Über den »Bildungsstreik«, den Geist und die Geisteswissenschaften

Wer nicht fragt, bleibt dumm

Der »Bildungsstreik« und die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften.

Selten wurden die Protagonisten einer Protestbewegung von denjenigen, gegen die sie protestiert, so innig geliebt wie die des »bundesweiten Bildungsstreiks«. Mit ihren putzigen Krümelmonsterkostümen, ihren Comedy-Quatschclub-reifen PR-Aktionen (Wegtragen von »Bildungsleichen«), mit der schalen Diktion ihrer »Forderungskataloge« und ihren deutsch-österreichischen Größenphantasien (»Solidarität mit Wien«, »Wien, Deutschland, und morgen die ganze Welt«) konnten sie innerhalb kurzer Zeit bei Jung und Alt, Doof und Schlau richtig groß rauskommen. Ihre Forderungen zielen vorwiegend auf Maßnahmen, für die sich die Bildungspolitiker ohnehin aufgeschlossen zeigen: Reduktion der Verschulung, größere internationale Mobilität, paritätische Entscheidungen, gerechtere Finanzierungssysteme. Ihre eigenen Präsidenten haben sie für die Besetzung von Hörsälen gelobt, Wissenschaftsjournalisten von Taz bis FAZ haben sich mit ihnen solidarisch erklärt, Mütter und Schüler haben ihnen applaudiert. Im Grunde hätte die kollektive Euphorie niemanden überraschen dürfen: In puncto Geist und Bildung herrscht in Deutschland seit jeher Generalstreik, und wer Bücher nur auf Befehl liest, durfte sich hier schon immer zu Hause fühlen. Neu ist aber die Schamlosigkeit, mit der Menschen, denen selbst Adorno und Horkheimer eine größere Reflexionsfähigkeit als dem statistischen Durchschnittsbürger zutrauten, die Weigerung, erwachsen zu werden, als Eigenkapital ihrer Existenzgründung reklamieren. Kindischer als ihre kleinen Geschwister und abgeklärter als die eigenen Eltern, schicken sie sich an, ihrem Professor zu beweisen, dass sie das Schlechte besser können als er selbst. Deshalb, und weil die Kritik an der selbsternannten »Bewegung« zumindest in Internetforen allmählich an Kontur gewinnt, soll im Folgenden anstelle freundlicher Begleitreflexionen Material für ihre anstehende Erledigung geliefert werden. (1)

Die Lust am Feueralarm
Wenn es ein verbindendes Element der verschiedenen Bildungsstreikaktionen gegeben hat, so war es der nur halb ironisch bemäntelte Infantilismus, mit dem man sich in trotziger Affirmation freiwillig noch einmal zu dem Grundschüler macht, als der man vermeintlich ohnehin behandelt wird. Konsequent borgt man sich Flugblattlogos und Kostüme von der »Sesamstraße« und der »Sendung mit der Maus«, veranstaltet öffentliche »Momo«-Lesungen, bei denen die Sache mit den grauen Männern natürlich völlig ernst gemeint ist, und inszeniert Hörsaalbesetzungen als Pfadfindercamping mit Zelten und Kochgeschirr, um sich als frustrierte Zuteilungsempfänger in Szene zu setzen, denen angesichts der Tatsache, dass die Bildungsakkumulateure den Rohstoff bunkern, nichts übrigbleibt, als mit der gleichen Aggressivität auf die eigene Beschränktheit zu pochen wie der Hartz-IV-Empfänger auf seine Bedürftigkeit. Um die antisemitischen Implikationen des eigenen Bilderrepertoires – graue Männer, ein bissiger Hund als Karikatur des Kapitalisten usw. – schert man sich nicht, weil man, um sie zu durchschauen, ja jener »Bildung« bedürfte, welche die Agenten des »Verwertungszusammenhangs« einem verweigern. Charakteristisch für die geistige Disposition solchen Protests ist die Brandmetaphorik, auf die sich die Bildungsprotestler rechtzeitig zum Jahrestag der Reichspo­gromnacht geeinigt haben: Wo immer für ein paar Tage ein Hörsaal besetzt wird, heißt es von nun an »Berlin, Halle, Bonn … brennt«, was, von allen anderen Bedeutungsnuancen abgesehen, auf »Hurra, die Schule brennt« anspielt – auf jenen prototypischen Pennälerspruch, der die Allianz von entfesselter Eigeninitiative und brutaler Geistesverachtung prägnant zusammenfasst, die man in Deutschland als authentischen Ausdruck von Jugendlichkeit ansieht. Zumindest darin, dass willentliche Bücherzerstörung die Tatkraft und das Wir-Gefühl stärkt, sind sich Bildungspolitiker und Bildungsprotestler einig: Die einen verwandeln die Universitätsbibliotheken, wie es derzeit in Berlin geschieht, zurück in verkappten Privatbesitz der diversen Sonderforschungsbereiche und verscherbeln kostbare Doppelbestände zu Schleuderpreisen. Die anderen werben direkt nebenan für ihr bildungspolitisches Anliegen ausgerechnet mit dem Bild eines brennenden Pantheons.
Wenn die Schule oder Uni brennt, macht der Ausnahmezustand Spaß und stiftet ein Gemeinschaftsgefühl, das umso stabiler ist, als sich niemand über die Wiederkehr der Normalität auf neuer Stufe täuscht. Entsprechend besinnungslos wird ein »Wir« beschworen, über dessen Unvereinbarkeit mit dem Begriff der Bildung, auf den man sich beruft, gar nicht erst nachgedacht wird. »Unsere Uni macht mit«, heißt es auf Plakaten an der FU Berlin – ob beim Streik oder beim Elitewettbewerb, lässt sich schlechterdings nicht entscheiden (alle Hervorhebungen hier und im Folgenden von mir). »Du bildest die Uni«, ermahnt mit schwacher Kalauerneigung ein anderes Plakat und beweist damit nur, dass die »Du bist Deutschland«-Rhetorik sich längst vom nationalen Kontext gelöst hat und als identitäres Bindemittel alle Verbände, Cliquen und Rackets beherrscht, die in organisierter Selbstzerfleischung den Volkstaat konstituieren. In den »Sprechchorübungen«, die allerorten als mobilisierungsbegleitender Service angeboten wurden, war der Slogan »Wir sind viele, wir sind laut, weil man uns die Bildung klaut« besonders beliebt. » … weil man uns den Schnuller klaut« träfe den dahinter stehenden Affekt wohl besser, zielen doch alle konsensfähigen Forderungen der Bildungsprotestler auf die Verbesserung der institutionellen Schutzmechanismen und die Sicherung intellektueller Grundversorgung. Kaum ein Gedanke wird verschwendet auf mögliche neue geistige Inhalte und deren curriculare Formen, von einer Selbstkritik der Propaganda gegen »Ökonomisierung« und »Amerikanisierung«, »Leistungsdruck« und »Verwertungslogik« ganz zu schweigen. Das überlässt man lieber Marx, der bekanntlich »Muss« ist und dessen Würdigung an degoutante Veranstaltungen delegiert wird, bei denen Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht oder der marktführende Schweizer Antizionist Jean Ziegler als Gastredner bejubelt werden. Gerade ihre Reflexionslosigkeit hat den Bildungsprotestlern aber breite Aufmerksamkeit gesichert: Wer »laut« ist, hat in Deutschland immer recht, und wenn man sich dann noch als Opfer gemeinen Raubs exponiert, hagelt es Zustimmung, weil zwischen den Zeilen jeder erkennt, dass solcher Protest nicht nur gegen die »Konzerne« und den »Markt« agitiert, sondern gleichsam blind auch gegen das akademische Milieu selbst – gegen jenes intellektuelle Schmarotzertum, das im Gegensatz zu seinen bodenständigen Söhnen selten »laut« wird und einen Begriff von Bildung entwickelt hat, der in seinem Idealismus wohl ideologisch ist, wie jede Ideologie aber sein Wahrheitsmoment hat: dass nämlich Bildung ein »Eigentum« ist, das zwar erworben, aber nicht zugeteilt, das zwar zunichte gemacht, aber nicht »geklaut« werden kann.

Die Gemeinschaft der Beraubten
Der Begriff von Bildung, der den Forderungskatalogen der Protestler zugrunde liegt, ist indessen von dem instrumentellen Bildungsverständnis, das sie mit dem Slogan »Bildung ist keine Ware« attackieren, völlig ununterscheidbar. Bildung wird als etwas angesehen, das akkumuliert, verkauft, geklaut, unter Wert gehandelt, vor allem aber vom Bildungsdienstleister, als der natürlich die Universität figuriert, demokratisch verteilt werden könne. Diktion und Denkform lassen die Propagandisten des Bildungsstreiks schon jetzt als jene bildungspolitischen Sprecher von Links- und sonstigen Parteien erscheinen, als die einige von ihnen früher oder später wohl wirklich enden werden. Ihr »Protest« ist keine Kritik, sondern ein prospektives Bewerbungsschreiben. So dekretiert Thomas Warnau vom »Freien Zusammenschluss von StudentenInnenschaften« (FZS) im Jargon jungsozialistischer Petitionsausschüsse in der Jungle World (48/2009): »Die Forderung nach der Rückkehr zu den alten Abschlüssen und die ebenfalls oft geäußerte Forderung nach der Besinnung auf die Humboldtschen Bildungsideale sind dabei klar zurückzuweisen. Bildung zum Zweck der Förderung des deutschen Nationalbewusstseins … und eine … Beschränkung des Zugangs zu ›höherer‹ Bildung sind ebenso abzulehnen wie eine Ausrichtung des Bildungssystems auf die Schaffung möglichst verwertbaren Humankapitals«. Wer Forderungen, die (seien es auch kollektiv organisierte) Individuen an andere stellen, nur in einer Rhetorik blinden Vollzugs zu formulieren vermag und wer anonyme, aber doch bewusstlos von Individuen exekutierte Transformationsprozesse nicht in ihrer Prozesshaftigkeit, sondern einzig als erstarrte Optionen in den Blick bekommt (»eine Beschränkung«, »eine Ausrichtung«), der ist ein universitätspolitischer Sprechautomat und sollte seine Textproduktion auf die tagesübliche Verwaltungsprosa beschränken. Warnaus Gegner bei der Jungle World-Debatte, die Gruppe Campusantifa aus Frankfurt am Main, scheint sich zwar von ferne des Unterschieds zwischen Bildung und Strafvollzug bewusst zu sein, bedient aber letztlich dasselbe Ticket, wenn sie »eine soziale, gerechte und kritische Bildung« bzw. »eine selbst­organisierte, selbstbestimmte Bildung« einklagt. Läuft die abstrakte Forderung nach »kritischer Bildung« nicht auf das autoritätssüchtige Sammeln »herrschaftskritischen Wissens« hinaus? Ist Bildung, die doch wohl voraussetzt, dass irgendjemand in irgendeinem Aspekt menschlichen Lebens mehr weiß und mehr kann als ich, nicht in gewisser Weise notwendig immer auch »fremdbestimmt«? Und klingt das Pochen auf »Selbstbestimmung« nicht nach autistisch vor sich hinwurschtelnden Polit-AGs, die sich, wie die Formulierung lautet, »kritisch« mit was auch immer »auseinandersetzen«? Kurz gesagt: Trieft aus solcher Diktion nicht in jeder Zeile jene Heteronomie, gegen die rhetorisch mobil gemacht wird?
Was solche »Kritik« nicht wahrhaben will und an bildungsphilosophischen Schriften von Humboldt über Nietzsche bis zu Adorno regelmäßig als »bildungsbürgerlich« und »romantisch« zurückweist, ist die simple Erkenntnis, dass Bildung, wenn darunter mehr verstanden werden soll als die allgemeine Zugänglichkeit der entsprechenden Infrastruktur, a priori nicht »demokratisch« sein kann. Bildung ist weder »Menschenrecht« noch »Ware«, aber eben auch nicht einfach der Warensphäre entzogen. Sie bezeichnet, so ohnmächtig wie insistierend, gerade das Moment, worin jeder Einzelne, gerade weil er nicht nur »Mensch« ist, sich von allen anderen Einzelnen glücklich unterscheidet und in solchem Unterschied das Allgemeine vertritt – nichts anderes also als gelungene Individuation. Deshalb gibt es so viele gebildete Menschen, die noch nie eine Uni von innen gesehen haben, aber auch so viele Soziopathen mit Doktortitel. So richtig es ist, dass das von den Achtundsechzigern geschmähte »Fachidiotentum« diesem Begriff von Bildung widerspricht, so notwendig sind doch fachliche Profilierung und geistige Arbeitsteilung – also gerade die Transformation von Bildung in ein »Gut« und die »Ökonomisierung«, mithin die Freisetzung der Universitäten vom politischen und konfessionellen Dienst – als Voraussetzung solcher Individuation. Wer diesen Doppelcharakter, der allen autonomen geistigen Gebilden ebenso wie der autonomen Kunst innewohnt – nämlich warenförmig zu sein, ohne in der Warenform aufzugehen (2) – nicht in den Blick bekommt, der endet entweder bei einer linkspädagogisch aufgemöbelten Betriebswirtschaft oder betrachtet Bildung, weil sie schließlich keine Ware sei, von vornherein als Beute: als von ominösen grauen Männern gebunkertes Zeug, das zwar im Grunde verächtlich ist, aber zwecks intellektueller Subsistenz­siche­rung qua »unmittelbarer Aneignung«, »Freiraum­politik« etc., also im Modus geistigen Mundraubs, seiner Bestimmung zugeführt werden müsse. Deshalb wohl auch der erstaunlich große Erfolg der »Piratenpartei« unter Studenten: Die propagiert nämlich, als Institution gewordene Kaltstellung des Widerspruchs zwischen Liberalismus und Kommunismus, genau jene globale Enteignungspolitik, auf die sich heute antinationale Künstlerkollektive, illiterate Werbetexter und hauptamtliche Freiberufler aller Art jederzeit einigen können.
Wer als Antwort auf die Frage, wie man sich denn »selbstbestimmt« bilden möge, nicht etwa ein Buch liest, eine Reise unternimmt, Menschen kennenlernt oder sich verliebt, sondern von den Bossen verlangt, den »Bildungsklau« zu beenden, der stellt sich die bessere Zukunft nicht als eine Welt befreiter Ungleichheit vor, als eine Welt also, in der jeder ohne Angst und ohne Neid von jedem anderen lernen und sich an dem erfreuen kann, worin die anderen anders (und manchmal auch besser!) sind als man selbst, sondern als Bildungsverteilungsanstalt, wo der Geist demokratisch portioniert wird wie die fleischlose Suppe in der Volksküche. Die Phantasielosigkeit »phantasievoller« Protestaktionen – »Erschöpftes Umfallen im Hörsaal«, »Credit-Point-Jagd« in Fußgängerzonen oder die notorischen »Flashmobs« – macht evident, dass es dabei nur noch um die beleidigte Einforderung von etwas geht, das man zu brauchen meint, aber schon lange nicht mehr begehrt. Wo aber die Begierde verkümmert – und durch Slogans wie »Lust auf Bildung« stirbt sie endgültig ab –, da verkümmert auch der Geist, der, wo er zu sich selbst kommt, eins ist mit der Lust. Ohne Rekurs auf das, was sich als Triebsubstrat jeder geistigen Erkenntnis bezeichnen ließe, lässt sich nicht verstehen, was die Kritische Theorie, in Zuspitzung der materialistischen Momente des romantischen Bildungsbegriffs, als leiblichen Kern jeder Erkenntnis bestimmt: »Die Vernunft«, schreibt Adorno in den »Minima Moralia« mit Blick auf Freud, »ist ihm ein bloßer Überbau, … weil er den bedeutungsfernen, vernunftlosen Zweck verwirft, an dem allein das Mittel Vernunft als vernünftig sich erweisen könnte, die Lust. Sobald diese geringschätzig unter die Tricks der Arterhaltung eingereiht, selber gleichsam in schlaue Vernunft aufgelöst wird, ohne dass das Moment daran benannt wäre, das über den Kreis der Naturverfallenheit hinausgeht, kommt die ratio auf die Rationalisierung herunter. Nur wer es vermöchte, in der blinden somatischen Lust, die keine Intention hat und die letzte stillt, die Utopie zu bestimmen, wäre einer Idee von Wahrheit fähig, die standhielte.« (3) Als »Zweck« der Vernunfterkenntnis ist die Lust nicht etwa unvernünftig wie die zur »Rationalisierung« heruntergekommene Ratio, sondern »vernunftlos«, der Vernunft wie auch ihres falschen Gegensatzes ledig, die in ihr aufgehoben sind. Die Lust wie die Wahrheit sind blind: nicht im Sinne des »unerhellten Triebs«, von dem die Psychoanalyse spricht und der gerade den abgespaltenen, destruktiv gegen das Subjekt sich wendenden Trieb bezeichnet, sondern im Sinne der Intentionslosigkeit, die keine partikularen Wünsche mehr kennt, weil sich in ihr alle erfüllen: blind wie das Glück. In der Verächtlichmachung jeder noch so flüchtigen Erinnerung an diese Einheit von Lust und Erkenntnis aber sind sich nicht erst seit »Bologna« alle einig – die Bildungsreformer, deren Zerstörung der stets eher proklamierten Einheit von Forschung und Lehre nur ein Oberflächenreflex der Zerstörung jener Einheit ist; und die »Bildungsopfer«, die, wäre Bildung nicht eine so wichtige »Zukunfts­investition«, ohne sie ebensogut leben könnten wie jetzt schon ohne Phantasie.

Phylogenese der Dummheit
Insofern ist es kein Zufall und kommt der psychischen Disposition der nachwachsenden Akademikergeneration entgegen, dass die Alltagsreligion der Neurophilosophie, die den Begriff der autonomen Vernunfterkenntnis und des freien Willens zu liquidieren sich anschickt, inzwischen einhergeht mit einer regelrechten Gefühlsrenaissance: Allerorten sprießen Ableger einer naturwissenschaftlich verbrämten Emotionalitätsforschung aus dem Boden, um zu beweisen, dass sich Vernunft und Sinnlichkeit, Gefühl und Ratio nicht unterscheiden lassen, weil beide nichts als akzidentielle Effekte jener subjektlosen Impulse seien, die in gewisser Weise die postmoderne Variante des lebensphilosophischen »Willens« darstellen, der jeden individuellen Willen zugleich umfasst und verzehrt. Damit gelingt der postmodernen Emotionalitätsforschung die negative Verwirklichung jener Aufhebung des Gegensatzes von Vernunft und Sinnlichkeit, die anzustreben in den Schriften der Kritischen Theorie hämisch als »vorwissenschaftlicher« Restbestand einer noch nicht ganz auf der eigenen Höhe arbeitenden Gesellschaftswissenschaft abqualifiziert wird. Im Abschnitt »Intellectus sacrificium intellectus« in den »Minima Moralia«, der den Exorzismus der Lust aus dem um die Dimension des Begreifens verkürzten Erkenntnisprozess als Selbstopfer der Vernunft beschreibt, heißt es dagegen: »Nietzsches Aphorismus ›Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf‹ trifft mehr als einen bloß psychologischen Sachverhalt. Weil noch die fernsten Objektivierungen des Denkens sich nähren von den Trieben, zerstört es in diesen die Bedingung seiner selbst. Ist nicht das Gedächtnis untrennbar von der Liebe, die bewahren will, was doch vergeht? Ist nicht jede Regung der Phantasie aus dem Wunsch gezeugt, der übers Daseiende in Treue hinausgeht, indem er seine Elemente versetzt? Ja ist nicht die einfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahrgenommenen gebildet oder der Begierde danach? Wohl hat der objektive Sinn der Erkenntnisse mit der Objektivierung der Welt vom Triebgrund immer weiter sich gelöst; wohl versagt Erkenntnis, wo ihre vergegenständlichende Leistung im Bann der Wünsche bleibt. Sind aber die Triebe nicht im Gedanken, der solchem Bann sich entwindet, zugleich aufgehoben, so kommt es zur Erkenntnis überhaupt nicht mehr, und der Gedanke, der den Wunsch, seinen Vater, tötet, wird von der Rache der Dummheit ereilt. … Phantasie, heute dem Ressort des Unbewussten zugeteilt und in der Erkenntnis als kindisch urteilsloses Rudiment verfemt, stiftet allein jene Beziehung zwischen Objekten, in der unabdingbar alles Urteil entspringt: wird sie ausgetrieben, so wird zugleich das Urteil, der eigentliche Erkenntnisakt, exorziert. … Ist einmal die letzte emotionale Spur getilgt, bleibt vom Denken einzig die absolute Tautologie übrig. Die ganz reine Vernunft derer, die der Fähigkeit, ›einen Gegenstand auch ohne dessen Gegenwart vorzustellen‹, vollends sich entschlagen haben, wird mit der reinen Bewusstlosigkeit, dem Schwachsinn im wörtlichsten Sinn konvergieren«. (4)
Man weiß nicht, auf wen diese Worte prägnanter zu beziehen wären: auf die Bildungsreformer, denen der Geist, den ihre Zunft im Namen trägt, zunehmend als vielleicht doch nicht irreduzible Betriebsstörung erscheint; auf die Bildungsprotestler, die sich gegenseitig zum »Selbstdenken« auffordern wie Elke Heidenreich ihr dementes Publikum zum »Lesen!«; oder auf die zahllosen »unpolitischen« Studenten, die ihren Dozenten bei jedem zweiten Satz fragen, ob er denn prüfungsrelevant sei, und die, allesamt ihre eigenen SekretärInnen, besser mitschreiben als schreiben können – eine Armee antriebs- und witzlos gewordener Bouvards und Pécuchets, die jeden Vorschein des Begreifens als Bedrohung des Studierens wahrnehmen. Bei ihnen vollends ist selbst noch »die einfachste Wahrnehmung an der Angst vorm Wahrgenommenen gebildet«, jedoch reflexionslos: Das »Recht auf Bildung«, das sie allen Ernstes vom Staat einklagen, statt sich exmatrikulieren zu lassen und sich zu nehmen, was an Möglichkeiten eines freien Lebens noch übrig ist, meint nichts anderes als das Recht, ihre Angst vorm Denken und vorm Leben zu professionalisieren. Auch in den Zeiten vor Bologna, die von den Bildungsprotestlern idealisiert werden, war ein höherer Bildungsabschluss oder ein Stipendium nur in Ausnahmefällen Ausweis geistiger Autonomie. In Wahrheit bescheinigen akademische Zeugnisse seit jeher vor allem die Fähigkeit, betriebsgerecht zu schreiben und zu reden, und sanktionieren den Grad der individuellen Konformität mit dem universitären Apparat, der als zunehmend nutzloses Anhängsel der Kapitalverwertung qua ideellen Distinktionsgewinns weiterhin mitgeschleppt wird. Je tautologischer der Verwertungsprozess und je offensichtlicher jene Nutzlosigkeit wird, desto evidenter erweist sich die gesamte universitäre Infrastruktur als virtuelles Jobcenter: Bafög-Ämter, Studienstiftungen, Sonderforschungsbereiche und Exzellenzinitiativen sind nichts als Zuteiler eines akademisch camouflierten (und oft noch nicht einmal viel großzügigeren) Arbeitslosengeldes, mit dem das nutzlose Menschenmaterial durchgefüttert wird, solange man sich zu strikteren Maßnahmen nicht überwinden mag. Deshalb agieren viele Bildungsprotestler in ihrem Denken und ihrer Rhetorik schon jetzt wie Hartz-IV-Empfänger. Sie pochen auf ihren Bildungsbedarf als eine sublime Form des Existenzminimums und können mit ihren Credit Points, ihrer Anwesenheitspflicht und ihrem »Campus Management« längst genauso gut tricksen wie jene mit ihrem ALG-II-Antrag.
Je totaler sich das Prinzip der ökonomischen und intellektuellen Alimentierung durchsetzt, desto mehr verkümmert, was der idealistische Begriff von Bildung als eines der materiellen Sphäre enthobenen, gleichsam unverlierbaren Eigentums ebensowenig erfasst wie dessen materialistisches Komplement, dem Bildung nichts anderes ist als eine Art ideeller Mehrwert: der Konnex zwischen Erkenntnis und Lust. Wenn, wie Adorno schreibt, allein Phantasie »jene Beziehung zwischen Objekten« stiftet, »in der unabdingbar alles Urteil entspringt«, so wird mit der Zerstörung des Zusammenhangs von »Triebgrund« und »Erkenntnis« nicht nur der Akt des Urteilens zum leeren Etikettieren, zur bloßen Meinungsäußerung, sondern Sinnlichkeit selbst verkümmert, der Fähigkeit zur sprachlichen Artikulation beraubt, zum stumpfen Affekt. Phantasielosigkeit und Begriffslosigkeit, Freudlosigkeit und Unvernunft konvergieren und erzeugen jene Melange aus bornierter Interessenpolitik und haltlosem Wunschdenken, welche die »Forderungskataloge« der Bildungsprotestler und ihre an triste Schullandheimaktivitäten erinnernden Performances so unangenehm macht. Dass man nicht, wie die Rationalisten glauben, an Urteilskraft gewinnt, was man an Imagination einbüßt, aber auch nicht, wie die Vulgärromantiker meinen, den Verstand verlieren muss, um schöpferisch zu sein, bringt der von Adorno gewählte Begriff des »Schwachsinns« negativ auf den Punkt: bezeichnet er doch nichts anderes als den notwendigen Zusammenhang zwischen Entgeistung und Entsinnlichung. Nicht zufällig trägt das Schlussfragment der »Dialektik der Aufklärung«, das sich auch als Skizze einer Urgeschichte des Bildungsbegriffs lesen lässt, den Titel »Zur Genese der Dummheit«. »Das Wahrzeichen der Intelligenz«, heißt es dort, »ist das Fühlhorn der Schnecke ›mit dem tastenden Gesicht‹, mit dem sie, wenn man Mephistopheles glauben darf, auch riecht. Das Fühlhorn wird vor dem Hindernis sogleich in die schützende Haut des Körpers zurückgezogen, es wird mit dem Ganzen wieder eins und wagt als Selbständiges erst zaghaft wieder sich hervor. Wenn die Gefahr noch da ist, verschwindet es aufs neue, und der Abstand bis zur Wiederholung des Versuchs vergrößert sich. … In jedem Blick der Neugier eines Tieres dämmert eine neue Gestalt des Lebendigen, die aus der geprägten Art, der das individuelle Wesen angehört, hervorgehen könnte. Nicht nur die Prägung hält es in der Hut des alten Seins zurück, die Gewalt, die jenem Blick begegnet, ist die jahrmillionenalte, die es seit je auf seine Stufe bannte und in stets erneutem Widerstand die ersten Schritte, sie zu überschreiten, hemmt. Solcher erste tastende Blick ist immer leicht zu brechen, hinter ihm steht der gute Wille, die fragile Hoffnung, aber keine konstante Energie. Das Tier wird in der Richtung, aus der es endgültig verscheucht ist, scheu und dumm.« (5)
Unter dem Bann der Gewalt wird Scheu zur Dummheit, obwohl doch gerade in ihr, wäre sie vom Druck der Furcht und des nach innen fortgesetzten Zwangs befreit, jener »Blick der Neugier« aufdämmern könnte, der allein »eine neue Gestalt des Lebendigen«, erfüllte Individualität, verspricht. Nicht das auftrumpfende, und eben deshalb unfreie, refraktäre Selbstbewusstsein und nicht der sich als revolutionär beschwörende und umso ohnmächtigere Wunsch, die selbst Erscheinungsformen von Dummheit sind, verweisen auf diese Möglichkeit, sondern das tastende Gesicht und der tastende Blick, in denen das »Selbständige« des »Ganzen« gewahr bleibt, von dem es sich befreit. »Intelligenz«, Vernunft selbst erweist sich der Bildlichkeit dieser Stelle zufolge als Organ und Organon eines Leibs, dessen Begierde sie erfüllt, indem sie sich von ihm löst. Dummheit bezeichnet nichts anderes als die Neutralisierung dieses Prozesses, die in der Regel als Zeugnis des Erwachsenseins missdeutet wird: »Dummheit ist ein Wundmal. Sie kann sich auf eine Leistung unter vielen oder auf alle, praktische und geistige, beziehen. … Die endlosen Fragen des Kindes sind je schon Zeichen eines geheimen Schmerzes, einer ersten Frage, auf die es keine Antwort fand und die es nicht in rechter Form zu stellen weiß. … Sind die Wiederholungen beim Kind erlahmt, oder war die Hemmung zu brutal, so kann die Aufmerksamkeit nach einer anderen Richtung gehen, das Kind ist an Erfahrung reicher, wie es heißt, doch leicht bleibt an der Stelle, an der die Lust getroffen wurde, eine unmerkliche Narbe zurück, eine kleine Verhärtung, an der die Oberfläche stumpf ist. Solche Narben bilden Deformationen. Sie können Charaktere machen, hart und tüchtig, sie können dumm machen … Der gute Wille wird zum bösen durch erlittene Gewalt. Und nicht bloß die verbotene Frage, auch die verpönte Nachahmung, das verbotene Weinen, das verbotene waghalsige Spiel, können zu solchen Narben führen. Wie die Arten der Tierreihe, so bezeichnen die geistigen Stufen innerhalb der Menschengattung, ja die blinden Stellen in demselben Individuum Stationen, auf denen die Hoffnung zum Stillstand kam, und die in ihrer Versteinerung bezeugen, dass alles Lebendige unter einem Bann steht.« (6)
Dies ist die negative Wahrheit des Darwinismus: Jedes Individuum wiederholt, auf gleichwohl unverwechselbare Weise, jenen Weg der Deformation, auf dem die »Hoffnung« ständig in Gefahr ist, zum »Stillstand« zu kommen, und der dennoch der einzige ist, der unter den gegebenen Bedingungen zu gehen ist, will man nicht irgendwann auf der einen oder anderen Seite der Irrenanstalt landen. Die »Versteinerung« ist nicht zu vermeiden, aber sie kann in glücklichen Konstellationen dazu führen, dass die »Lust« nicht nur »getroffen« wird, sondern durch Konzentration und Selbstbesinnung jene »konstante Energie« entwickelt, die der »gute Wille« haben muss, um nicht zum bösen zu werden. Nichts anderes als dieser Prozess kann vernünftigerweise Bildung genannt werden, erinnert er doch nicht umsonst bis in seine Metaphorik hinein an die somatischen, gleichsam organischen Implikationen des Bildungsbegriffs und an dessen wahrhaft materialistische Grundlage, seinen »Triebgrund«. Konkret bedeutet dies, will man »Bildung« nicht nur als Ticket beschwören, darüber nachzudenken, welcher keineswegs existenzielle »Schmerz« es denn ist, der jene ersten Fragen hervorruft, auf die noch kein Kind je eine Antwort hatte und die noch kein Kind in angemessener Weise zu stellen wusste; weshalb, mit anderen Worten, die Geschichte der Menschheit bis heute im Bann der »Tierreihe« verharrt, die hier nicht aus kruder Anthropologie, sondern aus historischer Erkenntnis heraus die Metapher der »Menschengattung« abgibt.

Für immer Schüler
Bei der Beantwortung dieser Frage könnte, zumal man aus ihr mehr über den Kommunismus lernt als bei Sahra Wagenknecht, durchaus die »Sesamstraße« helfen, in der es von merkwürdigen Figuren wimmelt, die gerade aus ihren Schwächen, Ticks und Spleens auf rätselhafte Weise ihre Stärke und ihren Sympathiewert beziehen, und in der die Fragen »Wieso? Weshalb? Warum?« noch keine rhetorischen, sondern Kinderfragen sind. Im Milieu des »Bildungsstreiks« jedoch, wo man sich auf derlei Motive nur halb verbissen, halb hämisch bezieht, kennt man immer schon die Antworten – die »Konzerne«, die »Wirtschaft«, das »Kapital«, auf jeden Fall die »anderen« sind schuld – und verlangt mit der forschen Aufforderung, Fragen zu stellen und »selbst zu denken«, in Wahrheit nur, die längst vorgegebenen Fragen und Antworten zu wiederholen. Indessen denkt, wer überhaupt denkt, schon immer selbst, und der Appell ans »Selbstdenken« ist nichts als ein verkappter Befehl, damit aufzuhören bzw. gar nicht erst anzufangen. An die Stelle der »verbotenen Frage« tritt dann die beantwortbare, erlaubte. Eben dadurch wird das Kind zum Schüler, der keine kindlichen, sondern höchstens kindische Fragen stellt und dessen Wünsche, im Gegensatz zu den stets noch uneinlösbaren des Kindes, genauso leicht zu befriedigen sind wie die pubertäre Sehnsucht nach gesellschaftlich sanktionierter Triebabfuhr.
Das Kind, keineswegs naiv oder unschuldig, ist zumindest potentiell ansprechbar, der Schüler dagegen ist die Verkörperung der Dummheit. Heutzutage, und gerade diesen Trend reproduzieren die Bildungsprotestler, ohne sich dessen auch nur annähernd bewusst zu sein, sollen tendenziell alle Menschen vom Mutterbauch bis zum Sterbebett in Schüler verwandelt werden. Die Gesellschaft des omnipräsenten Assessment-Centers ist zugleich ein gewaltiger Kindergarten, in dem erwachsene Menschen sich gegenseitig wie Unmündige behandeln, während die Unmündigen angehalten sind, schon im Krippen­alter eine Autonomie zu imitieren, deren Verwirklichung ihnen um jeden Preis verwehrt wird. Die Kleinkinder werden zu Schülern gemacht durch schulvorbereitendes Kognitionstraining, die Studenten durch Verwandlung der Unis in Schulen; die Erwachsenen werden zu Schülern durch berufsbegleitende Pflichtfortbildung für Untergebene und Vorgesetzte sowie durch ein dichtes Netz von ABM- und Trainingsmaßnahmen, bei denen die Jobagenturen als ideelle Gesamtpädagogen agieren; die Alten werden zu Schülern durch Mehrgenerationenhäuser und infantile »Seniorenfreizeitangebote«; ja sogar die Ungeborenen werden zu Schülern durch pränatale Erziehungskurse für werdende Mütter. Eben diese Entmündigung, diese umfassende Verschulung aller großen Bürger und kleinen Erdenbürger, nennt sich »lebenslanges Lernen«, und nach »lebenslangem Lernen« gieren alle mit der gleichen Aggressivität, mit der sie jeden Funken Erinnerung an einen Zustand abwehren, in dem es keine Arbeit und kein Spiel mehr gäbe, sondern nur noch Glück, und der in der Blütezeit bürgerlichen Denkens mit einem Wort, das heute auch schon wie eine Drohung klingt, »ewiger Frieden« hieß. Das »lebenslange Lernen« verdammt die erfüllte Tätigkeit ebenso wie die Faulheit, die Zweckfreiheit und den Luxus. Es markiert die historische Liquidation der Möglichkeit des ewigen Friedens im Namen eines permanenten Beschäftigtseins, das ironischerweise von einem Zustand universaler Arbeitslosigkeit immer schwerer zu unterscheiden ist.
Wer jedoch, statt die Forderung zurückzuweisen, als Objekt von »Bildungsmaßnahmen« zu fungieren, »Bildung« offensiv einfordert und zu diesem Zweck womöglich sogar freiwillig an kollektiven Sprechchorübungen teilnimmt, der macht sich nur noch einmal zum Schüler und bekennt, ob nun willentlich oder bewusstlos, dass er nie im Leben etwas anderes sein will: Dass er am liebsten auch in der Uni seine kleinen und seine großen Pausen hätte, dass er Fragen nur stellt, wenn man sie souffliert, Antworten nur gibt, wenn nach ihnen gefragt wird, und mit dem Plärren aufhört, sobald der Papa mit dem ersehnten neuen Spielzeug nach Hause kommt. Er macht sich freiwillig und vorbeugend zu jenem Unmündigen, zu dem er auf dem Umweg institutioneller »Bildung« ohnehin gemacht werden soll, und erfährt den Konflikt – das »Wundmal«, von dem bei Adorno und Horkheimer die Rede ist – gar nicht mehr in seiner Schmerz- und Konflikthaftigkeit. Solcher Beweis der eigenen freiwilligen Selbstinfantilisierung ist freilich die beste Voraussetzung, um früher oder später von genau denen, gegen die man sich aufmüpfig zeigt und denen man schon jetzt erkennbar gleicht, in den Club der regredierten Eliten aufgenommen zu werden, die umso brutaler die »Exzellenz« beschwören, je weniger sie vom Adelsprivileg, das immerhin auch ein Glücksversprechen barg, noch wissen oder wissen wollen.
Kein Wunder also, dass die Aktionen und Veranstaltungen der Bildungsprotestler meistens so hirn- und freudlos ausfallen und die Stimmung eines verregneten ostzonalen Antifa-Camps verbreiten. Kein Wunder auch, dass sich, gleichsam als Nebenmotiv, auch der Antisexismus wieder zu Wort meldet, den man doch seit einiger Zeit fast für verblichen hielt. Nachdem es in der Wiener Universität zu einem, in den Medien nicht präziser beschriebenen, »sexuellen Übergriff« und zu chauvinistischen Beschimpfungen gekommen war, erklärten diverse antisexistische Initiativen in Berlin sich in einer ohne jeden Widerspruch geduldeten Plakat­aktion jedenfalls »solidarisch« und erteilten an die Kommilitonen Ratschläge in puncto sexueller »Zustimmungsreglung«, auf denen gefordert wurde, an allen Unis einen »Frauenraum als Rückzugsraum« einzurichten, und das Prinzip sexueller »Zustimmung« dadurch definiert wurde, »jedes Mal und in jedem einzelnen Fall«, auch vom festen Partner, vor »sexuellen Handlungen« »Zustimmung« einzuholen, wobei »sexuelle Handlungen« bestimmt wurden u.a. als »Küssen«, »Streicheln« und »den Rücken Kraulen«. »Mimik und Gestik«, hieß es ohne präzisere Bestimmung weiter, seien »erlaubt«, müssten aber vorher »abgeklärt« werden. Auch Sexualität wird hier offenbar nur noch gleichsam pädagogisch erfahren, als etwas, das, ganz genauso wie Bildung, unbedingt exakt ­geregelt werden muss, bei dem es keine Ambivalenz, keine Abgründe, keine Spontaneität und vor allem keine Individualität geben darf, das demokratisch verteilt und vertraglich fixiert werden soll – kurz, in völligem Gegensatz sowohl zur erwachsenen wie auch zur kindlichen Sexualität, als infantile nämlich. Selbst wenn nur eine Minderheit dem zustimmen mag, kein Einziger hat widersprochen, kein Einziger hat ausgesprochen, dass es eine Beleidigung von Frauen ist, für sie einen inneruniversitären Schonraum einzufordern, als könnten sie nicht, zumal an der Universität, für ihre Rechte und ihr Begehren selber einstehen. (7) Wie man sich hier die Sexualität vorstellt – nämlich reduziert auf jenes mutlose »Verscheuchtsein«, das Adorno und Horkheimer zufolge Ausdruck von Dummheit ist –, so stellt man sich auch den Geist vor, und die Aufforderung auf einem alten Flugblatt der Initiative Sozialistisches Forum, »Hört auf zu studieren, fangt an zu begreifen« (8), würde wohl heute als Aufforderung zu »übergriffigem Verhalten« verstanden werden. Freilich, anders als begreifend lässt sich nicht denken, und wer bei solchen Plakaten ratlos den Kopf schüttelt, fängt vielleicht endlich damit an.

Der Text ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der am 11. Dezember 2009 in Siegen gehalten wurde. Für Rat und Unterstützung danke ich Bastian Assion.

Fußnoten:
(1) Einen Überblick über die Streikaktivitäten vermittelt die Seite mit ihren diversen regionalen Ablegern. Die im Text erwähnten Aktionen und Zitate stammen aus Berlin, Köln, Bonn, Halle und Wien. Zur Kritik der Bildungsproteste siehe etwa: oder . Bisher ist solche Kritik allein von Außenstehenden, aber nicht von den Bildungsprotestlern selbst geäußert worden.
(2) Vgl. Gerhard Stapelfeldt: Geist und Geld. Von der Idee der Bildung zur Warenform des Wissens. Münster 2003
(3) Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 4: Minima Moralia. Frankfurt/M. 1980, S. 136
(4) Ebd., S. 136f.
(5) Theodor W. Adorno: GS 3: Dialektik der Aufklärung (mit Max Horkheimer). Frankfurt/M. 1981, S. 194
(6) Ebd., S. 194f.
(7) Deshalb zeugt es von nichts als Zynismus, wenn die Bildungsprotestler der FU auf den Schautafeln, auf denen sie die Medienresonanz ihrer vermeintlich internationalen »Bewegung« dokumentieren, auch Artikel über die Studentenproteste im Iran platzieren, die für alles Mögliche kämpfen, aber nicht für den freiwilligen Rückzug der Frauen aus der universitären Öffentlichkeit.
(8) In: Kritik & Krise. Beiträge gegen Ökonomie und Politik 1: Das Elend der Studentenbewegung. Freiburg 1989