharmakologisch, gegen das durchsetzen, was mich als Ich überhaupt erst konstituiert: meine je individuelle Psyche.
Verführerisch ist es, darauf mit kulturpessimistischem Seufzen zu reagieren – wie es etwa der linke Experte in Sachen Drogen, Günther Amendt, in »No Drugs – No Future« tut. Angesichts des wachsenden Zwangs, individuelle Unvollkommenheiten eigenverantwortlich unter pharmakologische Kontrolle zu bekommen, beklagt er den »Verlust an Tradition und das Schwinden jeder Form von kollektiver Identität«. Natürlich hat er Recht, wenn er sagt, dass das Selbstverhältnis, welches den in die Eigenverantwortung entlassenen Subjekten aufgebürdet wird, eines der vollkommenen Selbstentfremdung ist; nur waren das Tradition und kollektive »Identität« natürlich auch. Und ihm entgeht, wie haarscharf nur Praktiken wie das Gehirndoping die vielleicht einmal befreiende Wahrheit verfehlen: wie unglaublich schwer es nämlich geworden ist, zu dem Bündel Naturprozessen, aus denen Körper und Geist sich zusammensetzen, überhaupt noch »Ich« zu sagen.