»Alte« und junge Spieler im italienischen Fußball

Gerontokratie statt Meritokratie

Der italienische Fußball hat ein Altersproblem. Zahllose junge Spieler versauern in der Provinz.

Der englische Journalist Oliver Kay bezeichnete die Serie A vor zwei Jahren als »retirement home for Europe’s ageing footballers« und bezog sich dabei auf die Beobachtung, dass – anders als in der Vergangenheit – Ausstrahlung und finanzielle Möglichkeiten der höchsten italienischen Liga nur mehr in Würde gealterte und bei ihren bisherigen Vereinen verzichtbare Stars anlocken. Die Metapher vom Altersheim hat ihre Berechtigung, auch wenn es mittlerweile nicht mal mehr die van Nistelrooys dieser Welt nach Italien zieht. Allerdings ist der Ausspruch auch in einer Bedeutung treffend, die Kay nicht gemeint hat. Denn ganz abgesehen von den Superstars des Geschäfts, die es zyklisch immer mal mehr in die eine oder die andere Liga zieht, ist das italienische Nationalheiligtum Fußball wirklich alt geworden. Nur in Italien würden Journalisten auf die Idee kommen, den spritzigen Linksverteidiger Luca Antonini Spiel für Spiel als »junges Talent« zu preisen, das sich aber erst einmal »ein paar Spielzeiten« auf diesem Niveau beweisen sollte, um zu sehen, ob es womöglich für das Nationalteam reicht. Antonini ist 28 Jahre alt.
Die Zeiten, in denen Spieler wie Paolo Maldini direkt von der Jugendmannschaft in die Welt­spitze wechselten, sind lange vorbei. Und die Equipe, die unter Marcello Lippi im Sommer den Weltmeister-Titel verteidigen will, wird in weiten Teilen dieselbe wie 2006 sein. Nur eben vier Jahre älter. Spieler wie Fabio Cannavaro oder Fabio Grosso sind mittlerweile in die Heimat zurückgekehrt. Ins Altersheim. Italien hat bis auf wenige Ausnahmen mittlerweile die Meritokratie durch die Gerontokratie ersetzt. Es ist eine typisch italienische Vorstellung, dass ein 20jähriger ein absolutes Genie sein muss, um sich einen Platz auf der Bank der ersten Mannschaft zu ergattern. Und so führt der Weg von der Jugendauswahl praktisch immer »über die Dörfer«, das heißt, der Spieler wird an befreundete Provinzteams ausgeliehen, wo er dann viele Jahre lang die notwendige »Erfahrung« sammeln darf. Irgendwann in der zweiten Hälfte seiner Twen-Jahre wird dann entschieden, ob er nun womöglich gut genug ist.
Dabei ist der italienische Fußball in den Kinder- und Jugendligen mit einer Unzahl an Talenten gesegnet. Fußball ist weiterhin eine Art Religion, und praktisch jeder kleine Italiener hat zumindest für ein paar Jahre den Rasen einer der zehntausenden Fußballschulen umgepflügt oder seine Nachmittage bolzend auf dem Platz hinter der Gemeindekirche verbracht. Überall sieht man diese kleinen Spieler, die irgendwo noch einen Gang mehr haben, denen der Ball irgendwie freundlicher gesonnen scheint und die es trotzdem nie in den richtigen Fußball schaffen werden.
Die Gerontokratie beherrscht mittlerweile alle italienischen Lebensbereiche, Politik wie Wirtschaft, Universitäten wie Journalismus, Sport wie Arbeitsleben. Wenn ein 18jähriger im Profi-Fußball spielen will, muss er Totti sein, oder del Piero oder Maldini. Ansonsten nimmt er brav auf der Bank eines Provinzclubs Platz.
Denn in Italien muss der eine noch »wachsen«, der andere muss noch »reifen«. Und ein Spieler wie der vom AC Milan verpflichtete Adiyiah, der sicher kein Messi ist, aber immerhin dann doch Torschützenkönig der U21-Weltmeisterschaft, ist einfach noch nicht so weit, den heiligen Rasen des San Siro auch nur zu betreten. Nicht einmal für ein paar Minuten. Im Moment vertreibt er sich seine Zeit im Jugendteam. Auf der Bank. Beim selben AC Milan spielt auf seiner Position Amantino Mancini, Jahrgang 1980, seit zwei Jahren praktisch ohne Einsatz. Der Mann ist 29, und in grauer Vorzeit beim AS Roma war er gut. Jetzt ist er das zwar nicht, aber er hat ja bereits »Reife« bewiesen.
Wirklich phänomenale Spieler bringt jede Generation nur sehr wenige hervor. Zur gleichen Zeit wachsen allerdings Hunderte starker Spieler heran, die irgendwann – mit Erfahrung und Vertrauen – große Spieler werden können. In Italien mangelt es traditionell genau hieran. Ein junger Spieler mit Talent wird zunächst ein paar Jahre auf Wanderschaft in die unteren Ligen geschickt, um dann – bestenfalls – auf der Bank eines der großen Clubs Platz zu nehmen und darauf zu warten, dass der Stammspieler mit 38 seinen Rücktritt bekannt gibt.
Der 20jährige darf nach Cagliari oder Parma, um sich im harten Abstiegskampf die Knochen zu stählen. Der Stürmer wird sich mit erfahrenen Verteidigern messen müssen, deren erste Aufgabe es ist, ihm auf den Füßen zu stehen oder sein Knie zu bearbeiten. Vielleicht hilft ihm das, eine bestimmte Art Fußball zu erlernen, vielleicht erlangt er Kampfgeist und spielerische Härte. Was er aber ganz bestimmt nicht lernt, ist, an der Seite von Champions die besondere Luft der europäischen Spitzenspiele zu schnuppern, was es heißt, ein großer Spieler in einem großen Spiel zu sein, mit dem Druck und der Verantwortung eines Spitzenteams umzugehen und das Vertrauen eines mutigen Trainers zu spüren.
Ein phänomenaler Spieler braucht das alles nicht, denn er würde sich überall durchsetzen. Alle anderen Hoffnungsträger brauchen sehr präzise Etappen, um ihr Potential im Laufe der Karriere auszuschöpfen. Und nicht jeder junge Spieler ist gleich gestrickt. Aber nur in Italien besteht die Fixierung, dass ein junger Spieler erst zum Führungsspieler in einem Catania werden muss, um dann für ein Juventus »bereit« zu sein. Ein Federico Macheda, in Diensten von Manchester United, wird dagegen keinesfalls nach Sunderland geschickt, um sich hochzuarbeiten. Nein, er wird eingesetzt, ausprobiert, ihm wird Vertrauen geschenkt, er wird geschützt und angeleitet. Und wenn er einmal 20 sein wird, entscheidet man, ob man auf ihn bauen sollte oder nicht. Und dann wird er verliehen oder verkauft. Denn anderswo werden Spieler verliehen, bei denen man der Meinung ist, dass sie nicht das Zeug zum Stammspieler haben.
In Italien funktioniert das System genau andersherum. Das junge Talent spielt hier in Bologna oder Siena und wächst mit der Gewissheit auf, dass ihm niemand wirklich eine große Karriere zutraut. Selbst im Fall einer herausragenden Saison besteht die beste Möglichkeit darin, zum Heimatverein zurückbeordert zu werden, um dort auf der Bank Platz zu nehmen, bis sich der Stammspieler verletzt. Und dessen Reserve.
Der begabte junge italienische Fußballer findet seine Rollenmodelle in mittelmäßigen Haudegen, deren höchstes Ziel darin besteht, nicht abzusteigen, die in der Umkleidekabine von den glorreichen Zeiten der zweiten Liga berichten und davon, wie der Fußball damals noch eine ehrliche Arbeit für Holzfäller war. Und diese Spieler werden dann die Mentoren, Vaterfiguren, Idole und Modelle.
So ist aus einem Daniele Bonera, vor acht Jahren noch die Hoffnung der italienischen Defensive, ein ordentlicher Ergänzungsspieler beim AC Milan geworden. Und so begeistert man sich derzeit für den 28jährigen Matteo Brighi, der offensichtlich seinen Reifeprozess abgeschlossen hat. Italien ist voll von Spielern aus der Serie »Was ist aus dem denn geworden?«, die man dann mit 29, nach acht Jahren Lecce, wiederentdeckt und für gut genug für die Nationalmannschaft befindet. Was, wenn so jemand – Talent wird eben doch in die Wiege gelegt – statt acht Jahre lang in den Regginas und Lecces dieses Landes das solide Handwerk zu erlernen, Champion’s-League-Erfahrungen gesammelt hätte? Hätte man dann nicht statt eines sehr guten einen großartigen Spieler? Einen Namen?
Und so hat sich das Land auch fußballerisch in den vergangenen Jahren immer weiter in die Sackgasse manövriert. Auf der einen Seite hoch bezahlte ehemalige Fußballgrößen, die auf internationalem Niveau weder mithalten können noch irgendetwas zu beweisen oder zu erkämpfen hätten. Auf der anderen Seite demotivierte junge Talente ohne Selbstvertrauen. Denn woher sollte dieses Selbstvertrauen auch kommen, wenn ihnen niemand sonst vertraut? In Italien bist du entweder ein Phänomen oder Müll – fenomeno o bidone. Und all die Tausenden Jungs irgendwo dazwischen arrangieren sich in der Agonie der Mittelmäßigkeit, die dieses Land mittlerweile in so vielen Bereichen durchzieht. Vielleicht hat der italienische Fußball im Moment keinen Rooney, aber die Carraghers, Micah Richards und Lennons dürfen nicht spielen. Und jemanden wie Fabrizio Miccoli hat die gesamte Premier League nicht zu bieten. Er spielt beim US Palermo.