Jürgen Rüttgers und die Probleme der CDU vor der NRW-Wahl

Der Landeskümmerer

Die Erfolge von Jürgen Rüttgers basierten auf einer cleveren Imagepolitik seines Teams. Mit taktischem Geschick soll es nun die CDU in Nordrhein-Westfalen aus dem Umfragetief nach der Sponsoring-Affäre holen.

Es klang fast wie eine Verabschiedungsrede. »Mir ist heute in dieser Debatte eins wichtig«, sagte Karl-Josef Laumann am vorigen Mittwoch im Düsseldorfer Landtag, »dass ich in der Politik bis jetzt noch keinen Menschen kennengelernt habe, der so gradlinig und bescheiden als Politiker in Deutschland auftritt wie Jürgen Rüttgers.« Der sei einer, der »seine politische Arbeit als eine dienende Funktion für unser Land und für die Menschen begreift«, fügte der nordrhein-westfälische Landesarbeitsminister mit getragener Stimme hinzu. Auch die Opposition spüre doch, »dass der Ministerpräsident in diesen Jahren durch seine Arbeit einen riesigen Beitrag geleistet hat, die Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen zusammenzuhalten«. Wer solch öffentlicher Ehrerbietung bedarf, dem muss es ziemlich schlecht gehen. Jürgen Rüttgers geht es ziemlich schlecht.
Noch bis vor kurzem galt die Landtagswahl am 9. Mai als reine Formsache für den 58jährigen Christdemokraten. Über viereinhalb Jahre lag seine schwarz-gelbe Landesregierung in allen Umfragen unangefochten vorne. Jetzt muss Rüttgers zittern. Wenn er Pech hat, ist Helmut Kohls einstiger »Zukunftsminister« in zwei Monaten Vergangenheit. Litten unter dem schlechten Erscheinungsbild der schwarz-gelben Koalition in Berlin zunächst die Umfragewerte für die FDP, haben nun hausgemachte Affären auch ihm und seiner Partei einen Einbruch beschert. Nach einer aktuellen Umfrage von Infratest dimap liegt die CDU mit 35 Prozent nur noch knapp vor der SPD – und rund zehn Prozent unter ihrem Wahlergebnis von vor fünf Jahren, als sie den Sozialdemokraten nach 39 Jahren die Vorherrschaft im bevölkerungsreichsten Bundesland entreißen konnte. Für Schwarz-Gelb würde es derzeit nicht reichen, sogar eine Mehrheit für ein rot-grünes Bündnis ohne die Linkspartei scheint nicht mehr ausgeschlossen.

Rüttgers droht Opfer seines eigenen miesen Spiels zu werden. Während er selbst den fürsorglichen Landesvater gab, kümmerte sich ein Kreis ihm treuer Jungkarrieristen um die weniger strahlende Seite der Machtsicherung. Politik ist ein schmutziges Geschäft, bei dem man sich eben auch die Hände dreckig machen muss, lautete das Credo dieser konservativen Boygroup um CDU-Landesgeneralsekretär Hendrik Wüst und Boris Berger, den Abteilungsleiter für Regierungsplanung in der Staatskanzlei. Insbesondere im Umgang mit SPD-Frontfrau Hannelore Kraft zeigte sich Rüttgers Schmutztruppe nicht zimperlich. Sie überzogen Kraft mit einer unappetitlichen Kampagne, die in ihrer intellektuellen Schlichtheit an Parolen aus Zeiten des Kalten Kriegs erinnerte. Jedes Mittel gegen »Kraftilanti« schien erlaubt, um ihre persönliche Integrität in Zweifel zu ziehen. In den Worten Bergers: »Das geschieht der Alten recht. Immer auf die Omme.«
Nicht nur bei der Bekämpfung des politischen Gegners kannten die fidelen Mittdreißiger wenig Skrupel. Ebenso unbekümmert bemühten sie sich um die Vermehrung ihres eigenen und des Parteivermögens. Zuerst flog im Dezember 2009 auf, dass Generalsekretär Wüst monatelang gleichzeitig von der CDU als auch vom Landtag Zuschüsse für seine private Krankenversicherung kassiert hatte. Dann kam im vergangenen Monat heraus, dass die NRW-CDU potentiellen Sponsoren für 20 000 Euro ein sogenanntes Partnerpaket für den Landesparteitag angeboten hatte – »Einzelgespräche mit dem Ministerpräsidenten und den Minister/innen« inbegriffen. »Rent a Rüttgers«, höhnten Opposition und Medien über diese eigentümliche Geschäftsidee, spendablen Sponsoren den Zugang zu Regierungsmitgliedern zu offerieren. »Wir in Nordrhein-Bezahlen«, wandelten Comedians ein altes Motto des frü­heren SPD-Ministerpräsidenten Johannes Rau spöttisch ab.
Seit der Sponsoring-Affäre hat Rüttgers ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Nach Umfragen wollen ihm 80 Prozent der Bundesbürger einfach nicht abnehmen, dass er von allem nie etwas gewusst habe. Die Folge: Mittlerweile liegt Rüttgers’ blasse SPD-Herausforderin Kraft in den persönlichen Popularitätswerten fast gleichauf mit ihm. Krisenmanagement ist angesagt. Der 34jährige Haudrauf Wüst musste dem bisherigen Landesmedienminister Andreas Krautscheid weichen, der als solider gilt; Boris Berger wurde als Feuerlöscher von der Staatskanzlei in die Parteizentrale abkommandiert.

Berger gilt als engster politischer Vertrauter von Rüttgers. Der umstrittene Reserve-Hauptmann dient ihm nicht nur als Mann fürs Grobe, sondern auch als Chefstratege. Berger, 2002 ins Rüttgers-Team geholt, hat entscheidend dazu beigetragen, dass die Sozialdemokraten lange Zeit kein Rezept fanden, um Rüttgers erfolgreich in die Parade zu fahren. Hilflos verfolgten sie, wie dieser nach seinem Wahlsieg 2005 verkündete: »Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in Nordrhein-West­falen bin ich.« Mit geballter Faust in der Tasche mussten sie miterleben, wie er sich als Erbe der 2006 verstorbenen SPD-Lichtgestalt Johannes Rau zelebrierte.
Dabei folgte der anfänglich noch hölzern agierende Rüttgers einem von Berger geschriebenen Drehbuch. Nur eine Woche nach dem Wahlerfolg formulierte der ehemalige Feldjäger seine »Grundüberlegungen« zur Inszenierung des künftigen Ministerpräsidenten. Es müsse um die Vermittlung weniger schlichter Botschaften gehen, »die dann charakteristisch, stilprägend für Ihren Regierungsstil sind«, schrieb der damals erst 32jährige Strippenzieher vertraulich an Rüttgers. Er solle »näher bei den Menschen« sein und nicht »von oben herab« regieren. »Sie dürfen nicht der sein, der die bösen Wahrheiten über zu bringende Opfer verkündet«, warnte Berger. Stattdessen müsse Rüttgers »in die Lage versetzt werden, die emotionalen Bedürfnisse des Landes zu befriedigen«, in der Rolle eines »Kümmerers«, »der die Seele des Landes kennt, versteht und streichelt«. Genau diesem Kalkül entsprangen etwa Rüttgers Hartz IV-Interventionen, mit denen er die SPD geschickt vor sich hertrieb. »Rüttgers ist kein Arbeiterführer, er ist ein Sozialschauspieler«, empörte sich Kraft nicht zu Unrecht, aber hilflos.
Jürgen Rüttgers ist ein Politiker mit viel Fassade. Wofür der taktisch versierte Rheinländer tatsächlich steht, weiß niemand so genau. Seine Stilisierung zum »sozialen Gewissen« der Union beruht weniger auf politischen Überzeugungen denn auf kühler Analyse: Mit marktradikalen Sprüchen nach Art von Friedrich Merz lassen sich in Nordrhein-Westfalen keine Wahlen gewinnen. Den Part überlässt er deshalb lieber seinem kleinen freidemokratischen Koalitionspartner. Auch wenn er in seiner Rhetorik bisweilen schwer sozialdemokratisch daher kommt: Ein »Linker« ist aus Helmut Kohls Ziehsohn deswegen noch nicht geworden. Nichts läge ihm ferner.

Für jede angepeilte Zielgruppe hat Rüttgers etwas im Angebot: vom rechtssozialdemokratischen Rau-Fan über den bürgerlichen Ex-Alternativen bis zum frommen Kirchgänger. Für die Malocher im Ruhrgebiet macht er gemeinsam mit seinem Kumpel Laumann auf Vorhut der Arbeiterklasse, Unternehmerinteressen werden von Wirtschaftsministerin Christa Thoben bestens bedient, und der für Integration zuständige Minister Armin Laschet kümmert sich um das aufgeklärte großstädtische Milieu. Für die konservativ-klerikale Stammwählerschaft gibt es Schulministerin Barbara Sommer, eine verbissene Verteidigerin des dreigliedrigen Schulsystems und der Bekenntnisschulen. Dank ihr gibt es die als autoritär verrufenen Kopfnoten wieder in den Schulen des Landes. Rührend streitet die gläubige Protestantin auch für Schulgebete an öffentlichen Schulen. Schließlich sei die Ehrfurcht vor Gott »eines der wichtigsten Erziehungsziele des Schulgesetzes und der Landesverfassung«. Das entspricht ganz den Vorstellungen des bekennenden Katholiken Rüttgers.
Rüttgers stammt aus tiefster rheinischer Provinz. Wie es sich für die Verhältnisse im Kölner Umland gehört, verlief seine Sozialisierung streng katholisch und konservativ – vom Elternhaus über die nach Konfessionen getrennte Volksschule bis zum Kölner Apostelgymnasium, das einst auch Konrad Adenauer besuchte. Während andere seiner Generation in den sechziger Jahren auf die Barrikaden gingen, verlief sein Lebensweg brav gradlinig: von den katholischen Pfadfindern über die katholische Studentenverbindung zur CDU. Neben den »Wilden«, schrieb kürzlich der Spiegel, habe es 1968 auch die »Willigen« gegeben: »die Rüttgers«. Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse oder gar gegen die Eltern – das wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Was sein Vater im Dritten Reich gemacht hat, »das wollte er nie so genau wissen, vermutlich erfährt er erst hier, dass Willi Rüttgers in der NSDAP war, eingetreten am 1. Mai 1933«, notierte der Spiegel Anfang dieses Monats.
Als CDU-Landesvorsitzender hält es Rüttgers nicht anders. Als der Linkspartei-Abgeordnete Rüdiger Sagel im Herbst vergangenen Jahres eine Studie veröffentlichte, in der nachgewiesen wird, dass nach 1945 mehr als 40 Landtagsabgeord­nete von CDU und FDP – darunter acht Fraktionsvorsitzende und zwei Minister – eine NS-Vergangenheit aufwiesen, lies Rüttgers seinen Generalsekretär eine empörte Erklärung verfassen. Es sei »nur schwer zu ertragen, dass die Extremisten der Linkspartei demokratische Parteien und ihre Geschichte verunglimpfen«, echauffierte sich Wüst. Außerdem schreckten »die Linksdemagogen auch vor dreisten Unwahrheiten nicht zurück«. So sei der ehemalige CDU-Kultusminister Paul Mikat »nie Mitglied der NSDAP« gewesen. Eine schlichte Lüge, doch für Rüttgers und seine Partei war der Fall des heute 85jährigen Mikat (NSDAP-Mitgliedsnummer 9 596 776) damit erledigt.

Auch die schlechten Schlagzeilen zuletzt möchte Rüttgers schnell vergessen. Deshalb setzt die CDU wieder auf Attacke. Nur einen Tag, nachdem der Landtag über die Sponsoring-Affäre debattiert hatte, verabschiedete die schwarz-gelbe Mehrheit eine krachende Resolution gegen die Linkspartei: »Die Menschen in Nordrhein-Westfalen wollen keine Bündnisse mit extremistischen Parteien.« Bereits Ende Februar hatte die CDU ein »Rotbuch« gegen die Partei herausgebracht, die bislang nur durch den Ex-Grünen Sagel im Landtag vertreten ist. In dem 32seitigen Pamphlet »über den heim­lichen Bündnispartner der SPD in NRW« ist zu lesen, die Linkspartei bewege »sich mit ihrer marxistisch-leninistischen Sozialismusdefinition nicht auf dem Boden der Verfassung«, setzte »ganz unverhohlen auf die Verschlechterung der wirtschaftlichen und sozialen Lage«, wolle »Oma ihr klein Häuschen« verstaatlichen und »Einheitshandys für alle«. Nicht nur das: »Nach dem Willen der NRW-Linkspartei kann demnächst jedes Kind Haschisch im Supermarkt kaufen und Erwachsene dürfen unter Drogeneinfluss Auto fahren.«
Ob die CDU mit ihrer Angstkampagne Erfolg haben wird, ist fraglich. Das letzte Mal, als ihnen ein »Rotbuch« zum Wahlsieg verhelfen sollte, ging das jedenfalls daneben. Das war Anfang der siebziger Jahre und richtete sich seinerzeit gegen Willy Brandt: Der SPD-Bundeskanzler, so warnte damals die Union, verkünde »an Stelle unseres bisherigen freiheitlichen Rechtsstaates den ›demokratischen Sozialismus‹ als neue marxistische Ideologie« und wolle »dem deutschen Volk verordnen, dass Demokratie nur durch Sozialismus verwirklicht werden kann«. Die SPD holte bei der Bundestagswahl 1972 mit 45,8 Prozent der Stimmen das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Allerdings hatten die »Rotbuch«-Verfasser zu viel versprochen. Brandt enttäuschte die hochgesteckten Erwartungen: Die prophezeite »Juso-Revo­lution unter der Schirmherrschaft des ›Friedenskanzlers‹« fiel leider aus.