Die Debatte über »Commons« und Gemeingut

Nach Fair Trade jetzt auch Fair Property

Ein Blick in die historische Diskussion zwischen kommunistischen Befürwortern staatlicher Planung und anarchistischen Anhängern selbständiger Genossenschaften könnte helfen zu erkennen, was an der Diskussion um die »Commons« problematisch ist. Auch wäre erst einmal zu klären, was unter dem Begriff eigentlich verstanden werden soll.

Moskau im Mai 1919: Mitten in einem der blutigsten Bürgerkriege überhaupt treffen sich zwei der erfahrensten Revolutionäre Europas – Lenin und der greise Anarchist Peter Kropotkin. Die Beiden kommen schnell auf die grundsätzlichen Differenzen ihrer jeweiligen Vorstellungen nachrevolutionärer Gesellschaften zu sprechen, die angesichts der zunehmenden Erfolge der Roten Armee ihren rein spekulativen Charakter verloren haben. Kropotkin legt seine Vorstellung einer sich permanent ausdehnenden Genossenschaftsbewegung dar, die gleichermaßen revolutionäre Bewegung wie egalitär-sozialistische Produktionsweise sein soll und die in seinen Augen bereits dabei ist, sich weltweit auszubreiten. Lenin hält dagegen. »Denken Sie wirklich, die kapitalistische Welt gibt der Genossenschaftsbewegung den Weg frei?« fragt er Kropotkin. »Sie wird mit allen Mitteln bemüht sein, sie selber in die Hände zu nehmen. Man wird sie in Abhängigkeit halten durch tausend Fäden, mit denen das Kapital diese neue, im Entstehen begriffene Richtung, die Ihnen in der Genossenschaftsbewegung so sympathisch ist, wie mit einem Spinnennetz umgarnen wird.« In der Eroberung der Staatsmacht und ihrer Nutzung zur wirtschaftlichen Umgestaltung sieht der politische und theoretische Kopf des Bolschewismus dagegen die einzige Möglichkeit, dieser Umgarnung zu entgehen. Nicht die Genossenschaften selbst sind der Streitpunkt – beide sind sich darin einig, dass in ihnen die Form einer neuen Kooperation der Arbeiter bestehen müsse –, sondern die Frage, ob sie selbständig wirtschaften oder aber nur die Basiseinheiten staatlicher Planung darstellen sollen.
Diese sehr traditionelle Diskussion innerhalb der Arbeiterbewegung, die schließlich für den weiteren Weg des russischen Staatskapitalismus keine Rolle mehr spielte, ist zuletzt wieder in die Debatten unter Linken zurückgekehrt. Unter dem Label »Commons« werden sie nicht nur kommende Woche auf dem Buko-Kongress in Tübingen im Zentrum der Auseinandersetzungen stehen. Insbesondere in den Resten der globalisierungskritischen Linken werden die »Commons« als Perspektive der kollektiven Aneignung diskutiert – »Kollektive Aneignung statt globaler Enteignung« ist das Motto des Kongresses, das bereits in vielen Basisgruppen und Foren diskutiert wird. Nicht zuletzt die Verleihung des Wirtschaftsnobelpreises an die Commons-Theoretikerin Elinor Ostrom im vergangenen Herbst (Jungle World 44/2009) hat darüber hinaus angedeutet, dass auch jenseits des linken Mikrokosmos eine gewisse Hinwendung zur Idee der Gemeingüterwirtschaft zu beobachten ist.

Die auffälligste Schwäche der gegenwärtigen Debatte, und das unterscheidet sie dann doch von der Diskussion zwischen Lenin und Kropotkin, ist aber zunächst ihre inhaltliche Unbestimmtheit, die sich auch terminologisch im Commons-Begriff niederschlägt, der historisch und logisch divergierende Konzepte zu vereinheitlichen sucht. In seiner Besprechung von Antonio Negris und Michael Hardts Buch »Common Wealth« in der Zeitung Analyse & Kritik hat Christian Frings auf diese Unbestimmtheit des Commons-Begriffs hingewiesen, indem er dessen drei völlig unterschiedliche Bedeutungen zu bestimmen versucht: »1) Stärkung der öffentlichen Güter, also staatliche Regulation; 2) Exodus: selbstorganisierte Projekte, eine solidarische Ökonomie neben der kapitalistischen Ökonomie und unabhängig vom Staat; 3) Aufstand: eine gemeinschaftliche Produktion kann erst nach der Zerschlagung von Staat und Kapital entwickelt werden.« Historisch könnte man diese Konzepte mit dem Reformismus, der lebensreformerischen bzw. anarchistischen Bewegung und dem Kommunismus in seinen besseren Stunden identifizieren.
Vor dem Hintergrund, dass historisch die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise die Trennung der Menschen von ihren Produktionsmitteln, vor allem dem bewirtschafteten Land, die Einhegung der Allmenden und schließlich die private Aneignung aller Güter und somit die Proletarisierung der bäuerlichen Bevölkerung zur Voraussetzung hatte, kann es kaum verwundern, dass die Ideen gemeinsamen Wirtschaftens oder gemeinsamer Aneignung insbesondere in der Frühphase der Arbeiterbewegung stets präsent waren. Der »Exodus« (Frings) als Option eines selbstorganisierten Reformismus zur Abmilderung der gröbsten Zumutungen des Kapitalismus hat sich aber immerhin in verschiedensten Formen erhalten.
Vor allem seit der Industrielle Robert Owen im 19. Jahrhundert die Gründung »kommunistischer Siedlungen« angeregt hatte, in denen Güter genossenschaftlich produziert und angeeignet werden sollten, erfreuten sich diese Konzepte für einige Jahrzehnte in verschiedenen Ländern einiger Beliebtheit. Langfristig bedeutsamer waren aber die zunächst von chartistischen Webern in England angestoßenen Konsumgenossenschaften, die sich international neben den Gewerkschaften und den sozialdemokratischen Parteien zur »Dritten Säule der Arbeiterbewegung« (Ferdinand Lassalle) entwickelten. Wenig erfreut zeigten sich dagegen Karl Marx und Friedrich Engels über diese Entwicklung, berührten die Genossenschaften doch lediglich die Zirkulationssphäre, »die Oberfläche des heutigen ökonomischen Systems«. Der Siegeszug der Genossenschaftsidee war dennoch nicht mehr aufzuhalten, vor allem nachdem die SPD ihren Widerstand dagegen um die Wende zum 20. Jahrhundert hin aufgegeben hatte. Langfristig waren es vor allem die Baugenossenschaften, die zumindest dem kapitalistischen Wohnungsmarkt ein paar Grenzen setzen konnten. Die zehn Prozent der Berliner Mietwohnungen, die derzeit immer noch in Genossenschaftseigentum sind, haben einen Beitrag dazu geleistet, dass im Vergleich zu anderen europäischen Metropolen die Mieten in Berlin immer noch relativ niedrig sind.

Insbesondere für die Anarchisten blieb die Genossenschaftsidee stets attraktiv, war sie doch im Gegensatz zu der sich zunehmend durchsetzenden staatlichen Wirtschaftstätigkeit und Regulation selbstorganisiert und lokal verankert. Die vor allem nach den großen Revolten in den zwanziger und siebziger Jahren entstandenen »Alternativbetriebe« gingen häufig genug auf den Anarchismus zurück. Bereits 1913 hatte Gustav Landauer die Richtung vorgegeben. Die Genossenschaften nähmen den »schmarotzenden und anhäufenden Machthabern die wirtschaftliche und damit jegliche Macht: das Kapital, den Wert ihres Geldes, die Arbeiter, die Möglichkeit, ohne produktive Arbeit zu leben«, so Landauer. Eine Position, der sich eben auch Peter Kropotkin verpflichtet fühlte, die allerdings häufig genug in die Selbstausbeutung oder zur vollständigen Anpassung an den Markt führte.
Einer Debatte darüber, warum die Gemeingüter, selbst in ihrer dominanten Form des Staatseigentums, vor allem seit den siebziger Jahren immer mehr in den Prozess der kapitalistischen Mehrwertproduktion integriert werden konnten und so ihr Emazipationspotential mehr und mehr einbüßten, wird man aber nicht so einfach entgehen können, wie es Benni Bärmann in Analyse & Kritik vorgeschlagen hat. Die Forderung nach »Commons« ohne eine genauere Bestimmung ihres Inhalts entspreche einer »Strategie, die es ermöglicht, unterschiedlichste Weltanschauungen nicht nur miteinander ins Gespräch zu bringen, sondern diesen auch eine Plattform für gemeinsames Handeln« zu bieten, so Bärmann.
Zwar muss man konstatieren, dass das Genossenschaftseigentum für manche immer wieder den Druck der Lohnarbeit und der allgemeinen Konkurrenz zu verringern half. Doch gleiches könnte man auch für das Staatseigentum beanspruchen. Wer einmal eine städtische Bibliothek besucht hat, weiß, dass trotz aller berechtigten Kritik an der Herstellung der Reproduktionsbedingungen für die Akkumulation, die den wesentlichen Grund für das Agieren der bürgerlichen Staaten darstellen, ein Kapitalismus ohne solche öffentlichen Räume noch unerträglicher sein könnte.
Dennoch sind beide Ideen, das revolutionäre Genossenschaftswesen sowie der »Planstaat« (Negri) und sein radikalerer Zwillingsbruder, der Arbeiterstaat, im »Spinnennetz« gefangen geblieben, das etwa bei Vertretern des Commons-Gedankens wie Elinor Ostrom oder der Heinrich-Böll-Stiftung gar nicht erst in Frage gestellt wird. Aus den Genossenschaften wurden im besten Falle – immerhin zumeist durchaus sympathische – Spielwiesen ausbeutungsärmerer warenproduzierender Ergänzungen des kapitalistischen Normalvollzugs, aus dem »Planstaat« wurde die staatlich-kapitalistische Wirtschaftstätigkeit. Wer von »gemeinsamer politischer Kon­trolle über das öffentliche Gut« spricht, der sollte deshalb die Argumentationen der beiden Altvorderen nochmals in Hinsicht auf die Zerstörung der Exklusivität des Eigentums (Lenin) und die egalitären Elemente des genossenschaftlichen Produzierens (Kropotkin) jenseits staatlicher Organisation hin sichten. Die Perspektive einer »freien Assoziation der Individuen« (Marx) zu erarbeiten, die die individuelle Entfaltung nicht auf exklusive Gemeinschaften begrenzt, sondern gesellschaftlich einfordert, wäre eine Kritik an der Zerstörung der »Commons« auf der Höhe der Zeit.