»Das Haus der fünf Sinne« von Nadeem Aslam

Keine Siege nirgendwo

Nadeem Aslams Roman »Das Haus der fünf Sinne« erzählt vom desaströsen Versuch, Afghanistan zu retten.

Viel ist nicht mehr übrig vom Pathos der Befreiung und von dem Ziel, die Taliban für immer aus Afghanistan zu vertreiben. Die Forderung, sich mit den Gotteskriegern an einen Tisch zu setzen und mit ihnen einen für beide Seiten erträglichen Konsens auszuhandeln, ist heute nicht mehr nur von einem Mainzer »Hobby-Außenpolitiker« (Markus Söder) wie Kurt Beck zu hören, sondern sogar in den USA gibt es Stimmen, die eine Enttalibanisierung Afghanistans für ein Ding der Unmöglichkeit halten.
Doch handelt es sich bei derlei Erwägungen nicht um die bloße Kapitulation vor der Aufgabe, denjenigen Afghanen, die einen kosten- und verlustreichen Kampf für eine bessere Zukunft führen, beizustehen? Oder ist, wie die Kriegsgegner meinen, tatsächlich gerade die Anmaßung des Westens, aus Afghanistan ein demokratischeres Land machen zu wollen, der Grund für das fortgesetzte Elend am Hindukusch?
Nadeem Aslam, ein 1966 in Pakistan geborener, mit 14 Jahren vor dem Regime Zia ul-Haqs nach England geflohener und heute in London lebender Schriftsteller, sucht in seinem neuen Roman »Das Haus der fünf Sinne« Antworten auf diese Fragen zu geben. Der Komplexität des Sujets entsprechend, lässt Aslam verschiedene historische Erfahrungen in Gestalt seiner Figuren zueinander in Beziehung treten. Der Ort der Begegnung ist die Stadt Usha, die 50 Kilometer von Jalalabad nahe dem Khaiber-Pass liegt. Dort lebt der aus England stammende Arzt Marcus Caldwell seit über 20 Jahren in einem geheimnisvollen Haus, in dem ein Dschinn sein Unwesen treiben soll. Caldwell hat seine Frau, die afghanische Ärztin Qatrina, die wegen angeblichen Ehebruchs von Taliban gesteinigt worden war, und seine Tochter Zameen, die ein Warlord entführt und ermordet hat, verloren, er selbst ist ein Krüppel, nachdem ihm die Taliban wegen eines angeblichen Diebstahls die Hände haben amputieren lassen.
In seinem Haus lebt auch Lara aus Sankt Petersburg, die vorübergehend zu Besuch ist, weil sie nach ihrem Bruder Benedikt sucht, der mit der Sowjetarmee in den achtziger Jahren nach Afghanistan gekommen war, desertierte und seitdem verschwunden ist. Lara hat nach jahrelangen Recherchen herausfinden können, dass Benedikt und Zameen zusammen aus einem sowjetischen Lager geflohen sind. Deshalb hat sie sich an Marcus Caldwell gewandt, um Informationen über den Verbleib der Soldaten zu bekommen. Caldwell nimmt sie gerne auf, kann ihr aber nicht weiterhelfen.
Eine dritte Person, der amerikanische Juwelierhändler, ehemalige CIA-Agent und langjährige Freund Caldwells, David Town, war als Agent in Afghanistan tätig gewesen, um die Mujaheddin gegen die Sowjetunion zu unterstützen, und hatte sich kurz vor Zameens Entführung in sie verliebt. Auch er ist traumatisiert durch den Verlust eines geliebten Menschen, und auch ihn zieht es immer wieder nach Afghanistan, um nach der Verlorenen zu suchen. Er könnte Lara bei der Suche nach ihrem Bruder helfen, schließlich weiß er um die Art der Beziehung, die Benedikt, den Soldaten, mit Zameen, der Gefangenen, verbindet. Aber er will Laras Gefühle nicht verletzen, kann ihr nicht sagen, was der Krieg aus ihrem Bruder gemacht hat.
Als sich schließlich noch der bei einer nächtlichen Propagandaaktion schwer verletzte islamistische Kämpfer Casa zufällig in einer ehemaligen Parfümfabrik neben dem Haus versteckt und in den folgenden Tagen von Marcus und David gesund gepflegt wird, mutet die Situation vollkommen absurd an. Menschen, die sich in anderen Situationen unerbittlich bekämpft hätten, leben zusammen.
Doch all das wird von Aslam weder zu einem moralinsauren Ruf nach Frieden und »Dialog« zusammengerührt noch kulturrelativistisch ausgeschlachtet. Vielmehr gelingt es ihm, die brutale Wirklichkeit Afghanistans zur Sprache zu bringen, ohne die Ursachen für diese dauernden – wie David Town sagt – »Mordepochen« auf eine rationa­lisierende Schuldzuweisung zu reduzieren. Das bedeutet nicht, dass Aslam sich eines Urteils enthalten würde; doch weiß er zugleich, dass alle politischen Akteure in der afghanischen Hölle – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – Anteil an diesen Zuständen haben und dass jeder, der anderes behauptet, Propaganda betreibt. Um dieser Wahrheit gerecht zu werden, lässt er die Romanfiguren gegeneinander antreten: »Eine Tochter, eine Frau, ein Enkelkind (…) Man könnte sagen, dieses Land hat mir alles genommen«, sagt Marcus Caldwell einmal und fährt fort: »Es wäre leicht, mich für einen dieser unglückseligen Weißen zu halten, von denen man immer wieder hört, für einen, der doch so freundlich von den anderen Rassen und Zivilisationen der Welt dachte und der sein Heimatland im Westen verließ, um sich im Osten niederzulassen, letzten Endes aber ruiniert ist und teuer bezahlt für seine dummen Fehler. Sein Leben von den Barbaren in Stücke zerschlagen. (…) Aber sehen Sie, der Westen hat Anteil am Ruin dieses Landes gehabt, am Ruin meines Lebens. Es hätte keinen Niedergang gegeben, wenn dieses Land in Ruhe gelassen worden wäre.« Es ist offenkundig, dass Caldwell mit diesen Worten eine Erklärung für das Unheil sucht, das ihm geschehen ist. Doch er kennt selbst alle Einwände gegen die Behauptung, nur der Westen trage Schuld an der Tragödie Afghanistans. Seine eigene Frau etwa, Qatrina, erinnert er sich, habe gesagt: »Der Grund für die Zerstörung Afghanistans, sagte sie am Ende ihres Lebens zu mir, ist die Gesellschaft dieses Landes, die Eigenart des Islam. Der Kommunismus war für nichts die ideale Lösung, aber ihrer Ansicht nach hätten sich ihre Landsleute gegen jegliche Veränderung gesperrt.« Und ein sowjetischer Soldat verrät David Town auf einer seiner Reisen: »Mir ist egal, ob der Kommunismus in Russland versagt hat. (…) Für ein Land wie Afghanistan bietet er immer noch die größte Hoffnung. Von Essen will ich gar nicht erst reden, aber manche Leute in meinem Land können sich nicht mal das nötige Gift leisten, um sich selbst umzubringen.«
Bereits sein 2005 erschienenes Buch »Atlas für verschollene Liebende« wusste die stellenweise an sufistische Poesie erinnernden Naturbetrachtungen mit analytischem Scharfsinn und feinstem Gespür für die Zerbrechlichkeit der Menschen zu verbinden. Vielleicht weniger blumig, aber genauso ausdrucksstark gelingt es Nadeem Aslam auch dieses Mal wieder, das Bild einer Gesellschaft zu zeichnen, die von der islamischen Todesverfallenheit und politischer Barbarei durchzogen ist und in der doch etwas Untilgbares bleibt: die Liebe, welche die Erfahrung des Glücks auch im Zustand der Trauer noch aufbewahrt und verbissen gegen jeden äußeren Zugriff verteidigt. Und wo diese Erfahrung ist, da gibt es auch etwas zu schützen, da gibt es eine Verantwortung gegenüber denen, die ihrer ein für allemal beraubt werden sollen. Dies ist Nadeem Aslams kluge Antwort auf die Frage, ob Afghanistan noch zu retten ist.

Nadeem Aslam: Das Haus der fünf Sinne. Aus dem Eng­lischen von Bernhard Robben. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2010. 464 Seiten, 19,95 Euro