Und Jimmy schenkte uns den Rock’n’Roll

Berlin Beatet Bestes. Folge 38. Jimmy Jimson: Lavender Coffin (1949).

Eigentlich passt die Platte nicht in meine Sammlung. Sie ist weder seltsam, noch ist sie auf Vinyl erschienen. Wie üblich bei in den vierziger Jahren erschienenen Platten handelt es sich jedoch um eine Schellackplatte, streng genommen also auch um eine Single, und somit passt sie wieder in mein Archiv. Wenn ich mich mit meinen bisherigen Forschungen nicht völlig irren sollte, handelt es sich bei »Lavender Coffin« um nichts Geringeres als eine kleine Sensation: Soweit mir bekannt, ist dies der erste in Deutschland aufgenommene Rock’n’Roll-Song. Mit dieser Aufnahme beginnt die Geschichte der Rockmusik in Deutschland. Der Song wurde 1949 von Shirley Albert geschrieben und schaffte es im gleichen Jahr in der ersten Version des Bostoner Saxophonisten Paul »Fat Man« Robinson in die Top Ten der schwarzen Rhythm & Blues-Charts. Die Versionen von Tex Beneke und Lionel Hampton machten »Lavender Coffin« dann zu einem Swing-Klassiker. Dass aber 1949 im zerbombten Berlin ebenfalls eine Version dieses Hits auf dem lokalen Metrophon-Label erschien, die in ihrer Wildheit diese Nummern um ein Vielfaches übersteigt, ist bemerkenswert.
Die Platte kaufte ich vor zwei Jahren in einem Trödelladen in meiner Straße für zwei Euro. Dabei sammle ich ansonsten keine Schellackplatten, es ist ein weiteres ausuferndes Sammelgebiet, in dem ich mich nicht verlieren möchte. Umso überraschter war ich, als ich »Lavender Coffin« zum ersten Mal hörte. Die wilden Shouts im Mittelteil erinnern an Gene Vincents Rockabillysongs aus der Mitte der fünfziger Jahre. Es singt ein gewisser Jimmy Jimson. Ich vermute, es handelt sich dabei um einen in Berlin stationierten schwarzen GI, der von Werner Deinert und seinem Orchester begleitet wird. Der von Werner Deinert geschriebene »Mohrchen’s Boogie« auf der B-Seite ist eine instrumentale Swingnummer. Dagegen ist der Song »Lavender Coffin«, der von den letzten Wünschen eines Spielers handelt, ein so starker, schwarzer Rhythm & 
Blues-Song, dass es schwer fällt, sich vorzustellen, dass er zur selben Zeit in Berlin aufgenommen worden ist. Allerdings ist es durchaus denkbar, dass ein schwarzer GI in den chaotischen Nachkriegsjahren in Kontakt mit einer deutschen Swingband gekommen ist. Die erste deutsche Rock’n’Roll-Aufnahme, und genau darum handelt es sich, auch wenn der Begriff noch gar nicht erfunden war, dürfte somit von einem Afroamerikaner stammen.
Vor einigen Tagen erhielt ich überraschend eine E-Mail von Pivo Deinert, dem Neffen von Werner Deinert. Er hatte meinen bereits vor zwei Jahren eingestellten Youtube-Clip von Jimmy Jimson und der Werner-Deinert-Band im Netz entdeckt und war so auf meinen Blog gestoßen. Er erzählte mir, dass sein Onkel vor wenigen Tagen, am 9. März, im Alter von 78 Jahren in Berlin gestorben war. Noch im Januar hatte sein Sohn ihm das Video gezeigt und ihn zu diesen Aufnahmen befragt. Der Vater hatte davon erzählt, wie aufwändig die Aufnahmen damals waren und wie man mit einem Vorhang in einer Kirche die Stärke des Halls veränderte. Bei einem Solo wurde der Vorhang aufgezogen, um den Hall zu verstärken. Allerdings konnte sich Werner Deinert wohl auch nicht mehr so richtig an »Lavender Coffin« erinnern: »Naja, das war halt eine dieser Aufnahmen.«