Fabrizio Gatti im Gespräch über seine Reise mit afrikanischen Migranten auf einer Transitroute nach Europa

»Der ideale Arbeiter ist der, der keine Rechte hat«

Fabrizio Gatti ist Chefreporter des italienischen Nachrichtenmagazins L’Espresso. Für eine seiner Reportagen reiste er mit afrikanischen Auswanderern auf einer der berüchtigten Transitrouten von Afrika nach Europa. Die Jungle World sprach mit ihm über seine Erfahrungen auf der afrikanischen Wüstenstrecke und die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die die Migranten in Italien erwarten. Die Übersetzung seines Reiseberichts »Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa« ist im Januar im Kunstmann-Verlag erschienen.

Sie sind gemeinsam mit afrikanischen Migranten von Afrika nach Europa gereist. Warum haben Sie das getan?

Ich empfand das als meine berufliche Pflicht. Jahrelang suchte ich nach Migranten, die zum Interview bereit waren, denn ich wusste ja, dass die afrikanischen Einwanderer eine sehr harte Reise hinter sich hatten. Doch wer Gewalt, Erniedrigung und Missbrauch erfährt, mag später oft nicht gerne darüber sprechen. Ich aber musste die Menschen nach ihren intimsten Erlebnissen ausfragen, um öffentlich anklagen zu können, was auf den Transitrouten nach Europa passiert. Als Journalist war ich in gewisser Weise in der Position eines Voyeurs, und das hatte ich satt.

Die Transitroute durch die Sahara ist lebensgefährlich.

Was ich aus der Ténéré berichte, ist erschreckend, aber ich war in der glücklichen Lage, mich auf meinen Ausweis verlassen zu können. Der italienische Reisepass besteht aus zwei Pappdeckeln mit 32 Seiten dazwischen, er war für mich so etwas wie ein fliegender Teppich. Mir wurde bewusst, dass ein Immigrant, der als Illegaler auf einer Baustelle in Europa arbeitet, mehr riskiert als jemand, der mit einem europäischen Pass diese Reise macht. Wer auf der Transitroute wirklich sein Leben riskierte, waren meine afrikanischen Reisegefährten, die keinen Reisepass hatten, der einem solche Vorteile gewährt.

Obwohl Sie die Gefahren, denen Ihre Mitreisenden ausgesetzt waren, detailliert beschreiben, erscheinen die Migranten nicht primär als Opfer. Inwiefern hat die gemeinsame Reise Ihren Blick auf die afrikanischen Migranten verändert?

Das Bild, das wir in Europa haben, ist verzerrt. Hier liest man immer von der »Reise der Verzweifelten«. In Wirklichkeit ist derjenige, der aufbricht, überhaupt nicht verzweifelt, im Gegenteil, er verkörpert die Hoffnung, andernfalls würde er diesen Weg nicht auf sich nehmen und auch die vielen schrecklichen Prüfungen nicht bestehen, die die Reise ihm abverlangt. Die Auswanderer nehmen sich die größte Freiheit, die ein Mensch hat, sie entscheiden sich dafür, eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse anzustreben. Ich wollte den Menschen, die die xenophobe Propaganda in Europa total entpersonalisiert hat, eine Identität zurückgeben. Wenn ein Flüchtlingsboot untergeht, heißt es, 200 clandestini sind umgekommen, aber die clandestini haben einen Namen, ein bestimmtes Alter, eine Geschichte. Die Entpersonalisierung der Migranten leitet einen Prozess der Enthumanisierung ein, der es schließlich möglich macht, ihr Schicksal in die Hände grausamer Diktatoren zu legen. So entstanden etwa die Rückführungsabkommen zwischen Italien und Libyen.

Sie bekamen kein Transitvisum für Libyen, blieben aber in Kontakt zu zwei Liberianern, die in E-Mails von den Misshandlungen berichten, denen afrikanische Migranten dort ausgesetzt sind. Obwohl diese Zustände seit Jahren bekannt sind, hält Italien an »Rückführungen« nach Libyen fest.

Der libysche Staatschef Muhammar al-Gaddafi benutzt die Migranten als politisches Druckmittel, um das Embargo gegen Libyen zu brechen. Und Europa – nicht nur Italien – benutzt dies wiederum, um über Investitionen in die libysche Erdöl-und Erdgasindustrie zu verhandeln. Man kann das Realpolitik nennen, aber es geht hier nicht um Rohstoffpreise, sondern um das Leben von Tausenden von Personen. Die Europäer sagen: Ich investiere, aber dafür schicke ich dir die Flüchtlinge zurück. Gaddafi akzeptiert die »Rückführungen«, er setzt die Migranten in der Wüste aus und lässt sie dort sterben. Niemand tut etwas dagegen. Das sind Pogrome gegen Afrikaner, für die Europa die Mitverantwortung trägt.

Die Abwehrpolitik im Mittelmeer wird von den europäischen Regierungen oft als nun mal notwendiger Kampf gegen Schlepperorganisationen propagiert.

Dieses Theorem bringt die Scheinheiligkeit Europas zum Ausdruck, auf ihm basiert die Immigrationspolitik der meisten europäischen Länder. Das italienische Einwanderungsgesetz verlangt, dass jemand, der in Ägypten oder in Westafrika aufwächst und nach Europa auswandern möchte, bei der italienischen Botschaft seines Heimatlandes vorstellig wird und entweder auf einen der wenigen Quotenplätze für die legale Einreise wartet oder aber einen Einstellungsbrief seines zukünftigen Arbeitgebers vorweisen kann. Der legalen Einreise werden so viele Hindernisse in den Weg gelegt, dass für die Migranten die sogenannte illegale Einreise die einzige Möglichkeit ist.

Als kurdischer Schiffbrüchiger Bilal landeten Sie schließlich auf Lampedusa. Dieses Kapitel schreiben Sie nicht in der ersten Person, sondern aus der Sicht des Fremden, der zum ersten Mal in Europa ankommt. Warum? Weil sich die schockierenden Erfahrungen im Aufnahmelager leichter in der dritten Person schildern ließen?

Das grüne Tor des Lagers von Lampedusa markierte eine Grenze. Als Gestrandeter war ich noch eine Person, der man erste Hilfe geleistet hat. Aber als ich das Tor passiert hatte, war ich zum clandestino geworden. Dieses Tor war die Grenze zwischen der demokratischen Ordnung, an der wir uns in Europa orientieren wollen, und der totalen Entrechtung, die den Menschen widerfährt, die dort eingesperrt werden.
Eines Abends hörte ich, als ich in einem der überfüllten Schlafsäle auf einer der Pritschen lag, aus einem Radio der Wachleute Pink Floyds »Wish you were here«. In diesem Songtext gibt es eine Reihe von Fragen, und mir war, als wären sie hier auf Lampedusa direkt an mich, den europäischen Staatsbürger, gerichtet. Etwa heißt es in dem Stück: »Bist du sicher, dass du das Paradies von der Hölle unterscheiden kannst?«

Ihr Bericht löste große moralische Empörung aus. Politische Konsequenzen scheint Ihr Buch allerdings nicht zu haben.

Mir ist klar, dass ich selbst Teil der europäischen Scheinheiligkeit bin. Es besteht die Gefahr, dass ich als Alibi benutzt werde, nach dem Motto: Schaut, wie frei und demokratisch wir sind, wir erlauben unseren Journalisten, unsere Politik offen und schonungslos zu kritisieren. Ich bin weder ein Extremist noch ein politischer Aktivist, ich bin Journalist, ein Zeitzeuge. Ich denke, man muss die europäischen Politiker zwingen, zu ihren Taten zu stehen. Wenn sie diese Politik weiter betreiben wollen, dann sollten sie auch den Mut haben, im Europäischen Parlament die Abschaffung der europäischen Menschenrechtskonvention zu fordern, anstatt zu behaupten, ihre Immigrationspolitik bekämpfe die Schlepperorganisationen. Die bekämpft man nicht dadurch, dass man die Immigranten nach Libyen zurückschickt, sondern indem man Einreisemöglichkeiten schafft, die der immensen Nachfrage nach Arbeitskräften angemessen sind.

Sind illegalisierte migrantische Arbeitskräfte in Italien so gefragt?

Circa 23 Prozent des italienischen Bruttoinlandsprodukts werden in der sogenannten Schattenwirtschaft produziert, die durch Korruption, Steuerhinterziehung, mafiöse Unterwanderung und massive Ausbeutung gekennzeichnet ist. Der ideale Arbeiter ist für knapp ein Viertel der italienischen Wirtschaft demnach derjenige, der keinerlei Rechte hat, der jederzeit erpressbar ist. Wer die Migrationsbewegungen kontrollieren will, muss auch kontrollieren, ob die Wirtschaft nach legalen Maßstäben funktioniert. Da die Mitte-Rechts-Regierung darauf verzichtet, schafft sie ein Ungleichgewicht: Aufgrund der verschärften Grenzkontrollen erhöht sich für die Migranten das Risiko und der Transitpreis, während die Unternehmer weiterhin rechtlose, illegalisierte Arbeitskräfte ausbeuten können. Genau das ist das Ziel der italienischen Immigrationsgesetze.

Anfang des Jahres offenbarte eine Revolte afrikanischer Migranten in der kalabrischen Kleinstadt Rosarno die sklavenähnlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen in der süditalienischen Landwirtschaft. Seit Jahren gibt es auf diesem Sektor keine Verbesserungen. Wird die Sklavenarbeit als Normalzustand akzeptiert?

Die Agrarindustrie Süditaliens wird von Mafia-Organisationen beherrscht. Viele sind Komplizen dieser Gewaltordnung, andere schweigen aus Angst, denn wer sich ihrem System widersetzt, lebt gefährlich. Die Mafia-Organisationen bedienen sich zunächst der politisch-wirtschaftlichen Gepflogenheiten. Nach der Deregulierung der letzten Jahre bedeutet das: freie Marktwirtschaft in Reinkultur. Man lässt die Arbeitskräfte nur illegal einreisen, beutet sie aus und will sonst nichts mit ihnen zu tun haben. Wenn ihre Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird, sollen sie verschwinden. Wenn der Staat sie nicht schnell genug abschiebt, vertreiben sie die Mafia-Organisationen auf ihre Art: mit Gewalt.

In Rosarno wurden die »Illegalen« nicht einfach vertrieben, dort wurde ganz gezielt eine Jagd auf den »schwarzen Mann« veranstaltet.

Es ging um einen gezielten Austausch: Man wollte die Afrikaner durch rumänische und bulgarische Arbeiter ersetzen. Die dreitägige Hetzjagd auf die Migranten erinnerte an Szenen aus dem Film »Mississippi Burning«. Das Schlimme ist, dass die Regierung die Migranten für die »Unruhen« verantwortlich machte, anstatt das System der kalabrischen ’Ndrangheta. Die Handlungsweise des Innenministers Roberto Maroni ist eine Schande: Er gab schließlich den Verletzten aus »humanitären Gründen« eine Aufenthaltsgenehmigung. Wer dagegen das Pech hatte, nicht verletzt worden zu sein, blieb »illegal«.

Die Revolten afrikanischer Arbeiter gegen dieses Ausbeutungssystem häufen sich. Hat Italien den Kampf gegen die Mafia-Organisationen den Migranten überlassen?

Es wäre dramatisch, würde Italien diesen Kampf Leuten überlassen, die eben erst in unserem Land angekommen sind und eine gesellschaftliche Minderheit bilden. Es gab zwei große Revolten, aber zu welchem Preis? In der Nähe von Neapel wurden vor zwei Jahren sechs Afrikaner erschossen, in Rosarno geriet im Januar die gesamte afrikanische Community in die Schusslinie der Mafia. Es kommt zu diesen verzweifelten Revolten, weil jede zivilgesellschaftliche Vermittlung fehlt. Natürlich gibt es einzelne Initiativen. Aber das sind Ausnahmen, die das System bestätigen.