Leipzig oder Halle? In welcher Stadt lebt man besser? Leipzig ist das neue Berlin

Nicht mal die Nazis wollen nach Halle

An der Pleiße kann man eine urbane, quirlige Stadt erleben. Um sich zu langweilen, fährt man dann eventuell mal raus aufs Land, nach Halle.

Ein Name wie ein Transitraum: Halle (Saale) ist eine Durchgangsstation, in der immerhin der ICE hält. Am Saaleufer mag man mal ein Zigarettchen durchziehen, dann ist der Gang aufs Land aber erschöpft. Das Beste an Halle: Die Heldenstadt Leipzig liegt nur 40 Kilometer entfernt.
Als Nietzsche von »jener klugen, kuhmäßigen Gemütstille, Frömmigkeit und Landpfarrer-Sanftmut« schrieb, »welche auf der Wiese liegt und dem Leben ernst und wiederkäuend zuschaut«, kann er nur das verschlafene Pietistennest Halle im Sinn gehabt haben – der Meisterdenker hat in Leipzig studiert und Weltgeist und Landlust klar auseinandergehalten. Halle und Leipzig zu vergleichen, ist so unfair wie die Provinz der Metropole gegenüberzustellen. Sicherlich teilen beide Städte ein gemeinsames Schicksal: Sie sind jeweils heimliche Landeshauptstädte und protegieren zusammen einen touristisch unökonomischen Flughafen, der eigentlich ein Militärdrehkreuz ist. Aber damit enden die Gemeinsamkeiten, und das Riesenreich der Differenz beginnt.

Den Mentalitätsunterschied zwischen Heroismus und Kleinmut erkennt man schon am Wappen: Für Leipzig prangt ein steigender Löwe, in Halle schaukeln zwei Seesterne. Leipzig ist Mythos, Halle Melancholie. Leipzig hat Tiefensee, Halle Sodann. Hier geht Neo Rauch bedeutungsschwanger zu Werke, dort pinselt Malermeister Müller. Leipzig gebar Liebknecht, Halle Genscher. Hier thront das Völkerschlachtdenkmal, des anderen Wahrzeichen sind Sahnepralinen. Nur in Leipzig heißen Pfarrer »Führer«, und schon Wolle Petry sang: »Halle, Halle, Halle.« Leipzig ist Buchstadt, Messestadt, Sportstadt, Wasserstadt, Medienstadt, Musikstadt und war fast Olympia-City. Halle ist Halle.
Immer schon ging die Stadt an der Saale mit jeder Mode. Kam die Welt auf irgendeinen Geschmack, war Halle mit von der Partie. Bereits die Gründung belegt dies: Halle entstand als Ort der Salzförderung. Weil also andernorts der Plebs sein Fleisch pökeln wollte, buckelte man hier in der Saline. Später hieß man eilfertig rüpelhafte Frühaufklärer wie Thomasius willkommen, die gerade aus Leipzig vertrieben worden waren. Hatte Luther in Leipzig kein gutes Standing, so verehrte man in Halle seine Totenmaske. Ein Populärmusiker wie Händel konnte nur in Halle groß werden. Barock-Bombast Bach zog es folgerichtig nach Leipzig, und Wagner, der Gröfaz der Komponistenwelt, erblickte hier das Licht der Welt. Kann denn Halle mit einem so bedeutenden Antisemiten aufwarten? Nein, Mittelmaß herrscht auch in dieser Hinsicht. Beim »StudentInnenRat« an der Pleiße entstand das erste Frauen- und Lesbenreferat in Ostdeutschland, es gibt den größten CSD der Zone und eine Aussteigerinitiative für Burschenschafter, während die Hallenser StudentInnen-Vertretung bis heute harmlos als »Studierendenrat« dahindümpelt.
»Kraftfahrer, meide den Alkohol und den Riebeckplatz«, so wird vor Halles größter Gefahr gewarnt. In Leipzig gibt’s Diskokrieg, Mafiaregime und ein ganzes Viertel mordbrennender Linksextremer. Während in Leipzig zwei rivalisierende Fußballvereine das Stadtbild verschönern, kommt der Hallesche FC extra hierher, um mal was los­zumachen in Sachen Hool-Action. »Drum merke dir, Sternburgbier« – selbst die Schwabengören in Friedrichshain haben Sterni als Punk-& Protestpils entdeckt: ein Getränk fürs Kunstprekariat und Lumpenproletariat. Halle füllt mit Coca Cola nur unbedarfte Brause ab. Schaut Berlin händeringend nach Leipzig für tatkräftige Demo-Unterstützung, so taugt Halle nicht mal als Symbol für einen anständigen Nazizirkus. Durch welches urbane Gefüge wollte Kameradschaftsleithammel Worch denn immer wieder latschen?

Halle wagt nichts. Als es vor zwei Jahren zufällig das bedeutende Festival »Theater der Welt« an die Saale verschlug, fiel den Ausrichtern kein besseres Motto ein als das ironiefreie »Komm! Ins Offene« – die Zeile stammt aus Hölderlins »Der Gang aufs Land«. In Leipzig hingegen verfolgt man bis heute Visionen. Wer außer den Leipzigern hätte es fertig gebracht, mit einem Wasserwerk in wenigen Jahren glatte 84 Millionen Euro zu verjubeln? (Chapeau!) Und wer hat sich in ein Abenteuer wie den City-Tunnel gestürzt, bei dem sich die Kosten für eine Eisenbahnbahnröhre bald auf eine Milliarde Euro verdoppelt haben?
Halle macht harmlos. Das mag an den Soleiern oder der lieblichen Landschaft liegen, vitale Stadtluft jedenfalls atmet man im fiebrigen Leipzig. Dabei will man als Leipzigerin dem so entzückend in der nachbarschaftlichen Peripherie klebenden Halle nichts Böses. Vielleicht hat die Nähe zum Metropolitanverband an der Pleiße für den Flecken Halle gar sein Gutes: Denn wenn Leipzig seit Jahren schon als neues Berlin gehandelt wird, dann kann Halle ruhig als neues Leipzig gelten. Und Berlin? – Das darf getrost das neue Dresden spielen.

Der Autor ist Theaterredakteur des Leipziger Stadtmagazins »Kreuzer«.