Der DFB und der »Fall Amerell«

Männerbund der Unparteiischen

Der »Fall Amerell« wirft ein grelles Schlaglicht auf die autokratische Verfasstheit des DFB. Auch dessen Präsident ist eher Teil des Problems als Teil der Lösung.

Was ist Manfred Amerell denn nun, der bis vor kurzem Mitglied des DFB-Schiedsrichterausschusses war? Einer, der seine Pflichten verletzt, seine Macht missbraucht und mehrere Schiedsrichter sexuell belästigt hat, wie DFB-Präsident Theo Zwanziger behauptet? Oder ein Opfer übler Nachrede, dem weder Akteneinsicht gewährt noch die Gelegenheit gegeben wird, sich zu den Vorwürfen zu äußern, wie Amerell selbst meint? Und was sagt die ganze Angelegenheit eigentlich über den Deutschen Fußball-Bund aus, den weltweit größten Sportverband?
Es ist nicht leicht, sich in dem Dickicht aus Halbinformationen, Andeutungen, Spekulationen und Gerüchten zurechtzufinden. Unstrittig ist, dass sich der Bundesligaschiedsrichter Michael Kempter (27) am 17. Dezember 2009 an den Vorsitzenden des DFB-Schiedsrichterausschusses, Volker Roth, wandte und ihm mitteilte, er sei von Amerell sexuell bedrängt worden. Roth setzte Zwanziger jedoch erst rund vier Wochen später davon in Kenntnis – und den für die Unparteiischen zuständigen DFB-Vizepräsidenten Rainer Koch gar nicht. Koch empfand das als Vertrauensbruch und gab deshalb seine Zuständigkeit für die Schiedsrichter am 9. Februar ab. Zuvor hatte Manfred Amerell sich bereits, offiziell »aus gesundheitlichen Gründen«, vorübergehend von seinen Tätigkeiten im Ausschuss entbinden lassen.
Doch allmählich drang an die Öffentlichkeit, dass dem 62jährigen in Wahrheit die sexuelle Belästigung Kempters zur Last gelegt wird. Der Beschuldigte wies den Vorwurf vehement von sich und trat endgültig von seinen Ämtern zurück. Unterdessen leitete der DFB interne Ermittlungen gegen Amerell ein und schloss sie, ohne ihm die Gelegenheit zu einer Stellungnahme geboten zu haben, nach nur einer Woche ab. Das Ergebnis wurde in einer Presseerklärung bekannt gemacht, in der es unter anderem hieß: »Unabhängig voneinander haben mehrere Personen in den Anhörungen zu Protokoll gegeben, von Herrn Amerell in der Vergangenheit bedrängt und/oder belästigt worden zu sein. Dass die Betroffenen diese Übergriffe so lange Zeit nicht gemeldet haben, begründeten sie übereinstimmend mit der latent vorhandenen Angst vor privaten oder beruflichen Nachteilen, die sich vor allem auf die weitere Entwicklung ihrer Laufbahn als Schiedsrichter bezogen. In der Summe aller vorliegenden Erkenntnisse steht aus Sicht des DFB fest, dass Herr Amerell seine Pflichten als Mitglied des Schiedsrichterausschusses klar verletzt hat.«
All dies wirft ein grelles Schlaglicht auf die Verfasstheit des DFB, die autokratisch und auto­ritär zu nennen noch eine vorsichtige Beschreibung wäre. Deutlich wird das nicht zuletzt an Manfred Amerell selbst. Jahrelang hat er ein System geprägt und getragen, das sich nun gegen ihn wendet. Über die Einteilung und Beobachtung von Schiedsrichtern beispielsweise hatte er – mit Billigung durch den Schiedsrichterausschuss und dessen Vorsitzenden Volker Roth – die Möglichkeit, deren sportlichen Werdegang und damit auch ihre Verdienstmöglichkeiten zu steuern, was auch heißt, sie wahlweise besonders protegieren oder in der Bedeutungs­losigkeit verschwinden lassen zu können. Die Kriterien dafür waren nur bedingt transparent. So bekamen einzelne Unparteiische zwar die Punktzahlen aus ihren von Amerell vorgenommenen Beurteilungen mitgeteilt, nicht jedoch die obligatorische schriftliche Begründung für deren Zustandekommen. Ein Widerspruch da­gegen war allenfalls theoretisch möglich und barg zudem die Gefahr künftiger Nachteile.
Anderen wiederum ließ der Hotelbesitzer ganz besondere Aufmerksamkeit angedeihen. So wird überliefert, dass ein Zweitligaschiedsrichter in einer Saison in jedem seiner Spiele, die er im Unterhaus leitete, von Amerell beobachtet und bewertet wurde – und schließlich in die Eliteklasse aufstieg. Üblich ist sonst, dass ein Schiedsrichter im Laufe einer Saison von verschiedenen Beobachtern unter die Lupe genommen wird. Auch Michael Kempter, der 2006 mit gerade einmal 23 Jahren zum jüngsten Bundesligaschiedsrichter aller Zeiten wurde, wäre ohne Amerells außergewöhnlich starke Protektion kaum in einem derart atemraubenden Tempo in der höchsten deutschen Spielklasse gelandet. Solche Strukturen bringen zwangsläu­fig Abhängigkeiten und ein extremes Machtgefälle hervor, sie produzieren Profiteure und Benachteiligte und sie schaffen ein geschlossenes, repressives System, aus dem es kaum einen Ausweg gibt.
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Manfred Amerell nun das Fehlen jener demokratischen Selbstverständlichkeiten beklagt, die er selbst nicht gewähren mochte. Zugleich wirft das Krisenmanagement des DFB etliche Fragen auf: Warum wird das undurchsichtige Tun des Schiedsrichterausschusses erst jetzt zum Problem? Weshalb hält man es für verzichtbar, den Beschuldigten anzuhören und ihm gegenüber die Vorwürfe zu präzisieren? Woher kommt die plötzliche Hektik bei der Aufklärung eines Vorfalls, dessen Behandlung zuvor wochenlang verschleppt wurde? Und wieso lässt der Verband gegenüber dem Vorsitzenden des Schiedsrichterausschusses trotz dessen offenkundiger Verfehlungen eine derartige Milde walten?
Dass Amerell die Einsicht in die Aussageprotokolle der befragten Schiedsrichter verweigert wird, begründet der DFB damit, dass die Zeugen geschützt werden müssten. Nach Ansicht von DFB-Präsident Zwanziger liegt zudem längst ein Schuldeingeständnis vor: »Ein Mann, der das Schiedsrichterwesen so liebt wie Amerell – glauben Sie, der tritt zurück, wenn er der Überzeugung ist, dass überhaupt nichts passiert ist, was man ihm anlasten kann?« Zwar will der Verband dieses Schiedsrichterwesen nun reformieren und so gestalten, dass ein »Fehlverhalten Einzelner nicht systematisch unter den Teppich gekehrt werden kann«. Trotzdem ist der Eindruck nicht abwegig, dass Amerell letztlich ein Bauernopfer ist, mit dem sich der männerbündlerische DFB unangenehmen Nachfragen und weitergehenden Konsequenzen zu entziehen versucht – Konsequenzen, die auch Theo Zwanziger selbst betreffen könnten. Schließlich hat er den Schiedsrichterausschuss jahrelang gewähren lassen.
Auch Zwanzigers Image als Vorkämpfer gegen die Homophobie im Fußball dürfte Schaden genommen haben. Denn es wirkte merkwürdig defensiv, wie er sich zu der offenkundigen Tat­sache äußerte, dass es auch schwule Schiedsrichter und schwule Funktionäre gibt. »Wir wollen nicht, dass sexuelle Orientierung diskriminiert wird«, sagte der DFB-Präsident – um anschließend zu betonen, es sei unzulässig, »die betroffenen Personen in den Kontext der Homosexualität zu stellen«. Ohnehin gehe es vor allem darum, dass Amerell ein Abhängigkeitsverhältnis geschaffen und ausgenutzt habe. Wenn das ein Versuch war, homophobe Tiraden von der Tribüne oder auf dem Feld bei Kempters künftigen Einsätzen zu verhindern, dann ist er grandios gescheitert.
Man darf nun gespannt sein, wie weitgehend die angekündigten Reformen tatsächlich ausfallen werden. Im Oktober endet die Amtszeit von Volker Roth; Favorit für seine Nachfolge ist der ehemalige Fifa-Schiedsrichter Herbert Fandel. Der hat bereits angekündigt, es werde »ein frischer, moderner Wind durch das Schiedsrichterwesen wehen. Wir stellen um auf Teamarbeit.« Amerells Anwalt will derweil vor ein ordentliches Gericht ziehen. Abgeschlossen ist die Causa also noch lange nicht.