Gewerkschaften und Streikkultur in Deutschland

Zu hierarchisch, zu zentralistisch und zum Streiken viel zu träge

Gewerkschaftliche Organisationsformen und Streikkultur stehen in einem engen Zusammenhang. Das deutsche Gewerkschaftsmodell der sozialdemokratischen Einheitsgewerkschaft lässt dynamischen Arbeitskämpfen besonders wenig Raum.

Ihren Auftrag als soziale Konfliktakteure nehmen die deutschen Gewerkschaften kaum mehr wahr, gestreikt wird nur noch in seltenen Fällen. Für die deutsche Streikfaulheit allein die Gewerkschaftsfunktionäre verantwortlich zu machen, deren Zurückhaltung häufig der Standortlogik folgt, wäre jedoch zu kurz gegriffen. Wenn sich auch Funktionäre von Zeit zu Zeit über die mangelnde Mo­bilisierungsfähigkeit ihrer Mitglieder beklagen, dann zeigt das: Das Problem sitzt tiefer. Das Problem der Funktionäre – die passive Gewerkschaftsbasis – ist ebenso hausgemacht wie das Problem der Basis, die sich einem entfremdeten Funktionärsapparat gegenübersieht. Beides sind zwei Seiten derselben Medaille, beide hängen eng zusammen mit dem historisch gewachsenen Gewerkschaftsmodell in Deutschland.
Anders als in den meisten europäischen und amerikanischen Ländern hat sich in Deutschland fast ausschließlich das sozialdemokratische Gewerkschaftsmodell Geltung verschaffen können, das stark zentralistisch ist und die Gewerkschaften – ursprünglich in Arbeitsteilung mit der Partei – auf rein ökonomische Belange reduziert. Richtungs- oder syndikalistische Gewerkschaften spielten hier, wenn überhaupt, nur eine Nebenrolle. Und während seit den achtziger Jahren in anderen Ländern verstärkt kämpferische Basisgewerkschaften entstehen, und mit ihnen auch Gewerkschaftspluralismus, besteht in Deutschland nach wie vor eine Art Monopol des DGB, das nur hier und da von den Spartengewerkschaften herausgefordert wird. Vertreter dieses deutschen sozialdemokratischen Gewerkschaftsmodells werden nicht müde, die Bedeutung der Zentralgewerkschaft als Garant der Stärke der Lohnabhängigen zu betonen. Die Statistiken zeigen jedoch etwas anderes – nicht nur geringe Streiktage und eine rückläufige Reallohnentwicklung. Es ist auch äußerst bezeichnend, dass eine der am besten organisierten Gewerkschaftsbewegungen der Welt nicht imstande ist, den Angriffen auf die Lohnabhängigen etwas entgegenzusetzen.
Organisationsmasse ist nicht gleich Organisationsstärke. Zu diesem Ergebnis kamen bereits 1988 die Sozialwissenschaftler Lars Calmfors und John Driffill. Nach einer von ihnen veranstalteten Studie können unterschiedliche Gewerkschaftsstrukturen ähnliche Effekte zeitigen. Im Zentrum ihrer Analyse stehen dabei die Verhandlungssysteme, wobei sie zwischen eher dezentralen und eher zentralistischen Strukturen unterscheiden. Sie stellten damals fest, dass zentralisierte Gewerkschaften, gerade im Kontext des Korporatismus, fast ebenso zurückhaltend wirken wie eine entsolidarisierte Arbeitnehmerschaft, die etwa allein in ein Betriebsgewerkschaften orga­nisiert ist.
Während sich isolierte Betriebsgewerkschaften am Unternehmenswohl orientieren müssten, könnten Breitengewerkschaften durch simultane Lohnkämpfe das Dilemma betrieblicher Konkurrenz durchbrechen. Allerdings würden gerade Zentralapparate dazu neigen, die gesamtwirtschaft­liche Situation zu berücksichtigen. Mit Blick auf den Standortwettbewerb simulierten sie deshalb in der Fläche die Lohnsetzungsprozesse von Werksvereinen. Ähnlichen Einsichten folgend, revidierte denn auch die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) im Jahr 2006 ihre standortpolitischen Reformempfehlungen und brach mit dem Dogma, Gewerkschaftsmacht müsse per se abgebaut werden. Seit der Krise weiß man: Nirgends wurde so wenig Rabatz gemacht wie etwa in Deutschland oder Österreich, den Ländern der Einheitsgewerkschaften.

Die Erkenntnis, dass bestimmte Gewerkschaftsformen als Mittel der Sozialdisziplinierung dienen können, ist keineswegs neu. Ein Ziel des Korporatismus war es ja durchaus, Klassendynamiken in kontrollierbare Bahnen zu lenken. Nicht umsonst wurde die Rolle des DGB in seiner Gründungszeit als »Bollwerk gegen Kommunismus und Radikalismus« definiert. Oder man betrachte die Erfahrung aus Großbritannien. Dort zog Maggie Thatcher den britischen Gewerkschaften unter anderem dadurch den Zahn, dass sie die Verhandlungssysteme zentralisieren ließ und somit das basisnahe, unberechenbare System der shop stewards brach. Die Thatcher-Regierung war sich der Bedeutung dezentraler Dynamiken bewusst.
Ein Blick über den Rhein, wo relativ dezentrale Strukturen viel Raum bieten für Betriebsaktionen, mag das verdeutlichen. Im Frühjahr scheint sich eine neue Reihe von Bossnappings zu entwickeln. Andere Belegschaften drohten im Ringen um Abfindungen erneut, die Produktionsmittel zu zerstören. Aber es gibt auch Offensiv-Auseinandersetzungen, bei denen es ebenso wenig zimperlich zugeht. Vor den Toren Marseilles befinden sich gut 150 Arbeiter einer Tee-Fabrik seit acht Wochen im Streik – für eine Lohnerhöhung von 200 Euro. Entgegen rigider gesetzlicher Vorgaben blockieren die Streikenden die Zugänge zur Fabrik, wahlweise mit Autoreifen, Paletten oder Ketten. Einer Klageschrift des Unternehmens zufolge sollen Streikbrecher und Direktion mit Feuerwerk und Eiern beworfen worden sein. Schließlich wurde vor einer Woche das Büro des Direktors gründlich auf den Kopf gestellt.
Sicher, das liberale Streikrecht in Frankreich mag die Lohnabhängigen weniger von Gewerkschaften abhängig machen, zumal die allermeisten Rahmentarifverträge allgemeinverbindlich sind. Doch ein Zusammenhang von Gewerkschaftsstrukturen und Streikkultur lässt sich nicht von der Hand weisen. So wusste schon nach der ersten Bossnapping-Welle Anfang 2009 die Welt die deutschen Manager zu beruhigen, dass Ähnliches in Deutschland nicht zu befürchten sei. »Konflikte werden traditionell nicht vor Ort, sondern zentral von den Großverbänden ausgefochten«, heißt es dort. Und ergänzend wird Klaus Tenfelde von der Ruhr-Universität Bochum herangezogen, der bestätigt, dass dementsprechend die »direkte Aktion« in den Betrieben hierzulande keine Rolle spiele.
Es hat eben eine andere Qualität, wenn sich zum Beispiel die Continental-Arbeiter in Clairoix mit Xavier Matthieu einen Kollegen aus ihren Reihen auswählen können, der direkt mit den Bossen verhandeln soll, oder ob ein betriebsfremder Funktionär hinter verschlossenen Türen einen Sozialplan für sein anonymes Klientel aushandelt. Das aktivierende Moment zeigt sich auch im Konzept der grève reconductible im Öffentlichen Dienst Frankreichs, wo Betriebsvollversammlungen selbst über die Fortführung und Methoden eines Streiks bestimmen. Da kann es schon passieren, dass entgegen der Order der Führung eigenständig weitergestreikt wird.
In Schweden, das nicht gerade für die impulsive Mentalität seiner Bewohner bekannt ist, hat die syndikalistische SAC zwar nur einen Bruchteil der Mitglieder der Zentralgewerkschaft, führte 2008 aber deutlich mehr Auseinandersetzungen als diese. Wenn man erwägt, dass die größte Gewerkschaft der BRD, die IG Metall, gerade einmal 30 000 aktive Mitglieder hat, kann man erahnen, was eine schlagkräftige Gewerkschaft mit einem hohen Anteil an Aktivisten bewirken kann.

Zwar ist die soziale Bedeutung des Streiks auch in DGB-Kreisen unbestritten, insgesamt tut man aber hierzulande gern so, als sei der Streik eine Massenvernichtungswaffe, die erst als letztes aller Mittel aus dem Arsenal geholt werden dürfe. Das kommt den hiesigen Unternehmern natürlich zupass. Diese für eine Gewerkschaft merkwürdige Haltung ist eben aber keineswegs nur äußerlich aufgezwungen. Auch in den Vorstands­etagen der Gewerkschaften ist klar, dass ohne eine aktive Basis wenig zu gewinnen ist. Interessengegensätze wischt man schließlich nicht mit Presseerklärungen vom Tisch. Die Organizing-Debatte, die seit Jahren Kreise zieht, belegt diese Erkenntnis. Das setzt auch die geplante »Strukturreform« des DGB fort, die auf größere »Mitglieder- und Beteiligungsorientierung« abzielt. Doch die gewerkschaftslinken Forderungen nach mehr Basiseinfluss laufen dem grundlegenden Organisationskonzept diametral entgegen. Schließlich ist jede gewerkschaftliche Ebene, ob gewählt oder eingesetzt, ehrenamtlich oder bezahlt, weisungsgebunden – und zwar von oben.

Nach wie vor überwiegt die Angst vor einem Kontrollverlust die Einsicht in die Notwendigkeit kollektiver und dynamischer Auseinandersetzungen. Vielmehr atmen DGB-Gewerkschaften auch nach dem Ende der Blockkonfrontation noch den Geist des Radikalenerlasses. So sind derzeit zwei Betriebsinitiativen vom Ausschluss aus der IG Metall bedroht, weil sie bei den Betriebsratswahlen mit »Alternative«-Listen gegen die Mehrheit angetreten sind.
Dabei kann die Bedeutung aktiver Minderheiten eigentlich nicht überschätzt werden. Wer, wenn nicht sie, legen den Grundstein für außergewöhnliche Bewegungen? Als Impulsgeber brauchen sie den Freiraum, Neues auszuprobieren, und können Beispiele setzen, die für die Gewerkschaftsbewegung im Ganzen von Bedeutung sind. Für diese förderlichen Kontrollverluste gibt es in Deutschland kaum Raum. In mechanistischer Logik, stets die Einheit beschwörend, neigt der DGB-Apparat dazu, Minderheitenimpulse zugunsten der Stabilität zu unterdrücken.
Es wäre längst an der Zeit, daran etwas zu ändern, doch gerade das ist nicht in Aussicht. Wahrscheinlicher ist es, dass die Einheitsgewerkschaft von außen unter Druck gesetzt wird, sei es durch andere Organisationen, sei es durch den Erwartungsdruck der arbeitenden Bevölkerung. Sollte im Juni die Tarifpluralität durch die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ermöglicht werden, wären es einmal mehr nicht die repräsen­tativsten Organisationen des Landes gewesen, die für ein Mehr an Bewegungsfreiheit sorgten und dem deutschen Sonderweg ein Ende bereiteten. Wem würde diese Entscheidung nützen? Die panische Unruhe, mit der Unternehmer auf die Lage bei der Lufthansa blicken, gibt da Hinweise.