Lady Gaga zwischen Trash und Popfeminismus

Gaga Calling

Bis vor kurzem interessierten sich selbst Pop-Affine nicht für den neuesten Trash. Trotz gigantischer Verkaufszahlen und mehrerer Music-Awards blieben Lady Gagas Übertreibungen eher langweiliges Hintergrundgeräusch. Ihr Musikvideo zu »Telephone feat. Beyoncé« aber lässt hinhorchen.

In einem episch langen Videoclip spannt Lady Gaga, zusammen mit Jones Akerlund, ein Panorama von Filmzitaten auf, wo Tarantino auf Russ Meyer und »Thelma & Louise« trifft. Als hätte man mit Copy & Paste die Figuren ausgetauscht, werden Gaga und Beyoncé zu Protagonisten einer für den Mainstream tabubrechenden lesbischen Narration mit popfeministischer Kraft. Hat in Gagas geschäftiger Pop-Mall Pussy Power geschlummert, und wir haben es verpasst?
Beeindruckend ist, wie es Lady Gaga schafft, dass man nichts von ihr erwartet. Probate Poperfolgsrezepte mit eingängigen Melodiekonserven zu recyceln, ist gerade ihre Strategie. Sie präsentiert sich offen als kalkuliertes Marketingprodukt, das ohne Illusionen an der Herstellung eines Stars arbeitet. Das Album »The Fame Monster« oder das Lied »Paparazzi« klingen wie ein ironischer Kommentar auf sich selbst und erklären nebenbei die Funktionsweise des Popbusiness. Das gilt auch für Gagas Weiblichkeitsinszenierung, die kein Klischee auslässt. Leichtsinniges Party Girl, Helmut-Newton-Modell, reiche Diva, fiese Killer Lady – in anderthalb Jahren hat sie sämtliche Stereotype zusammengetragen, für die Madonna Jahrzehnte gebraucht hat. Beispielhaft stellt sie damit Weiblichkeit als austauschbare Maskerade und leeren Signifikanten aus. Sie ist Synthetik pur: eine geniale Strategie in Zeiten, wo alles schon mal da war.
Die Kostüme, mit prothesenhaft-abstehenden Gimmicks, die Seifenblasenkleidchen und archaischen Gesichtsmasken werden eingesetzt, um, den eigentlichen Gaga-Körper in den Hintergrund zu rücken. Die Outfits sind nicht dazu da, die Persönlichkeit zu begleiten. Umgekehrt: Gaga ist dafür da, die Kostüme spazieren zu führen In ihrem Universum geht Stofflichkeit vor Körperlichkeit, denn Gaga weiß die Regeln der Modewelt geistreich zu bedienen. Nicht zuletzt ist ihr Umgang mit dem Fashiongeschäft ein zen­traler Schlüssel für ihren Fame.
Gaga selbst ist der Meinung, dass sie herrschende Schönheitsideale unterwandert, weil sie kein normativer, sondern ein stranger Typ ist – so strange wie Grace Jones, meint sie. Aber ganz anders als bei einem alienhaften, deutlich an­drogynen Geschöpf wie Jones wird bei ihr das Strangeness-Potential kaum ausgeschöpft. Gaga scheint permanent darum bemüht, sich den Vorbildkörperlichkeiten von Madonna, Britney oder Beyoncé anzunähern. Trotz der Stoffmengen ist an ihrer Sexyness nichts ambivalent – krampfhaft hält sie an dem Beauty-Vokabular fest, auch wenn es ihr nicht steht. Mit den misslungensten Auftritten wird ihre Anbiederung an die Sexyness-Norm umso augenscheinlicher.
Eigentlich ist Lady Gaga am originellsten, wenn sie scheitert. Wenn sie hilflos den Moves ihrer Tänzerinnen hinterherhechelt, erfrischt sie mit humorvoll-clownesquen Gesten – was bei Frauenfiguren leider selten, aber umso typischer für Drag Queens ist. Wegen dieses Camp-Moments, diesem Knapp-Daneben einer Trash-Kopie haben sie die Schwulen lieb. Nicht zuletzt hat sie durch ihre flüchtige Erwähnung, sie sei eine Transperson mit Penis, eine Welle der Geschlechtsverwirrung ausgelöst, welche zeigt, dass biologische Männlichkeit problemlos auch als Gerücht hergestellt werden kann. Für den geneigten Gender-Studies-Forscher hat sich Gaga den Phallus angeeignet, ohne den Penis zu haben, und damit den psychoanalytischen Zusammenhang Phallus ist gleich symbolische Macht ist gleich biologischer Penis aufgebrochen. Letztlich revidiert sie das Gerücht selbst, durch eine (unscharfe) Nahaufnahme ihres Vaginalbereichs in der ersten Szene des Videoclips für »Telephone«. Für manche enthüllt sie so die allgemeine Abwesenheit des Phallus und besiegelt ihre Pussy Power.
Tatsächlich bleibt das »Telephone«-Video, das zu Beginn in einem Frauengefängnis spielt, erstaunlich konsequent in seinem lesbischen Anspruch. Der homoerotische Plot wird eingeführt, indem Gaga eine Butch küsst. Bis zum Ende wird die lesbische Narration durchgehalten und nicht – wie so oft – durch einen dahergelaufenen Boyfriend zurückgenommen. Das einzige, was zwischen Frau und Frau kommen kann, ist natürlich das Telefon: Der für lesbischen Sex typische Griff in den Schritt wird abrupt durch einen Anruf unterbrochen, und Gagas erotisierte Hand greift zum Handy – Marke »Virgin«. Die Erotikszene wird schließlich in einem einzigartigen Product-Placement-Ornament aufgelöst, wo Pussyshot, lackierte Fingernägel und Markentelefon als gleichberechtige Szenen nebeneinander stehen.
Ein paar lustige Schleichwerbungen weiter wird Gaga von ihrer Freundin Beyoncé vor dem Gefängnis abgeholt. Zusammen werden sie sich nach der klassischen Hausfrauenkiller-Methode  an Beyoncés sexistischem Freund rächen und einen Giftmord verüben.
Anders aber als in »Thelma & Louise« erfahren die aufmüpfigen Weiblichkeiten kein tragisches Ende. Ungestraft und verliebt fahren sie in Tarantinos Pussy Wagon aus »Death Proof« einem postfeministischen Happy End entgegen – hinein in eine Zukunft, in der alles gut wird, wenn man blendend aussieht, erfolgreich ist und seine Sexualität taktisch verwalten kann, so wie es gerade für die individuelle Kapitalanhäufung passt.
Angela McRobbie kritisiert in ihrem Buch »Top Girls« den Neuen Feminismus des Neoliberalismus: Die phallischen Karrieregirls sind jung und cosmopolitan, sie bestellen sich den neuesten Vibrator oder buchen Weiterbildungsseminare, um funktionsfähig für den Neoliberalismus zu sein.
Bei aller Pop-Allüre kann Gaga von den Begriffen Innovation, Originalität und harte Arbeit nicht lassen – »historisch« und »unvergesslich« möchte sie werden. Schließlich weisen die immer wieder erwähnten Lieblinge, seien es Rilke, Beethoven, David Bowie oder Andy Warhol, ihr den Weg. Lady Gaga hat sich selbst als Jahrhunderttalent entdeckt und reiht sich mit den rich­tigen Zitaten in die Avantgarde ein. Falsch liegt, wer dachte, wir würden hier über Pop reden. Was sie macht, sei vielmehr »performance art«. Leider scheint ihre Konzeptkunst kein Konzept zu haben, denn ein Statement zum Zusammenhang von »Popproduktion als Aktionskunst« fehlt. Sehr wohl Avantgarde ist sie deswegen, weil sich beim derzeit größten Popmusikstar alle einig sind, dass man über die Musik nicht lange reden muss. Die krisengebeutelte Musik­indus­trie findet ihr letztes Ventil beim massenkompatibelsten, 15 Jahre alten Eurotrash-Sound. Der hippe Gaga-Habitus peppt den Businessplan auf, für die neue urbane Youngster-Zielgruppe mit Kunst-LK, Eighties-Fashion-Faszi­nation und Gayness-Affinität.
Wir verehren Popstars für ihren Glamour und dafür, dass sie von der Bühne bestenfalls eine Wahrheit über uns aussprechen – eine Art Ruf aus der Zukunft. Aber käme der Anruf aus der Zukunft nicht eher von einem Videophone als von einem Telephone? Wenn Beyoncés Videophone-Song ein Kommentar zu zeitgenössischen Kommunikationsformen mobiler und privater Produktion von Pornographie ist, was will Gaga mit den vielen Festnetztelefonen?
Die Leistung von Lady Gaga bleibt, dass sie mit dem schon längst Überflüssigen big geworden ist. Die Austauschbarkeit und Leere ihrer Referenzen erlaubt es ihr, so gut wie alles in die Imagetrommel zu schmeißen und mainstreamfähig zu machen. Wegen ihres Geschicks für den Mainstream, für Glamour und Bigness sei sie verehrt. Ob sie damit mehr sagt als ihre ehemalige Mitschülerin Paris Hilton, ist die Frage. Denn in Sachen Genderbending und Modekult haben wir bei Peaches, Beth Ditto oder Chicks on Speed auch schon viel gesehen. Aber vielleicht kommt ja noch was.