Ein minutiöses Tagebuch

USA surreal

Carl Weissner erzählt von der New Yorker Künstlerboheme, von imaginären Islamisten-Kneipen, vagabundierenden Feministinnen und der Rheumasockenkompatibilität der deutschen Sprache.

12. April 2007 6:40 PM

Um elf in New York gelandet, mailte er am ersten Tag aus einem McDonald’s in der 34. Straße, um an einem Roman zu schreiben, der in Paris spielt. Ich bin noch nie nach New York gekommen, ohne dass ein Unwetter tobt. Der Central Park, erfahre ich im Taxi nach Manhattan, steht einen halben Meter unter Wasser. »In der Bronx haben sie in einem Tunnel den Strom abgestellt und sind am Lenzen, als hätten Torpedos von einem Nazi Submarine eingeschlagen.«
Im Terminal 3 hat der Uniformierte vom Immigration Service meine Pupillen geknipst und einen elektronischen Abdruck vom linken Zeigefinger genommen. Damit ist der Terrorismus wirksam bekämpft. Jetzt kann es nur noch besser werden.
Im Taxi hat jemand ein Paperback vergessen. Es ist von Chandra K., die in Gangsta-Rap-Videos mitgewirkt hat:
»Ich war noch minderjährig, und er hat verlangt, dass ich ihn beim Sex ›Daddy‹ nenne, weil ihn das wild macht. Wir waren in der Wohnung seines Managers in Manhattan, es war tiefster Winter und im Schlafzimmer war es eiskalt. Man hörte den Lärm der Stadt, das Hupen der Taxis und die gellenden Pfiffe von Leuten, die versuchten, eins zu ergattern. Der Schnee war noch nicht geräumt, und man hörte das Knirschen der Autoreifen, die sich darin eingruben. Ich hatte die Stadt vermisst. Es gab nichts Besseres, als hier Sex zu haben. Als er kurz vor dem Orgasmus war, schrie ich: ›Fick mich, Daddy‹. Er verdrehte die Augen und spritzte mich voll.«
Und noch einer hat ein Buch geschrieben: ein 19jähriger Ugander, den sie als Kind zum Killen abgerichtet hatten. Bei Barnes & Noble am Union Square, steht im Observer, wird er es heute vorstellen:
»Ich war neun, als sie uns entführten, und mein Bruder war acht. Sie schnitten meinem Bruder die Kehle durch und kochten ihn in einem großen Pott mit Maniok und befahlen uns, ihn zu essen. Wer sich weigerte, wurde erschossen. Wir brauchten drei Tage, bis wir ihn gegessen hatten. C’était dur. Es war hart. Dann bauten sie das Camp ab und trieben uns tiefer in den Dschungel.«
Der Schlüssel für das Apartment in der 34. Straße ist beim Doorman hinterlegt. Der Doorman heißt Carlos und sieht auch so aus. Ein 20-Dollar-Schein gleitet in seine bereits vorgefettete Hand.
»Ich will nicht«, sage ich, »dass der Hausmeister an die Verwaltung petzt, wir hätten hier einen Illegalen, der heimlich Möbel in eine leerstehende Wohnung schafft.
Also – in den nächsten drei Tagen liefert UPS exakt zwei Sachen an mich: Einen quadratischen Tisch, Gewicht 30 Kilo, made in China; und einen Stuhl … plus Sitzkissen für den Fall, dass mir mein schlechtes Karma Hämorrhoiden aufbrummt.«
Der Doorman steckt das Geld weg (in Berlin würde er jetzt sagen »Schrüftstella, wa?«) und vergewissert sich, dass er meinen Namen auf der Liste hat.
Das Apartment 5D, zur Straße raus, gehört meinen Freunden Jan und Janet. Es wird in zwei Wochen verkauft, und bis die neue Besitzerin einziehen kann, vergehen nochmal zwei Monate. So lange gehört es mir. Es ist ein 30qm-Studio mit uraltem Parkettboden und einem wuchtigen Airconditioning-Gerät im unteren Teil des zweiten Fensters. Das Bad ist oberhalb der vergilbten Kacheln feuerwehrrot gestrichen. Wanne, Becken und Armaturen sind Jahrgang 1920.
Jetzt erst mal ein Freudentanz, soviel Zeit muss sein, unter dem enormen Deckenventilator, der drei Geschwindigkeiten hat. Seine Paddel haben an den Kanten in Fahrtrichtung (oder heißt es Laufrichtung? Kaum eine Stunde in New York, und schon kann ich kein Deutsch mehr …) schwarzen Schmant angesetzt, den sie offensichtlich der Luft entnommen haben.
Dann noch schnell die Straße runter, auf halbem Weg zum Empire State Building, auf der linken Seite, in die winzige Soulfood-Kitchen von zwei teerschwarzen Kerlen aus Louisiana: Gumbo, Chitlins, Po’boys, gebackene Austern …

14. April 9:00 AM

Ich habe ein neues Stammlokal, eine Straße hinter dem Edgar Allan Poe Café. Es nennt sich NO PORK ON MY FORK, d.h. es ist eine Islamisten-Kneipe. Ich komme also reingeschlendert und sage:
»Tach, ihr Windelköpfe. Ich bin euer lokaler Provokateur von der Politischen Polizei, der euch zu was anstiften soll. Ich finde, wir sollten den Trump Tower in die Luft jagen. Was haltet ihr davon, hm?«
»Du nimmst das nicht ernst«, mault einer hinter seinem filzigen Bart hervor.
»Lern du erst mal, dass man sich das Falafel nicht in die Ohren schiebt, sondern in das Loch hinter deiner Filzmatte da«, sage ich, und im nächsten Moment hört man das Splittern von Glas und das Krachen von Möbelstücken und ein vielstimmiges »Kill that Motherfucker! Al-Hamdulillah!«
Immer diese Alpträume.

15. April 7:45 PM

Immer noch Unwetter. Elf Grad. »Ich sitze im Augenblick«, schrieb im Sommer 1948 der Kollege vom New Yorker, »bei 32° Hitze in Midtown in einem stickigen Hotelzimmer, dessen einziges Fenster den Blick in einen Luftschacht gewährt.« (Immerhin ist es ein Zimmer im legendären Algonquin Hotel.) »Zweiundzwanzig Querstraßen von hier lag Rudolph Valentino aufgebahrt, acht Querstraßen von hier wurde Nathan Hale hingerichtet, fünf Querstraßen von hier befand sich das Verlagshaus, in dem Hemingway Max Eastman eins auf die Nase gab. Vier Meilen von hier schwitzte Walt Whitman über Leitartikeln für den Brooklyn Eagle, 34 Blocks von hier liegt die Straße, in der Willa Cather wohnte, als sie nach New York kam, um Bücher über Nebraska zu schreiben; eine Querstraße von hier alberte Marceline auf den Brettern des Hippodrome herum. 36 Blocks von hier trat der Historiker Joe Gould vor den Augen des Publikums ein Radio zu Klump, 13 Querstraßen von hier wurde Stanford White von Harry Thaw erschossen, fünf Blocks von hier habe ich mal als Platzanweiser in der Metropolitan Opera gearbeitet, und nur 112 Querstraßen von hier, in der Epiphaniaskirche, wurde Clarence Day der Ältere von seinen Sünden reingewaschen.«
Und zwanzig Jahre später, Anfang Januar 1968, schrieb jemand in der East 6th Street Nr. 640, im tiefsten puertorikanischen Slum, die ersten Seiten eines Romans, der davon berichtet, wie schwer es ist, New York zu entfliehen:
»Die ganze Nacht gefahren mit dem unwirklichen Gefühl, unterwegs zu sein im Film eines anderen. Durch die gesplitterte Windschutzscheibe sehe ich, wie die Straße ausfranst, ich spüre das künstliche Holpern und Schaukeln des alten Chevrolet, und manchmal flimmert der Rückspiegel, als hätte man ihn durch einen Miniatur-Bildschirm ersetzt.
Mit einem Mal setzt die Erinnerung wieder ein. Ein Zusammenstoß, auf der New Jersey Turnpike. Es wurde grade dunkel. Der andere hat mich gerammt, es hat ihn seitlich weggerissen, dann ist er in einer Wolke von Staub und zermahlenem Glas verschwunden, und ich muss mir eingebildet haben, weitergefahren zu sein, als wäre nichts gewesen; übers Lenkrad gebeugt, in der Schrecksekunde erstarrt, alles schief und verzerrt, die ganze Landschaft gesplittert.«
Dieser Jemand war ich. Es wäre zu einfach, wenn ich jetzt sagen würde, dass ich den von damals nicht mehr verstehe. Warum hat er alles so kompliziert gesehen? Tja. Er war nicht der einzige, der Mühe hatte, sich zu orientieren – in einem sehr großen Land, in dem grade der Surrealismus pur ausgebrochen war.

16. April 1:28 PM

Ich gebe dir schnell Kurzbiographien der vier Frauen, die ich an der Ecke Broadway und Prince durch die Fenster von Dean & DeLuca sehe. Von links nach rechts:
Mit 12 wurde sie, in atemberaubend abgemagertem Zustand, in Bukarest von einem Modefotografen entdeckt. »Hungere weiter, bis du vierzehn bist«, sagte er. »Dann holen wir dich raus, und du machst Karriere auf dem Laufsteg.« So kam es.
Sie geht zweimal die Woche auf den Schießplatz in Westchester. Es ist der einzige Ort, wo sie sich wirklich zuhause fühlt – Home on the Range usw. Sie schießt ausschließlich auf Männer-Silhouetten. Manches stellt sie sich vor, an anderes erinnert sie sich; und dann steht sie breitbeinig da, gelb getönte Schießbrille auf, Ohrenschützer, hebt die Waffe, zielt, zieht den Abzug durch und spürt mehr als sie es sieht, wie Kopf und Herzgegend in Fetzen fliegen. Der Geruch von Kordit erinnert sie immer an das Feuerwerk am 4. Juli.
Sie hat zwei Geschichten. Beide sind wahr. Sie überlebte den Krieg bei Bauern in Limousin. 1959 kam sie nach Amerika. Jetzt ist sie eine gichtverkrümmte kleine Französin mit weißen Haaren, einer Tochter und zwei Enkelkindern. Sie trinkt einmal die Woche einen Iced Caffè Latte bei Dean & DeLuca und spricht mit keinem.
Kurz vor Kriegsende wurde sie, die bis dahin unauffällig ihre Arbeit im Einwohnermeldeamt von Waldshut getan hatte, von der Gestapo verhaftet und mitgenommen. Auf einer Lichtung vor der Stadt musste sie ihr Grab schaufeln und sich an den Rand knien. Ihr letzter Gedanke vor dem Genickschuss war, dass sie im vierten Monat schwanger war. Irgendwann kam ihr Geist nach Amerika.
Sie weiß nicht, wem die Lederjacke gehört. Sie blieb nach einer Party übrig. Sie findet, dass sie ihr steht. KISS ist mit regenbogenfarbenen Perlen auf dem Rücken eingestickt. Sie liest nichts, sieht nicht fern, hat kein Interesse an Sex. Sie geht mit Freundinnen aus und fährt mit ihnen Achterbahn, aber sie kreischt nicht mit, wenn es in die Tiefe geht.

17. April 11:07 AM

Ich beherrsche mich und esse zum doppelten Frühstücks-Espresso im Bread Factory Café in der Seventh Avenue nur ein einziges Erdnussbutter-Cookie – das allerdings so groß wie die Hand eines Rekordhalters im Dauer-Ohrfeigen.
Als ich vor der Nr. 433 aus dem Taxi steige, hat es mir die Eingangshalle sofort angetan. Achtung: »Ein alter Otis-Fahrstuhl mit messingbeschlagenen Türhälften, deren edler Schimmer unter Fingerschmutzabrieb, Fliegenschiss und Grünspan nur noch zu ahnen war, beherrschte als Blickfang das Foyer. Der Boden war ein Diamantmuster aus schwarzweißen Marmorfliesen … «
Hört sich an wie Chandler. »An old Otis elevator with brass doors that were faded with grime and tarnish dominated the Lobby. The floor was a diamond pattern of black-and-white marble tiles.«
In manchen Nächten schreibe ich zehn Seiten. Wenn ich das zerknüllte Papier in einer Plastiktüte in den Müllschlucker hinten im Flur gegenüber von Apartment 5G gestopft habe, ist oft nur noch wenig übrig.
Zwischen drei und vier Uhr morgens mache ich Lunchpause im Cheyenne Diner an der Ecke 9th Avenue und 33. Straße: Kubanisches Sea­food-Sandwich mit Beck’s Bier und Tequila. Das Logo des Cheyenne, seit 1942 an dieser Straßenecke, ist ein zwei Meter großer, verdammt gut aussehender Indianer, der auf einem Longhorn-Rind sitzt und den Betrachter herausfordernd anblickt. Die nächtliche Klientel besteht vorwiegend aus koreanischen Unterweltlern, deren Revier da vorne hinterm Broadway beginnt und sich ein paar Blocks nach Osten und Süden erstreckt. Ihre Sitten und Gebräuche wirken seltsam futuristisch, wie aus einer Space-Klamotte von 1952. Ihre Bars hocken voll von dicklichen Jungs, die an Schlitzaugen-Girls herumfummeln und sich sinnlos mit Whisky besaufen. Nach zwei Stunden wird zum ersten Mal der Hausdiener gerufen, der mit Eimer und Mop die Kotze aufwischen muß.

»Hinter Balmorhea bog der Barracuda in die Zufahrt zu einem Truckstop ein und hielt vor der Selbstbedienungs-Autowäsche. Der Fahrer stieg aus und schloss die Tür, auf der sich halbgeronnenes Blut und Hirnmasse verteilten bis hinauf zur Scheibe. Am Wechselautomaten besorgte er sich Vierteldollarstücke. Er zog das Gerät mit der Waschbürste aus der Halterung, schrubbte den Wagen sauber und spülte ihn ab, stieg wieder ein und lenkte den Wagen zurück auf den Highway Richtung Westen.« Cormack McCarthy, Kein Land für alte Männer.
Das bringt er doch erstaunlich gut auf den Punkt. Keine Schlenker in das angebliche Seelenleben der Figuren, kein Ausweichen vor den Fakten. So treibt er sich immer mehr in die Enge. In seinem nächsten Buch wird es wahrscheinlich heißen: »Reguläre mexikanische Einheiten befreien das erste Konzentrationslager in Arizona. Sie verteilen Kaugummi, Pancho-Villa-Buttons, Zigarillos und Bier. Sie stellen ein Grammophon auf und spielen Trini-Lopez-Songs. Die Musik, grell übersteuert, dröhnt aus Lautsprechern im ganzen Camp.«
Ich sende dies von einem PC im großen Lesesaal der New York Public Library. Dass die Stadtbibliothek ein Energiezentrum ist, wissen wir spätestens seit dem Film von Roland Emmerich.
Es sieht so aus, als würde ich, parallel zu meinem Projekt, noch einen weiteren Text schreiben, der davon handelt, wie ich mich mit einer Bande von Nekrophilen einlasse, die Manhattan unter sich aufgeteilt haben – Battery Park, Garment District, East Village (nur um Chinatown machen sie einen Bogen, die sind ihnen zu unberechenbar). Jeder hat seinen Body Dump, wo er verbrauchte Opfer entsorgt. Der von der East 6th Street nutzt die südlichste Stelle vom East River Park, eine der desolatesten und deprimierendsten Gegenden in der Stadt. Davon später mehr.
Mein Art-Deco-Halbwolkenkratzer in der 34. Straße wurde, wie mir Jan bei der ersten Besichtigung erzählt hat, 1920 von den Besitzern des Kaufhauses Macy’s gebaut, damit sie hier das Heer ihrer Verkäuferinnen und sonstigen Angestellten unterbringen konnten. Ich stelle mir vor, dass in meiner Kemenate einmal eine Lizzy aus Altoona/Nebraska gewohnt hat, die nach Feierabend die Brennschere anheizt, um sich frische Locken zu drehen, ehe sie sich im Hammerstein Ballroom ins Getümmel stürzt.

18. April 1:33 PM

Das ist die angeblich große amerikanische Literatur von heute, auf Deutsch (aber auch im Original schon scheiße); jedes Beispiel von der ersten Seite:
»Meine Gedanken rasten erbärmlich.« Denis Johnson, Jesus’ Son (übersetzt hat der deutsche Verleger persönlich).
»Pappbecher kamen seltsam vorbeigehüpft.« Don DeLillo, Falling Man, Kiepenheuer&Witsch.
Genug! Kotztüten raus!

18. April 8:17 PM

»Stopf mir deine rosa GirlieNippel in den Mund, saug mich aus, süße Sau, besorg’s mir – und erst recht dir – From Here to Eternity, nimm dir meinen Saft, du falsch gewichste Ficksau«, meint Rose R. aus Kenia. »Ich zog meine Finger heraus, sie bumste ins Leere, ich sah ihr dabei zu … «
Auf dem Tisch liegt »Female Masculinity« von Judith Halberstam. Wir sind zum Fünf-Uhr-Tee bei Freds Tochter in Brooklyn.
Sie ist entschlossen, abzudriften in die Drag King Szene; ein T-Shirt mit ›Mr. Dyke‹ drauf hat sie schon. »Es geht nicht so sehr darum, als Mann durchzugehen, sondern Männlichkeit als Frau zu bewohnen und sie trotzdem zu inszenieren«, klärt sie uns auf.
Am Abend geht sie zum Casting für eine Drag King Group namens Gender Terrorist! Sie ist ausgebildete Konzertpianistin.

›Du könntest auch ertrinken, denn Frauen sind ja absurd, und Musikerinnen ganz besonders.‹
LF Céline an Lucienne Delforge, Pianistin (1937)

18. April 11:52 PM

›Warum setze ich mich so unter Druck‹, notierte er kurz vor Mitternacht in seinen Moleskine-Kalender. ›Warum jeden Tag mindestens eine E-Mail an Freunde, Bekannte, Geister von Toten … in Heidelberg, Mae Sot, Cape Town. Und immer dieses Hecheln nach Unterhaltungswert …
Aussichtslos, seit innerhalb von zwei Tagen nach 9-11 ein Gentleman im Smoking auf einer Harley-Davidson bei Ground Zero vorgefahren ist – mit einem offenen schwarzlackierten Pappsarg als Anhänger, in dem Osama bin Laden lag. Forget it, Jack.‹

19. April 2:43 PM

Der Palästinenser war ein Flop. Erscheinen sollte, im Council on Foreign Relations in der Park Avenue, ein Mitglied der Führungsriege in Ramallah, statt dessen steigt dieser notorische Schwätzer und Peacenik auf die Bühne, der beide Seiten schon seit Jahren nervt, so dass sie ihn abwechselnd – die Israelis wie die Araber – immer wieder wegsperren mussten. Inzwischen hat er einen Druckposten als Kanzler der al-Quds-Universität in Ost-Jerusalem.
Jan, der hier akkreditiert ist, hat mich als Freelancer der FAZ eingeschleust (weil das die einzige deutsche Zeitung ist, die sie kennen), und man hat mir tatsächlich einen Plastikausweis um den Hals gehängt, damit ich durch die Kontrollschleuse mit den finster blickenden Security-Leuten komme.
Draußen ist übrigens der Frühling ausgebrochen, und vor jedem wichtigen Gebäude blüht der bunte Blumenschmuck in den gewaltigen etruskischen Vasen aus massivem Stein, die man dort verankert hat als Bollwerk gegen Terroristen, die mit dem Auto kommen.
Der Mann von al-Quds eröffnet mit einem Bekenntnis zur Demokratie. »Ich muss Ihnen natürlich nicht sagen, was Demokratie ist … «, sagt er mit einem verschämten Augenaufschlag, der so unehrlich ist, dass es einem gleich hochkommt. Und schon fängt er mit dem Aufzählen an: »Gutnachbarliche Beziehungen, gemeinsame Werte, äh äh … «
Mit knapper Not fallen ihm noch die freien Wahlen ein.
»Dan-ke!« ruft jemand aus der zweiten Reihe links außen.
Das prallt an dem Araber ab wie ein Maikäfer aus Styropor. Der Mensch, der ihn befragen soll, hat mit ihm in Oxford studiert, und beide haben ihren Doktor in Harvard gemacht. Dabei kann nichts herauskommen.
Der Palästinenser rühmt sich jetzt als der große verhinderte Friedensfürst, und es gelingt ihm, das Wort ›Peace‹ mehrmals in einem Satz unterzubringen.
»Mit anderen Worten, Sie sind der Gandhi von der West Bank!« ruft die Rothaarige von La Repubblica, links neben mir.
»Wo ist der Lendenschurz?« kommt es missmutig von Gay Talese, Autor eines Bestsellers über den Mafiaboss Joseph Bonanno alias Joe Bananas.
Missbilligende Blicke streifen den Pressetisch, aber dort sitzen eh nur die räudigen Hunde, die kein Benehmen haben. Während die Vereinsmitglieder ihre übertriebene Höflichkeit pflegen und das Erzeugen von Langeweile für aristokratisch halten.
Die Hälfte ist jetzt schon halb bewusstlos von dem erstklassigen Rotwein, den es heute gibt – ein Merlot aus Chile, offenbar eine Friedensdividende dafür, dass man geholfen hat, Salvador Allende zu beseitigen. Henry Kissinger, der das damals orchestriert hat, sitzt im Vorstand des Council, der früher mal eine Institution mit weltweitem Renommee war. Heute ist es ein Karnickelzüchterverein.
Henry ist nicht da, aber auch ohne ihn ist die Anwesenheitsliste pompös. In der ersten Reihe dösen Jean Kennedy Smith, Chefin des Kennedy Center for the Performing Arts; Ted Sorensen, einst innenpolitischer Berater von Jack Kennedy; und Judith Miller, ex-New York Times, die ein paar Monate im Gefängnis gesessen hat, weil sie sich weigerte, einem Gericht ihre Informanten in Washington zu verraten. (Es waren die Typen im Weißen Haus, die ihr das Märchen von den Massenvernichtungswaffen Saddam Husseins gesteckt haben. Selten hat jemand eine so berechtigte Gefängnisstrafe abgesessen.)
Der Palästinenser, von seinem nutzlosen Interviewer ermuntert, steigert sich in herausragende Platitüden hinein. Und setzt noch eins drauf: Bush soll mit seiner Air Force One die wichtigsten Staatsmänner aufsammeln – in London, Paris, Kairo und Kuala Lumpur; dann landen sie in Jerusalem und machen wahnsinnige Spesen im King David Hotel, und jeden Tag rufen sie Olmert an und sagen: »Wir gehn hier nicht weg, bis du einen Friedensvertrag mit den Palästinensern unterschrieben hast. Shalom, Ehud-Baby.«
Dann ist es ausgestanden. Im Hinausgehen sagt Mr. Talese (weißes Haar, Adlernase, elegante Erscheinung jenseits der Achtzig), mürrischer denn je: »Harvard sollte keine Doktortitel verschwenden an Leute, die nichts als Hühnerscheiße im Kopp haben.«

19. April 11:45 PM

Schluss damit. Ich kann mir solche Abschweifungen nicht leisten. Die nächsten Tage gehe ich nirgends hin. Außer zur Premiere des Hongkong-Gangsterfilms »Triad Election«.
Der New York Observer, ein auffallend lockeres linkes Kampfblatt, bringt heute eine lange Reportage über ein kleinkriminelles Pärchen, angeblich Usbeken, das die absurde Idee hatte, Social Clubs in Queens heimzusuchen, wo Mafiosi der unteren Ebene mit Tausenden von Dollars in der Hosentasche ihr Schwätzchen halten und nie eine Waffe dabeihaben – denn wenn man im eigenen Club nicht sicher ist, wo kommen wir da hin?
Nach dem zweiten Club, den sie abkassierten, wurde Jagd auf die beiden gemacht. Drei Monate später lagen sie, in Einzelteile zersägt, auf einer Müllkippe in New Jersey.
Die Genovese-Familie nimmt für sich in Anspruch, den oder die Killer gestellt zu haben.
»Nein«, sagt die jüdisch-armenische Konkurrenz, »es war unser Skinny Mo!«
Bis jetzt steht es unentschieden. Die Cops haben keinen Favoriten und warten, ob sich einer durchsetzt.

20. April 9:12 AM

Schnellkurs ›Moderne Kunst‹, Teil 1.
»Wer heute verkauft, das sind die, die ihren Rothko seit dreißig Jahren haben. Plötzlich ist er dreißig Millionen wert und sie haben Angst vor einem Wasserschaden.«
Tobias Meyer, Star-Auktionator (Sotheby’s)

Und 1963 hat Andy Warhol nichts als Milky Way, Snickers und rohes Fleisch gegessen und einen Dracula-Film gedreht, mit dem ausgemergelten habichtnasigen Junkie und Undergroundfilmer Jack Smith in der Hauptrolle.
»Du musst dein Leben ändern«, sagte Jack einmal im Wurlitzer Building, wo er sechs Nächte lang das Kellerkino bespielte, »hieß in der Erstfassung: Du musst dir die Kugel geben.«

20. April 7:03 AM

Wieder nichts zustande gebracht. Wir machen es uns ja auch nicht leicht: Der Plot zu kompliziert, der Typ zu krank, seine Missetaten zu unappetitlich, und die Hälfte der Story spielt am Oberrhein, wo die Gärten gedüngt sind mit den erwürgten schwarzen Bankerts, die den besiegten Töchtern, Schwestern, Cousinen und Enkelinnen gemacht wurden von jenen Zulus, die von den Franzosen in Regimentsstärke zuerst über den Fluss geschickt wurden …
P.S. Keiner kann so militant schlechtgelaunt, so frivol pedantisch, so schnell zufrieden mit der flauen Sottise, so oft den gleichen Roman schreiben wie Thomas Bernhard. In provozierend schauderhaftem Deutsch. Und mit seltener Grandezza.
Darum: Bernie rules!
Auf die Knie, ihr Versager.

20. April 10:15 AM

Deiner Nachtigall kannst du sagen, dass kein Fick auf der Welt 130 Balz-Töne wert ist. Das wusste schon Al Capone. Und der hat gern gesungen.
Der Roman, den Hanif Kureishi so geil findet (ich nicht), beginnt mit einem Mann in mittleren Jahren, der seine sexuell erkaltete Frau – wir sind in Yokohama – mit K.O.-Pillen im Tee betäubt, damit er mehr Zeit mit ihren Füßen verbringen kann (so wörtlich). Mich stört, kurz gesagt, die Fußgängermentalität an diesem Plot.
Wie war das? Du sollst morgen? in Frankfurt? vor einer Horde von Waschmaschinenhändlern? den »Tod eines Handlungsreisenden« in Kurzfassung (das-ist-kein-Scherz) darbieten?
Es ist nicht leicht, Arthur Miller in seinem Grab zum Rotieren zu veranlassen, aber ich traue dir zu, dass du es schaffst. Das erinnert mich daran, dass Shelley Winters mal im Actors Studio zu einer Elevin gesagt hat: »If ya can’t stand blood, stay out of the butcher shop.« Wenn du kein Blut sehen kannst, hast du in der Metzgerei nichts verloren.

21. April 5:58 PM

Also der Flow ist das noch nicht, aber wenn dich die endlosen Tippfehler (bei McDonald’s nur ausgeleierte Keyboards) nicht wahnsinnig machen … Das mit der Liquid Ecstasy Fete des Architekturmagazins klingt zum Fürchten gut. Und bis dahin gibt es den gewaltfreien Cuba Libre in der Spring Street Lounge (Schild an der Tür: »Hippies benutzen den Seiteneingang«) … In der U-Bahn läuft manchmal eine aufgedrehte Emanze durch und wirft nach links und rechts Flugblätter von sich, und eh sie an der nächsten Station wieder hinaus springt, schreit sie jedes Mal: »Dann noch ’n gewaltfreien Tach allerseits!«

Der Programmierer vom Mount Sinai Hospital (früher mal Kunsthistoriker, aber das hat ihn nicht ausgefüllt) hat lange blütenweiße Finger und eine orthodox jüdische Ehefrau, die ihm schon sechs Kinder geboren hat (er ist 29 …). Nachts schreibt er sich die wüstesten Phantasien von der Seele – Sex mit Außerirdischen, Hardcore-Nekrophiler Fetischismus bei Feuerwehrleuten mit Burnout-Syndrom – und kümmert sich um seine fünf Websites. (Eine ist ausschließlich den »Blumen des Bösen« von Baudelaire gewidmet; das nötige Französisch hat er sich selbst beigebracht).
Er freut sich über jedes abseitige Thema, das man anschneidet, und redet darüber 100 Prozent druckreif.
Nach 9-11 liegt seine Ruthie matt in der Badewanne und hat kein’ Bock, da rafft er in der Küche Toaster, Schöpflöffel, Kinderspielzeug und Wegwerf-Kakerlakenfallen (mit Inhalt) zusammen, wirft es auf sie drauf – in der Badewanne – und sagt das magische Wort: »Trümmer!« Und schon geht sie ab wie ’ne Rakete.
Ich lade ihn öfter ins französische Bistro ein, damit er mir von seinen neuesten Einfällen berichtet.

23. April 9:01 PM

In einem Kellerloch, das zu einem leerstehenden abbruchreifen Lagerhaus Ecke 36. Straße und Tenth Avenue gehört, sitze ich dem einzigen Bewohner gegenüber. Soweit er sich erinnern kann, heißt er Goran und ist Ende fünfzig.
Die Stimme heiser, die Augen trüb, die Haut gelblich und fleckig. Er fühlt sich kerngesund. Lebt von der Suppenküche, ein Stück den Block runter. Schätzt, dass er seit drei oder vier Jahren hier haust bzw. west. Seit die Eingänge des Gebäudes mit Brettern vernagelt wurden. Benjamins Theorie vom Verschwinden des Originals in der Moderne hat ihn glatt verfehlt.
Irgendwann stoßen wir gemeinsam zur Kernfrage vor: Wo bist du hier?
Er weiß es nicht. »Somewhere on the fuckin’ planet.«
Good enough, Goran.

25. April 2:21 PM

»Triad Election« von Kultregisseur Johnny To, im Film Forum (Houston Street, westlich von der 6th Avenue), handelt, wie schon der Name sagt, von der Wahl eines neuen Paten in Hongkong. Kandidat Jimmy, dargestellt von dem unirdisch gutaussehenden Popstar Louis Koo, der seinen Maßanzug mit unvergleichlich lässiger Arroganz trägt, meditiert einmal kurz auf einem steilen, aus der Bucht aufragenden Felsen vor der Skyline von Hongkong, gefilmt aus einem Hubschrauber, der auf der Stelle schwebt – ein Shot, vor dem der Zuschauer augenblicklich in die Knie geht.
Eigentlich ist der ganze blutige Streifen aus der Perspektive des Maßanzugs erzählt: Er bleibt provozierend lange knitterfrei, aber am Ende wird er eiskalt drangegeben und vollgesudelt, als Jimmy einen Rivalen mit dem Kopf voran in einen Fast-Action-Fleischwolf steckt, der an den Baumschredderer aus »Fargo« erinnert; dergestalt, dass der Bursche unten als Wurstmasse herausquillt.
Die Human-Sausage-Pampe kommt in einen Napf und wird einem Kampfhund serviert, der in einer engen Arrestzelle an einem weiteren Rivalen von Jimmy festgekettet ist – man sieht, die Drehbuchautoren nehmen es an Pfiffigkeit mit jedem Vollbild-Gestörten auf.
Wie toppt man das? Ganz einfach: Das Kino zeigt ab Dienstag sämtliche Dokumentarfilme von Werner Herzog.

25. April 6:15 AM

Vier unzerknüllte Seiten. (Chandler hat jeden Tag einen word count gemacht. Unfassbar.)
Jan H.: »Seit Erfindung der Keilschrift gibt es weltweit ganze zwölf Plots. Warum der 68 458te sein, der Enkidu und wie-heißt-er-noch variiert? Komponier ’n Jingle, das einschlägt, und du bist aus allem raus.«

Zurück in Frankfurt wird er die Ausbeute von ›Sent Mail‹ eindeutschen. Dabei werden sich alle Texte verändern. Sie können ohne weiteres bissiger oder bullshittiger werden als im englischen Original. Das macht nichts:
»Die deutsche Sprache«, so Sloterdijk, »eignet sich bekanntlich ideal für das Bestellen von Rheumasocken.«

26. April 11:48 PM

Eileen Myles wurde in Cambridge/Massachusetts auf katholische Schulen geschickt und von Nonnen schikaniert. Mit 19 war sie in Woodstock dabei. Unzählige nackte Füße stapften in der Nacht über den matschigen Hügel (»Es hörte sich an wie lauter schmatzende Mäuler … «), während unten auf der Bühne der Falsett-Sänger von Canned Heat »On the Road Again« wimmerte.
Sie rauchte Pall Malls, warf LSD ein, und am Morgen erschien eine Jesusgestalt, verteilte trockene Decken an die Durchnässten und machte eine segnende Gebärde. Ein Düsenjäger malte mit Rauch ein riesiges Peace-Zeichen an den Himmel. Hubschrauber warfen Rosen, pappige eingeschweißte Muffins und Mandarinen ab. »Ich liebe Klischees«, schrieb sie darüber, »und Woodstock war das größte Klischee von allen.«
Mitte der siebziger Jahre ging sie nach New York, um lesbische Dichterin zu werden. Der berühmte Robert Mapplethorpe fotografierte sie. Im Chelsea Hotel pflegte sie den bettlägerigen alten Dichterfreund James Schuyler, der an Multipler Sklerose litt. Ihre erste Lesung hatte sie im Punk Tempel CBGB’s.
Heute abend ist sie im Bowery Poetry Club aufgetreten. Ich war entschlossen, sie gut zu finden. Sie machte es mir leicht.
Aus der Nähe wirkt sie mit ihrem zerfurchten Gesicht (schnelles Leben? Krankheiten? beides?) älter als ihre 56 Jahre. Auf der Bühne – Jeans, T-Shirt, Tennisschuhe, nervöse Energie im Überfluss, rasend schnell gesprochener Text ohne Versprecher, professionell bis in die Spitzen ihrer Haare, die sie nach allen Seiten schlenkert – wirkt sie wie Anfang zwanzig.
Die erste Viertelstunde macht sie Standup Comedy, und sie ist wahrhaftig besser als Anne Heche und Richard Pryor zusammen …
»Das letzte Mal, dass ich beinah gefickt wurde, war ein Jugendfreund zu Besuch, der hatte den halben rechten Arm in meiner Fotze und sagte dauernd: ›Was für eine Verschwendung!‹ … Ich kam mir ein bisschen verdorben vor, verstehst du, aber wozu hat man Freunde … «
Bei Erscheinen ihres zweiten Buchs gab ihre Verlegerin eine Party. In einer Lesben-Disco. Eileens Schwester, extra aus Boston eingeflogen, kommt damit nicht klar, raucht einen Bomber-Joint nach dem anderen und wird hysterisch. Sie hat Krach mit ihrem Freund. Sie muss dringend zurück. Der letzte Flieger geht in einer halben Stunde. Das ist nicht zu schaffen. Im Taxi hat sie Halluzinationen. In Eileens Apartment wirft sie sich aufs Bett und schläft auf der Stelle ein.
Und Eileen Myles sitzt auf ihrem braunen Sofa:
»Es war halb eins. Ich wollte sonstwo sein, nur nicht hier. Auf dem Couchtisch meine Zigaretten, mein kleines Apothekerfläschchen mit Koks und das rote Telefon. ›Das‹, dachte ich, ›ist das Bild, das auf mein Buch hintendrauf gehört … ‹
Es war komisch, eine bewusstlose Frau auf meinem Bett zu haben. Ihr Rock war hochgerutscht. Ich musste mich daran erinnern, dass es meine Schwester ist. Sieh mich an. Niemand, den ich anrufen kann.
Da lag mein Buch. Fabelhaft. Ich fühlte mich wie vereist. So wird es jetzt immer sein. Große Dichterin, aber … irgendwie vereinsamt.
Ich nahm zwei Valium und döste ein auf dem großen braunen Samtsofa, das wie ein ausgepolsterter Sarg ist, und wie immer vor dem Einschlafen, eh ich das Bewusstsein verliere, höre ich eine Kinderstimme, die meinen Namen schreit.
Ich stellte mir vor, dass es genau so sein wird, wenn ich mal sterbe. Ich fand’s toll.«

Carl Weissner ist Schriftsteller und Übersetzer und hat unter anderem Werke von J.G. Ballard, William S. Burroughs und Charles Bukowski ins Deutsche übertragen.

Abdruck mit freundlicher ­Genehmigung des Verlags aus: Carl Weissner: Manhattan Muffdiver. Roman. Mit einer Einleitung von Fritz Ostermayer und einem Nachwort von Thomas Ballhausen. ­Milena-Verlag, Wien 2010. 180 Seiten, 17, 90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.