Abdruck aus »Fight for Freedom. Die Legende vom anderen Deutschland«

Hymnen des Hasses

Über die bleibenden Verdienste von Bomber-Harris, den »Vansittartismus«, deutsche Linke im britischen Exil und die Illusion vom »anderen Deutschland«.

Als die ersten Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten 1933 ins Exil gingen, war die Arbeiterbewegung heillos zerstritten: KPD und SPD befehdeten sich seit 1918/19; 1929 hatte sich die rechte Opposition um August Thalheimer und Heinrich Brandler als KPD-Opposition (KPD-O) von der KPD abgespalten; 1931 gründeten dissidente SPD-Mitglieder die SAP. Zur gleichen Zeit ging aus einem Kreis von Kommunisten und Sozialdemokraten um Walter und Ernst Loewenheim die Vorgängerorganisation der Gruppe »Neu Beginnen« hervor. Am Ende des Zweiten Weltkrieges war diese Fragmentierung weitgehend überwunden. KPD und SPD standen sich zwar noch immer feindselig gegenüber, die Linkssozialisten jedoch hatten in ihrer großen Mehrheit Anschluss an die SPD gefunden: von Willi Eichler (ISK), dem Vater des Godesberger Programms, über den späteren SPD-Vizevorsitzenden Waldemar von Knoeringen (»Neu Beginnen«) bis hin zu Willy Brandt (SAP).
Diese Annäherung resultierte nicht allein aus der Erfahrung des 30. Januar 1933; sie diente nicht allein dem Zweck, die immer wieder kritisierte Spaltung der Arbeiterbewegung in antifaschistischer Absicht zu überwinden. Immerhin hatten gerade die Organisationen, die nach dem Krieg in der SPD aufgingen – die Gruppe »Neu Beginnen«, die SAP und der ISK – den Bruch mit der Sozialdemokratie aufgrund ihrer Empörung über den Legalismus und den Reformismus der Partei in den Jahren unmittelbar nach 1933 noch zu vertiefen gesucht. Vor allem in Großbritannien, wo mit der Gründung der Union deutscher sozialistischer Organisationen im März 1941 die Basis für die Vereinigung von SPD, »Neu Beginnen«, SAP und ISK nach dem Krieg gelegt wurde, rückte das sozialis­tische Exil vielmehr in der Abwehr eines gemeinsamen Feindes zusammen. Neben der Diskussion über den Umgang mit den Kommunisten war die Frage des sogenannten Vansittartismus die zentrale Debatte des sozialistischen Exils in Großbritannien. Richard Löwenthal, Mitglied der Reichsleitung von »Neu Beginnen«, erinnerte sich noch vierzig Jahre später daran, dass die »›rechten‹ und ›linken‹ respektablen deutschen sozialistischen Gruppen« ihre gegenseitigen Vorbehalte im Kampf gegen den Vansittartismus zurückstellten. Als die SPD-Vorstandsmitglieder Erich Ollenhauer und Hans Vogel im Winter 1940/41 im britischen Exil eintrafen, so Löwenthal, seien auch sie davon überzeugt gewesen, »dass hier eine wirkliche Gefahr für das internationale Ansehen der deutschen Sozialdemokratie war und dass alle unsere tradi­tionellen Differenzen dem gegenüber zurücktreten mussten und in der Tat schon zurückgetreten waren«. Tatsächlich gibt es kaum einen sozialistischen Exilpolitiker, bei dem die antideutsche Agitation von Lord Robert Vansittart, der von 1930 bis 1937 als oberster Beamter des Foreign Office tätig war und 1941 ins Oberhaus kooptiert wurde, keine Empörung hervorrief, sodass die Exilanten schließlich das Bündnis mit Vertretern anderer Fraktionen der deutschen Arbeiterbewegung suchen ließ.
Diese Entrüstung basierte vor allem auf sieben Radiosendungen Vansittarts für die BBC, die im Dezember 1940 ausgestrahlt, in der Sunday Times nachgedruckt und im Januar 1941 schließlich in einer schmalen Broschüre zusammengefasst wurden: »Black Record«. In diesem Heftchen, das innerhalb kürzester Zeit eine Auflage von einer halben Million erreichte, bemühte sich Vansittart um den Nachweis, dass die fünf Kriege, die Deutschland in den letzten 75 Jahren geführt hatte, kein Zufall gewesen seien. Bei einer Reise ins Schwarze Meer, so erklärte der überzeugte Appeasement-Gegner, habe er vor vielen Jahren einen Vogel beobachtet, der sich willkürlich auf seine kleineren Artgenossen stürzte und sie tötete. Diesen »Butcher-Bird« wollte Vansittart als Sinnbild der Deutschen verstanden wissen. Der Nationalsozialismus sei keine »Abweichung, sondern ein Resultat« der deutschen Geschichte. In einem gewagten historischen Parforceritt stellte Vansittart den Nationalsozialismus als die logische Konsequenz einer zweitausendjährigen deutschen Geschichte dar: von Hermann dem Cherusker über Friedrich II. Barbarossa zu Hitler. Die Deutschen hätten sich seit Tacitus’ Zeiten nicht geändert; der Deutsche sei stets ein »Barbar, Kriegsliebhaber und Feind von Humanismus, Liberalismus und christlicher Zivilisation« gewesen. Ähnlich wie Churchills »Blood-Sweat-and-Tears«-Ansprache vom Mai 1940 zielten auch Vansittarts Invektiven einerseits darauf, die Entschlossenheit der Heimatfront zu stärken: Nach der Ausstrahlung der Sendungen zog es die britische Regierung, wie sich der Linkskommunist und zeitweilige Vansittart-Vertraute Karl Retzlaw in seinen Memoiren erinnerte, nie wieder, wie noch in den ersten Kriegsmonaten, öffentlich in Betracht, sich nach Kanada in Sicherheit zu bringen und den Krieg von dort aus zu führen. Andererseits sollte der auch in Großbritannien weit verbreiteten Annahme entgegengetreten werden, dass es einen nennenswerten Unterschied zwischen den Deutschen und ihrer Führung gebe.
Obwohl die zentrale Forderung Vansittarts nicht, wie immer wieder behauptet, die »Vernichtung«, sondern die »Re-education« der Deutschen war, sorgte »Black Record« in Großbritannien für einen Skandal. Vor allem das linke und intellektuelle Milieu befürchtete einen Rückfall in die skandalöse Hunnenpropaganda des Ersten Weltkrieges. Es zeigte sich empört darüber, dass sich ausgerechnet ein Mitglied der Upper Class gegen die traditionelle britische Ausgewogenheit stark gemacht hatte: »Eine ernsthaftere Hymne des Hasses«, so wurde exemplarisch im linksliberalen New Statesman erklärt, »wurde selten in besserem Englisch verfasst.« Mit zunehmender Dauer des Krieges gewannen vansittartistische Positionen in der britischen Öffentlichkeit jedoch immer größeren Einfluss. Die BBC und das Informationsministerium beschlossen bereits unmittelbar nach der Besetzung Dänemarks und Norwegens, in Zukunft nicht mehr zwischen Nazis und Deutschen zu unterscheiden; im Januar 1943 erklärte die Regierung, dass es »angesichts der Greueltaten, die unter deutscher Besatzung den Juden und der Bevölkerung der besetzten Gebiete zugefügt werden«, nicht mehr möglich sei, »eine vollständige Unterscheidung zwischen dem Hitlerstaat und dem deutschen Volk aufrechtzuerhalten«. Und im Juni 1943 stellte sich schließlich auch die Labour Party, in der bis dahin pazifistische oder klassenkämpferische Positionen über großen Einfluss verfügen konnten, auf Vansittarts Seite.
Mit besonderer Empörung reagierte jedoch das deutsche Exil auf »Black Record«. Die Argumente, die gegen den Lord vorgebracht wurden, glichen zwar denen der britischen Debatte, sie wurden allerdings mit größerer Hysterie vorgetragen: Friedrich Stampfer bezeichnete Vansittart noch Jahre später als »geistige(n) Anti­pode(n) eines anderen schrulligen Engländers«: Houston Stewart Chamberlain; Willy Brandt erklärte im fernen Schweden, dass Vansittarts Thesen der »Hitlerschen Rassenlehre sehr nahe verwandt« seien. Die Aufregung, die der Vansittartismus im linken Exil hervorrief, steigerte sich noch, als auch einige Emigranten für den Lord Partei ergriffen. Am 2. März 1942 verabschiedeten Fritz Bieligk, Curt Geyer, Carl Herz, Walter Loeb, Kurt Lorenz und Bernhard Menne ein Manifest, in dem sie nicht nur feststellten, dass Hitler kein Zufall, sondern dass er »von der größten Massenbewegung der deutschen Geschichte in die Macht getragen worden« sei. Sie erklärten zugleich, dass der Linken, namentlich der SPD und den Gewerkschaften, eine Mitschuld am Aufstieg des Nationalsozialismus zukomme. In Folge dieser Erklärung wiederholte sich eine Auseinandersetzung, die kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Pariser Exil stattgefunden hatte. Damals hatte Leopold Schwarzschild, in der Weimarer Zeit Mitherausgeber des linksliberalen Tage-Buch, die Empfehlung ausgesprochen, Deutschland nach dem drohenden Krieg für lange Zeit zu besetzen und die Deutschen systematisch umzuerziehen. Während sich Schwarzschild der Arbeiterbewegung allenfalls randständig verbunden fühlte – und seine Forderungen von den sozialistischen Emigranten insofern als die Ideen eines wirren Querkopfes abgetan werden konnten –, waren die Unterzeichner der Erklärung vom 2. März 1942 fast durchweg prominente Sozialdemokraten.
Walter Loeb, der Wortführer der Dissidenten, hatte für die sozialdemokratisch- kommunis­tische Koalition in Weimar zu Beginn der zwanziger Jahre die Thüringische Staatsbank aufgebaut. Carl Herz war langjähriger Parteijurist der SPD, Verfasser des staats- und verwaltungspo­litischen Teils des Heidelberger Programms und von 1926 bis 1933 Bürgermeister von Berlin-Kreuzberg. Und mit Curt Geyer gehörte der Gruppe sogar ein Mitglied des Exilvorstandes der SPD an. Die sechs Dissidenten, um die sich bald ein kleiner Kreis nonkonformistischer Emi­granten scharte, verhehlten nicht, dass sie selbst lange Zeit der Vorstellung des »anderen Deutschland« angehangen hatten. Insbesondere Curt Geyer war als Chefredakteur des Neuen Vorwärts in den Jahren zwischen 1933 und 1941 zu einem der Vordenker der Exil-SPD geworden. Im Streit um Schwarzschild hatte er sich dementsprechend noch deutlich auf Seiten des »anderen Deutschland« positioniert. Auch wenn ei­nige seiner Texte aus dieser Zeit bereits zaghafte Zweifel an der Richtigkeit der bisherigen sozialdemokratischen Politik erkennen ließen, hatte er doch die Parole ausgegeben: »Kampf gegen die Formel: ceterum censeo, Germaniam esse delendam.« Die deutsche politische Emigra­tion sei »keine Fremdenlegion, die fremdem Nationalismus gegen den wahnsinnig gewordenen deutschen Nationalismus« diene. Während die Dissidenten mit ihren Angriffen auf die Sozialdemokratie, den deutschen Linkssozialismus und die Legende vom »anderen Deutschland« also nicht zuletzt ihre eigene Vergangenheit bekämpften, spaltete die Exilszene ihre bestimmte Ahnung vom Zustand der deutschen Gesellschaft von sich ab und repersonifizierte sie in den ehemaligen Genossen. Im Streit um Vansittart und die »Fight-for-Freedom«-Verlagsgesellschaft, die von Loeb im Herbst 1941 als pub­lizistisches Sprachrohr des Dissidentenkreises gegründet wurde, bekämpften sie mit anderen Worten – und das ließ die Auseinandersetzung regelmäßig ins Pathologische abgleiten – ihre eigenen Zweifel an der Figur des »anderen Deutschland«.

Im Juli 1934 verfasste Heinz Langerhans, der Anfang der dreißiger Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig war, Thesen, in denen er versuchte, die Macht der Nazis, die ihn ins Zuchthaus gebracht hatte, auf den Begriff zu bringen. In diesem Text, der auf Zigarettenpapier geschrieben und von einer Besucherin aus der Haftanstalt geschmuggelt wurde, beschrieb er die Verschmelzung von Staat und Kapital zum »Staatssubjekt Kapital«: »Aus dem einheitlichen Subjekt Kapital mit dem Garanten Staat als besonderem Organ ist das einheit­liche Staatssubjekt Kapital geworden.« Diese Verschmelzung ging mit einer anderen Fusion einher: Das »Staatssubjekt Kapital« habe sich, wie Langerhans erklärte, das »Monopol auf Klassenkampf« erzwungen: »Eine rücksichtslose soziale Pazifierungsaktion mit dem Zweck der ›organischen‹ Einfügung des Kapitalteils Lohnarbeit in den neuen Staat wird eingeleitet.« Der faschistische Sozialpakt, so deutete der Schüler Karl Korschs hier an, ist keine Propaganda­lüge der Nazis; die Volksgemeinschaft kann vielmehr als Aufhebung der Klassengesellschaft auf dem Boden der Klassengesellschaft begriffen werden.
Auch wenn Langerhans seine Thesen mit Blick auf Deutschland formulierte wollte er die Herausbildung des »Staatssubjekts Kapital« nicht als deutsche Spezialität begriffen wissen. Die Verschmelzung von Staat und Kapital sei die Strukturformel der nachliberalen Epoche des Kapitalismus; sämtliche Differenzen zwischen den Entwicklungen in den verschiedenen Staaten seien nicht fundamentaler Art, sondern in den »Unterschieden der nationalen Geschichte« begründet. Während Langerhans diese »Unterschiede der nationalen Geschichte« nach seiner Freilassung 1939 und dem Gang ins Exil weit­gehend vergaß, gerieten sie für den Kreis um Walter Loeb und Curt Geyer zusehends ins Zentrum der Reflexionen. Die Veröffentlichungen der »Fight-for-freedom«-Verlagsgesellschaft kreisten um die Fragen: Warum kam der Nationalsozialismus ausgerechnet in Deutschland an die Macht und nicht in den USA, Frankreich oder Großbritannien? Warum wurde der Krieg von Deutschland begonnen und nicht vom britischen Empire, der Sowjetunion oder dem faschistischen Italien? Mit Hilfe historisch-empirischer Fallstudien wollte der »Fight-for-Free­dom«-Kreis zunächst die größten Fehlurteile der britischen Öffentlichkeit über das Verhältnis von Nazis und Deutschen ausräumen. Die Bewohner des Gastlandes sollten über die Kontinuität eines aggressiven Nationalismus und einer undemokratischen politischen Kultur in Deutschland aufgeklärt werden. Sie sollten, wie Loeb 1941 in einem Memorandum erklärte, von der Idee abgebracht werden, »dass der Krieg auch ohne den Kampf bis zum Sieg gewonnen« werden könne: durch Waffenstillstandsverhandlungen, die Rücknahme der »Unconditional-Surrender«-Formel oder die Zusammenarbeit mit vermeintlich oppositionellen Kreisen innerhalb der NSDAP. Auch wenn sich die Mitglieder des »Fight-for-Freedom«-Kreises darum bemühten, herauszuarbeiten, dass es in der deutschen Geschichte ein nationalistisch-aggressives Kontinuum gibt, verstanden sie diese Geschichte im Unterschied zu Vansittart jedoch weder als Einbahnstraße, noch begriffen sie das »German Problem« als eine Wiederkehr des Immergleichen. (In späteren Veröffentlichungen war der Lord mit Aussagen über eine gerade Linie von Hermann dem Cherusker zu Adolf Hitler allerdings ebenfalls weitaus vorsichtiger als noch in seinen Radioansprachen; die Rückgriffe auf »the Dawn of History« in »Black Record« seien, wie er erklärte, vor allem Rhetorik gewesen.) Angesichts der Haltung des sozia­listischen Exils zur Atlantik-Charta, zur Frage der einseitigen und vollständigen Abrüstung Deutschlands sowie zum Verhältnis von Nazis und Deutschen sahen sich die Unterzeichner der Erklärung vom 2. März 1942, die im Ersten Weltkrieg bezeichnenderweise allesamt Gegner der sozialdemokratischen Burgfriedenspolitik und Parteigänger der USPD gewesen waren, durchweg auf ihr August-Erlebnis von 1914 zurückgeworfen: Manche Schriften der Verlags­gesellschaft betonten die »Straight Line«, so der Titel einer »Fight-for-Freedom«-Broschüre von Carl Herz, von Wilhelm II. zu Hitler darüber hinaus so stark, dass das qualitativ Neuartige des Nationalsozialismus verschwand – ähnlich den Alliierten, die auf ihren Propagandaplakaten regelmäßig gegen die längst entmachteten preußischen Pickelhauben-und-Monokel-Junker der Gründerzeit kämpften, fixierte ein Teil des Kreises seine Kritik gelegentlich auf das Fortwesen des »Prussian Spirit« in Deutschland. Im Unterschied zur Mehrheit des sozialistischen Exils, die mit dem Zweiten Weltkrieg, oder genauer: den alliierten Debatten über die bedingungslose Kapitulation, kurzerhand die Konstellation des Ersten Weltkrieges und der Versailler Vertragsverhandlungen wiederkehren sah, verstand die Gruppe um Geyer und Loeb die Gegenwart dennoch nicht einfach als Abziehbild der Vergangenheit. Der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus erschienen nicht einfach als Wiederholung des Großen Krieges von 1914/18. In den besten Texten Curt Geyers, Walter Loebs und Karl Retzlaws wurde die Kombination aus Burgfrieden und Generalmobilmachung des Ersten Weltkrieges vielmehr als Beginn des Durchbruchs einer neuen Gesellschaftsformation begriffen: nicht als schicksalhaftes Urereignis, wohl aber als Conditio sine qua non der Volksgemeinschaft. Insbesondere in den Arbeiten der Forschungsabteilung von »Fight for Freedom« wurde der traditionelle angelsäch­sische Historizismus Vansittarts materialistisch erweitert; dem Materialismus der Zweiten und Dritten Internationale, in dem Geschichte bestenfalls als Drapage der Produktivkräfte vorkam, wurde die historische Dimension hinzugefügt. Kurz: Die an den Diskussionen der deutschen Arbeiterbewegung geschulten Marxisten begannen, »mit den Augen des Westens zu sehen«.
Weder diese Verwestlichung noch der damit verbundene Abschied vom »anderen Deutschland« waren allerdings geradlinige Prozesse. Einige Publikationen aus dem »Fight-for-Free­dom«-Umfeld tendierten auch weiter dazu, eine Handvoll Industrieller als Hauptverantwort­liche des Nationalsozialismus anzuprangern. In den avanciertesten Texten des Kreises wurde ­jedoch der Versuch unternommen, das Verhältnis von Ökonomie, Politik und Gesellschaft neu zu bestimmen. So waren etwa die Untersuchungen, die Bernhard Menne, der Ökonom der Gruppe, in den dreißiger Jahren über die Firma Krupp veröffentlicht hatte, noch fest im traditionellen Basis-Überbau-Schema verankert: Der Kanonenkönig erschien, ähnlich wie in Walter Ulbrichts Kampfschrift »Die Legende vom ›deutschen Sozialismus‹«, die ab 1945 in hunderttausendfacher Auflage unter die Deutschen gebracht wurde, in vulgärmaterialistischer Manier als einer der Strippenzieher des Faschismus. Im Vorwort seiner »Fight-for-Freedom«-Broschüre über die German Industry on the Warpath von 1942 verabschiedete er sich schließlich von dieser Vorstellung. Menne begriff den Nationalsozialismus nicht mehr als Resultat einer »Verschwörung der Weisen von Essen«. Er versuchte ebenfalls nicht, der traditionellen Vorstellung eines »Primats der Ökonomie« kurzerhand einen »Primat der Politik« (Tim Mason) entgegenzusetzen. Menne begann in den frühen vierziger Jahren vielmehr, daran zu zweifeln, dass die Trennlinie zwischen der politischen und der ökonomischen Sphäre, die die Vordenker der Zweiten Internationale ebenso wie die Theoretiker des »Primats der Politik« behaupteten, in Deutschland überhaupt bestand. Die Eigenschaften des Staates, so konstatierte er 1942 mit Blick auf die deutsche Geschichte, »haben sich im Laufe der Jahre gewandelt, und es ist nicht immer einfach, zwischen den aktiven und passiven Elementen zu differenzieren«.
Während Menne weiterhin in den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie dachte, verabschiedete sich die Mehrheit seiner Mitstreiter nach und nach vom marxistischen Vokabular. Auch im Verlagsprogramm von »Fight for Freedom« trat die »Kapitalismuskritik deutschkonkret« (Bernhard Menne) zugunsten histo­rischer Fallstudien über die politische Kultur in Deutschland zurück. Die deutsche Arbeiterbewegung, die die Dissidenten bis zum Beginn der vierziger Jahre analog zum »Neu-Beginnen«-Mitglied Richard Löwenthal, dem großen Widersacher Walter Loebs im Exil, als ihre »Heimat« begriffen hatten, hatte sich vom positiven Bezugspunkt in die Warte verwandelt, von der aus sich die Negativität der deutschen Geschichte erschloss. Insbesondere Geyer und Loeb sprachen bald kaum noch vom Stand der Produktivkräfte oder vom letzten Gefecht zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Die Erfahrung des Nationalsozialismus auf der einen, des ­britischen Liberalismus auf der anderen Seite ließ das Individuum, das vor dem Zugriff geschichtsmächtiger Kollektive in Schutz genommen wurde, an die Stelle der Klasse und ihres Kampfes treten; die Rede vom Fall der Profitrate wurde ersetzt durch Reflexionen über die empirische Vermittlungsinstanz zwischen der Trias von Kapital, Geschichte und politischer Geographie: den Staat und seine jeweiligen politisch-kulturellen Traditionen. Auch wenn sich Geyer und Loeb angesichts des Nationalsozialismus somit vom marxoiden Jargon verabschiedeten, schien in ihren Texten doch zaghaft die Erkenntnis auf, dass es zwar überall dasselbe Kapitalverhältnis ist, das in die Krise gerät. Wie es in die Krise gerät, und wie die Krise »bewältigt« wird, hängt allerdings vom Krisenbewusstsein ab – und damit: vom Verhältnis des jeweiligen Staatsvolkes zu seinem Staat. Für deutsche Natio­nalisten, egal ob links oder rechts, so erklärte Geyer dementsprechend schon 1941 in einem Memorandum für die Labour Party, sei »›die Nation‹ zu etwas geworden, das sie niemals für die westlichen Länder gewesen ist – ein absolutes Gut«.
Dieser Abschied vom Klassenkampf- und Produktivkraftfetischismus der Arbeiterbewegung, der zugleich ein Abschied vom linken Zukunfts- und Fortschrittsoptimismus war, und die damit verbundene Überzeugung, dass den Deutschen alles zuzutrauen sei, sorgten schließlich dafür, dass der Geyer-Loeb-Kreis den ersten Gerüchten über die Ermordung der Juden mit weitaus geringerer Skepsis begegnete als die Mehrheit des sozialistischen Exils. Die Mitglieder der Gruppe waren zwar noch weit davon entfernt, den Nationalsozialismus durch den Antisemitismus oder gar durch den Vernichtungskrieg im Osten, der seit Ende 1941 im Exil gerüchteweise bekannt wurde, zu begreifen. Ihre diesbezüglichen Äußerungen hatten weder die Qualität der zeitgenössischen Reflexionen etwa Hannah Arendts, die den ersten Nachrichten über die Vernichtung der europäischen Juden zwar ebenfalls skeptisch gegenüberstand, den Moment, in dem sie Gewissheit hatte, allerdings mit der Öffnung eines Abgrunds verglich. Noch erreichten sie das Reflexionsniveau des nahezu vergessenen österreichischen Vansittartisten Dosio Koffler, der angesichts der Be­richte über die Ermordung der Juden schon 1943 Richard Wagners Antwort auf die Frage »Was ist deutsch?« bemühte: »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.« Die Ermordung der Juden lasse sich »auf keine zweckmäßigen Motive zurückführen«.

Vansittartitis
Vorwände und Einwändevon Dosio Koffler (1943)

Ebenso wie Vansittart ein begnadeter Stilist ist, ist es eine wahre Freude, ihm in seiner Deutung des Nibelungenliedes zu folgen und all den Verrat und die Grausamkeiten, die wir heute so gut kennen, mit der ganzen niederträchtigen Nibelungenhorde zu identifizieren. Und was für ein freudiges Hochgefühl ist es, wenn wir den Führer selbst erkennen, den Mann, der körperlich nicht in der Lage ist, einer Frau Freude zu spenden, und dafür einen verkleideten Stellvertreter einführt, der die Sache für ihn erledigt. All diese und andere Ausschmückungen, inklusive dem vielzitierten Tacitus-Ausspruch über die Deutschen, »Sie hassen den Frieden«, sind wertvoll und ergiebig, wenn sie als bloße literarische, polemische und satirische Ornamente betrachtet werden. Aber wenn Lord Vansittart beginnt, grundsätzliche politische Schlüsse aus ihnen zu ziehen, um eine moderne Nation zu verurteilen, die ein Gemisch aus allen möglichen Rassenüberbleibseln ist, wird es Zeit, Halt zu rufen. Wer immer das finstere und blutrünstige Nibelungenlied als ein Symbol des deutschen Nationalcharakters akzeptiert, ignoriert die Tatsache, dass ein Genie namens Walther von der Vogelweide zur gleichen Zeit in einem ganz anderen Ton sang, und dass auch er für einen Zug desselben Charakters steht.
Und es gibt noch einen anderen Punkt, der gewöhnlich übersehen zu werden scheint. Und zwar, dass die germanischen Stämme, die den Frieden angeblich hassen – und die billigerweise auch als die legitimen Vorfahren Lord Vansittarts, der Engländer und der Holländer betrachtet werden könnten –, in keiner wie auch immer gearteten rassischen Beziehung zu dem Teil des gegenwärtigen deutschen Staatskörpers stehen, der allgemein als die Wurzel allen Übels gilt, das heißt zu Preußen.
Es ist selbstverständlich absurd, dass Lord Vansittarts Gegner Nutzen aus seiner übertriebenen Interpretation historischer Legenden ziehen und ihm vorwerfen, Rassenideologie auf der Linie der Nazis zu propagieren. Ein solcher Vorwurf müsste selbst dann fehlschlagen, wenn Lord Vansittart nicht, wie er es zweifellos tut, regelmäßig erklären würde, dass er keine biologische Deutung der Geschichte betreibt, sondern lediglich anhand historischer Fakten zu zeigen versucht, dass die Deutschen im Gegensatz zu anderen Völkern, die den Zustand der Barbarei überwunden haben, hinter die gegenwärtige Stufe menschlicher Entwicklung zurückfallen. Der Angriff geht ebenfalls fehl, weil Lord Vansittart explizit ausführt, dass die Deutschen nicht seit Urzeiten von ihrer Natur oder ihrer Rasse her verflucht sind, sondern ihr gegenwärtiges niedriges Niveau, im Gegenteil, Resultat einer verbrecherischen Fehlerziehung ist: »Vielleicht hätten auch andere dieselben Dinge getan, wenn sie in der gleichen Weise erzogen worden wären. Die Tatsache ist allerdings, dass niemand anders so erzogen wurde.«
Es ist daher auch sinnlos, ihm vorzuwerfen, dass er die Rassendoktrin propagiere. Die »Tatsache ist allerdings«, dass er sich selbst widerspricht, wenn er die Deutschen einerseits zu Opfern falscher politischer Ideen erklärt, während er sie andererseits immer wieder auf der Grundlage ihrer Vorgeschichte verurteilt, die sie mit so vielen anderen Völkern teilen.
Seine Vorliebe für historische Ausschmückungen bringt ihn in einem anderen Fall dazu, auf die Judenpogrome zurückzugreifen, die die Deutschen im Mittelalter begangen haben, und zu fragen: »Beginnst Du, das gleiche Muster zu erkennen?« Wir beginnen selbstverständlich, das gleiche Muster zu erkennen, und wir sind ihm auch dankbar für seine Frage. Aber wir kommen trotzdem nicht umhin, uns zu fragen, ob irgendein anderes Volk in Sachen christlicher Nächstenliebe in der Zeit des Mittelalters den ersten Stein auf die Deutschen werfen sollte. Aber selbst wenn sie das moralische Recht dazu hätten – wer solche historischen Parallelen zieht, redet die modernen deutschen Verbrechen klein, indem er sie auf die Stufe von etwas Vergleichbarem stellt. Die Greuel, die heute begangen werden, haben kein »Äquivalent«, auch nicht in den verlassensten Epochen mensch­licher Schuld, und wer versucht, Metaphern aus der Tierwelt zu benutzen, um sie zu beschreiben, beleidigt das Tierreich. Wenn wir sie trotzdem manchmal verwenden, dann geschieht das nur, weil unsere Sprache noch nicht in der Lage ist, dem deutschen Phänomen volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In dieser Sache erklärte A.J. Cummings am 11. September 1942 im News Chronicle: »Es ist die schrecklichste Schilderung bestialischer Grausamkeit, die der menschliche Geist erfassen kann. Es gibt fast nichts Vergleichbares in der überlieferten Geschichte.«
Das sind die Worte eines Mannes, der zu jenen Kreisen gehört, die Lord Vansittart mit hysterischer Empörung anklagen, wenn er die Deutschen ebenfalls für ihre begangenen Greuel angreift. Und die Times schreibt: »In der Vergangenheit gab es Pogrome. Ein Pogrom mit einem solchen Ausmaß an kaltblütigem und kalkuliertem Schrecken kann in der Geschichte der Verfolgung mit nichts verglichen werden. Der Erzbischof von Canterbury hat es milde als die neue Barbarei bezeichnet. Es ist eine Barbarei, die sich aller Mittel und Ressourcen bedient, die die moderne Wissenschaft der Tyrannei zur Verfügung stellt.«
Lord Vansittart schwächt seine Verurteilung der gegenwärtigen Greuel ab, wenn er versucht, sie mit irgend etwas zu vergleichen, selbst mit den finstersten der finsteren Zeitalter menschlicher Geschichte. »Warum in die Ferne schweifen?«
Die Gegner Lord Vansittarts versuchen das größte Kapital aus seiner Aussage zu ziehen, dass die Deutschen von der »Gier nach Weltherrschaft« erfüllt seien – eine Aussage, die sie mit dem Ruf »Britischer Imperialismus!« niederbrüllen und so in einem Sturm des Gespöttes und billigen Gelächters untergehen lassen wollen. Welchen Sinn hat es, mit solchen Leuten histo­rische Argumente auszutauschen, die nicht von allein erkennen, wie ungeeignet es ist, den »britischen Imperialismus« zu beschwören, wenn nicht einmal die zahllosen Plünderungen und Mordtaten der alten Hunnen einen angemessenen Vergleich für die Taten der modernen Hunnen bieten?
Auch ich glaube jedoch, dass die Diagnose »Gier nach Weltherrschaft« keine angemessene Beschreibung der deutschen Krankheit ist, aber meine Begründung ist durchaus eine andere. Sicher, wenn es die Dummheit der anderen den Deutschen leicht genug macht, werden sie die Weltherrschaft auf ihrem Weg gern als eine Art nützliches Mittel zum Zweck übernehmen. Aber der Zweck selbst ist das Verbrechen um des Verbrechens willen, der Sadismus um des Sadismus willen, der Kannibalismus, der sich »aller Mittel und Ressourcen der modernen Wissenschaft bedient«, um des bloßen Kannibalismus willen – so wie es etwa in der Abschlachtung der Juden deutlich wird, die sich auf keine zweckmäßigen Motive zurückführen lässt. Die Deutschen sind, das sollte nicht vergessen werden, Idealisten oder, wie der gute alte Hindenburg gern sagte: »Deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.« (1)

Aus: Dosio Koffler: Vansittartitis. A Polemic, London [1943]. Der hier abgedruckte Text gibt einen Teil des dritten Kapitels wieder: »Pretexts and Objections« (S. 39-42). Aus dem Englischen rückübersetzt von Jan Gerber und Anja Worm

(1) Dieser Ausspruch geht ursprünglich auf Richard Wagner zurück (Richard Wagner: Deutsche Kunst und Deutsche Politik. Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 8, Leipzig 1888, S. 96 f.). Dort heißt es wörtlich: »Hier kam es zum Bewusstsein und erhielt seinen bestimmten Ausdruck, was Deutsch sei, nämlich: Die Sache, die man treibt, um ihrer selbst und der Freude an ihr willen treiben, wogegen das Nützlichkeitswesen, d.h. das Prinzip, nach welchem eine Sache des außerhalb liegenden persönlichen Zweckes wegen betrieben wird, sich als undeutsch herausstellte.«

»Ohne sein Werk hätte der Krieg mindestens ein Jahr länger gedauert«
Zur Strategie von Bomber-Harrisvon Bernhard Menne (1945)

Die Erfolge der Schlussphase des alliierten Luftkrieges, der Präzisionsphase, sind zu überwäl­tigend, als dass die Kritik sich an sie heranwagen könnte. (1) Dafür haben die Kreise, denen der Gedanke eines Bombenkrieges gegen Deutschland an sich nicht gefiel, sich die vorhergehende Periode des alliierten Luftkrieges für ihre Kritik ausgesucht. Es ist dies die Periode, für die Bomber-Harris die alleinige Verantwortung trägt, weil sie in die Jahre fällt, in denen eine amerikanische Luftflotte erst in den Blueprints schlummerte.
Diese Periode, die etwa die Jahre 1942 und 1943 umfasst, ist die Periode des »Area Bombing«, des Bombardements von Städten und industriellen Distrikten. Diese besondere Art von Bombardement war eine Übergangslösung, die jener Zeit entsprach, in der England zwar bereits über eine große Bomberflotte verfügte, in der aber die Technik des Auffindens von Bomberzielen etwa bei schlechtem Wetter oder bei Nacht noch in den Kinderschuhen steckte. Bomber-Harris entschied sich für einen allgemeinen Angriff gegen fünfzig deutsche Städte, die als Konzentrationspunkte wichtiger Industrien bekannt waren. Bereits im Frühjahr 1942 kam es zu den ersten »1 000-Flugzeug-Angriffen« auf Köln und Essen, und bis zum Sommer 1943 steigerten sich die Angriffe, wenn schon nicht an Umfang, so doch an Gewicht der dabei abgeworfenen Bomben.
Es ist diese Periode des Bombardements deutscher Städte, bei der die Gegner von Harris mit ihrer Kritik einsetzen. Sie werfen ihm, auf eine Formel gebracht, vor, dass er »Frauen und Kinder tötete und die Fabriken verfehlte«. Diese Kritik ist nicht ganz unbeeinflusst von der Goeb­belspropaganda, die sich auf die Person von Harris konzentrierte und den Chef des britischen Bomber Command als eine Art sadis­tischen Massenmörder hinstellte.
Das Material, das Minister Strachey in seiner Rede erwähnte (2), gibt nun auf die Anklagen in Bezug auf Harris eine hochinteressante Antwort. Es besagt nicht mehr und nicht weniger, als dass beide Teile der oben erwähnten Behauptung falsch sind. Es stellt sich nämlich jetzt heraus, dass die deutschen Frauen und Kinder trotz des Harrisschen Bombenregens am Leben geblieben sind, dass die industrielle Aktivität der deutschen Städte hingegen einen schweren Schlag versetzt bekam, der für die nächste Bombardementperiode von allergrößter Bedeutung wurde.
Was die Zahl der durch alliierte Bomben getöteten deutschen Zivilisten anbelangt, liegt bereits eine offizielle Mitteilung vor, die merkwürdigerweise kaum beachtet wurde. In einer schriftlichen Antwort an Captain Cammans teilte Premierminister Attlee am 22. Oktober 1945 im Unterhaus mit, dass die Gesamtziffer getöteter deutscher Zivilisten 350 000 betrage. Auf die deutsche Gesamtbevölkerung (in den Grenzen von 1937) berechnet, sind das 0,52 Prozent. Großbritannien verlor während der viel kürzeren Zeit seiner Bombardements genau 60 000 Zivilisten oder 0,13 Prozent seiner Bevölkerung. Für die schon erwähnten fünfzig deutschen Städte, die das Hauptziel der Harrisschen Offensive waren, beträgt die Ziffer der Getöteten im Durchschnitt weniger als ein Prozent. Die drei Ausnahmen von dieser Regel sind Hamburg, Dresden und Kassel, aber in allen drei Fällen haben alliierte Studienkommissionen seither ein sträfliches Versagen der deutschen Luftschutzmaßnahmen feststellen können.
Als ebenso falsch hat sich die Behauptung erwiesen, dass diese Phase des alliierten Bombardements die Fabriken verfehlt habe. Genaue Untersuchungen haben ergeben, dass wichtige deutsche Industrien während der Jahre 1942 und 1943 Produktionsausfälle bis zu drei Monaten hatten, die auf das Bombardement der Städte zurückzuführen sind. Der wichtigste Punkt aber ist, dass der hohe Prozentsatz zerstörter Häuser (in den größeren Städten im Durchschnitt etwa 60 Prozent) sich in der nächsten Angriffsphase als unerhört wichtig erwies. Als nämlich die Kugellager-, Flugzeug- und Ölfabriken bombardiert wurden und die deutschen Industrieführer sich verzweifelt nach Möglichkeiten für eine Produktionsverlagerung um­sahen, da fehlten ihnen die notwendigen Gebäude! Der Konstrukteur der gefährlichen ME 262, die bei der Massenproduktion in der letzten Phase des Krieges Deutschland hätte wertvolle Entlastung bringen können, hat ausdrücklich ausgesagt, dass eine solche Massenproduktion an der vorausgegangenen Zerstörung deutscher Häuser gescheitert sei.
So gesehen, bekommt die Offensive von Bomber-Harris gegen deutsche Städte doch ein anderes Gesicht. Beide Teile der alliierten Bomber­offensive erweisen sich nunmehr als zusammengehörig. Beide sind Teile eines »Masterplans«. Künftige Historiker werden in der Konzeption, die der alliierten Bomberoffensive zugrunde lag, zweifellos eine strategische Meisterleistung sehen. Es war der erste Versuch einer großen strategischen »Unfassungsbewegung« aus der dritten Dimension, ein Cannae aus der Luft!
Bomber-Harris war das erste Opfer eines nachträglich schlechten Gewissens der alliierten Völker über die notwendigen und unvermeid­lichen Härten des gewiss grausamen Luftkrieges. Das Material, von dem Minister Strachey sprach, wird beweisen, dass Bomber-Harris nichts tat, was über das vermeidbare Maß von Härte hinausging. Ohne sein Werk hätte der Krieg mindestens ein Jahr länger gedauert und mindestens das Leben einer Million alliierter Soldaten gekostet. Auch dann hätte es zerstörte Städte gegeben, aber es wären französische, italienische, holländische und belgische Städte gewesen, in denen sich die dann unerschütterte Armee des Dritten Reiches festgesetzt hätte.

Unvollständiges Manuskript aus dem Nachlass von Bernhard Menne im Bundesarchiv (BA) Koblenz (Signatur: BA, N 1218, Bd. XI).

(1) Dieser Text sollte vermutlich der Intervention in die Nachkriegs-Debatten um den Luftkrieg gegen Deutschland und Luftmarschall Arthur Harris (»Bomber-Harris«), den Oberkommandierenden des Bomber Command der Royal Air Force, dienen. Nach der Ablösung des Kriegskabinetts Churchill durch die Labour-Regierung unter Clement Attlee im Juli 1945 geriet Harris zunehmend in die Kritik. Ihm wurde neben dem Area-Bombing auf deutsche Städte auch vorgeworfen, dass die Einsätze auch für die Bomberbesatzungen sehr verlustreich waren: Nur ­jeder Zweite kehrte zurück. Harris wurde schließlich weder auf der Victory Honours List genannt noch – wie fast alle anderen hohen britischen Offiziere des Zweiten Weltkriegs – in den Adelsstand erhoben. Als Resultat dieser Debatten reichte der Marschall im September 1945 seinen Rücktritt ein und zog sich nach Südafrika zurück. Vgl. etwa Henry Probert: Bomber Harris. His Life and Times, London 2001, S. 347 ff.

(2) Der Labour-Politiker John Strachey (1901–1963) war im Zweiten Weltkrieg Presseoffizier der Royal Air Force und später Pressesprecher im Luftfahrtministerium. Für Stracheys Versetzung war in erster Linie Harris verantwortlich, der ihm misstraute. Im Kabinett Attlee war Strachey zunächst Unterstaatssekretär im Luftfahrtministerium. Er war die federführende Kraft hinter der Kampagne gegen Harris und setzte sich in Reden, Memoranden und wohl auch mit den Mitteln der Geheimdiplomatie vehement dafür ein, dass Harris nicht in den Adelsstand erhoben und nicht auf der Victory Honours List erwähnt wurde. Vgl. ebd.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Jan Gerber/Anja Worm (Hrsg.): Fight for Freedom. Die Legende vom anderen Deutschland. Ca-ira-Verlag, Freiburg 2009, 255 Seiten, 18 Euro.