Lohndumping und Proteste bei der Deutschen Bahn

Von London bis Moskau

Während die deutschen Bahngewerkschaften noch um einen nationalen Branchentarifvertrag ringen, steigt die Deutsche Bahn schon in den europäischen Wettbewerb auf der Schiene ein.

Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will. Diese alte Parole der Arbeiterbewegung könnte Anfang August in Deutschland Wirklichkeit werden. Denn alle drei Gewerkschaften der Eisenbahner fordern bis dahin sowohl von der staatseigenen Deutschen Bahn (DB) als auch von den vielen neu am Markt auftretenden privaten Eisenbahngesellschaften die Unterschrift unter einen landesweiten Branchentarifvertrag. Nötig sei ein einheitliches Einkommensniveau in allen Eisenbahnunternehmen, »egal ob sie dem Staat gehören oder ausländischen Konzernen«, andernfalls werde man »um schmerzhafte Arbeitskämpfe nicht herumkommen«, verkündete Claus Weselsky von der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) gegenüber der Presse.
Mit rund 30.000 Mitgliedern ist die GDL, neben der konkurrierenden Transnet mit 270 000 und der Verkehrsgewerkschaft der deutschen Bahnbeamten (GdBA) mit 65 000 Mitgliedern, die kleinste der Eisenbahnergewerkschaften, gibt sich aber betont kämpferisch. So organisierte sie im Februar wiederholt Streiks bei der zum britischen Arriva-Konzern gehörenden Ostdeutschen Eisenbahn (ODEG). Dort erhält ein Lokomotivführer bis zu 10 000 Euro weniger Lohn brutto pro Jahr als bei der DB, die bis vor wenigen Jahren die gleichen Regionalstrecken betrieb. Inzwischen hat die ODEG sogar die Ausschreibung für zwei Regionalexpress-Linien in Berlin und Brandenburg gewonnen, die sie ab Dezember 2012 mit eigenen Zügen und Personal bedienen wird.

Die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Eisenbahngesellschaften wird vor allem über Lohn­dumping und über die Minderung der Lohn­kosten ausgetragen. Auch die DB beteiligt sich daran, indem sie nicht mehr selbst, sondern über neu gegründete Tochtergesellschaften an den Ausschreibungen teilnimmt. Die Gewerkschaften hinken dabei mit ihrer Forderung nach einem Branchentarifvertrag der realen wirtschaftlichen Entwicklung um Jahre hinterher. Denn während sie noch – untereinander zerstritten – um einen deutschen Flächentarifvertrag kämpfen, positionieren sich insbesondere die beiden großen Staatskonzerne in Deutschland (DB) und Frankreich (SNCF) längst für den europaweiten Wettbewerb. Beide werden wie private Unternehmen geführt und haben weiterhin einen Börsengang im Blick. Obwohl in Deutschland rund 70 Prozent der Bevölkerung genau dies ablehnen, konnte der geplante Börsengang der DB nur unter dem Eindruck der Finanzkrise in letzter Minute gestoppt werden.
Die Träume von Bahnchef Rüdiger Grube unterscheiden sich nicht so sehr von denen seines Vorgängers, dem vor gut einem Jahr gestürzten Hartmut Mehdorn. Seit Monaten hat es der britische Eisenbahnkonzern Arriva Grube angetan. »Manch eine tolle Braut kommt im Leben nur einmal vorbei, weshalb wir jetzt zugreifen wollen«, verkündete er in der Mitarbeiter-Zeitung DB-Welt. Ende April gab Grube ein 1,8 Milliarden Euro schweres Angebot für Arriva ab und hofft, diese ab Herbst in sein Imperium integrieren zu können. Arriva ist in zwölf europäischen Ländern aktiv und könnte der DB damit auf einen Schlag eine »exzellente Wettbewerbsposition« in Europa verschaffen. Das Ziel lautet: eine Fahrkarte von London bis Moskau.

Angesichts der fortgeschrittenen Liberalisierung des europäischen Eisenbahnmarktes sind die Pläne –marktwirtschaflich gedacht – nur konsequent. »Wenn wir nicht wachsen, werden es andere tun«, sagt Grube. Tatsächlich kündigte bereits vor einem Jahr die französische SNCF an, aus Strasbourg kommende Züge über Köln nach Hamburg fahren zu lassen. Wenn auch derzeit diese Pläne zu ruhen scheinen, für Grube ist klar, dass »am Ende der Liberalisierung in Europa fünf oder sechs große Konzerne übrig bleiben werden. Mein Ziel ist, dass die DB dabei ist und zum Treiber der Entwicklung wird – nicht zum Getriebenen.« Aus dieser Perspektive erscheint das Beharren auf dem »Brot- und Buttergeschäft hierzulande«, wie es Grube nennt, wie das Festhalten an der Württembergischen Eisenbahngesellschaft in der Gründungszeit der Deutschen Reichsbahn.
Am Beispiel Arriva lässt sich ein Schulungsstück über den Kapitalismus erzählen: In den neunziger Jahren übernahmen entlassene DDR-Reichsbahner – mehr aus Spaß und mit innovativem Tüftlergeist ausgestattet – stillgelegte Bahnstrecken in der Prignitz und reaktivierten sie für den öffentlichen Personennahverkehr. Innerhalb weniger Jahre wurde aus dem Hobbyverein »Prignitzer Eisenbahn« ein richtiges Unternehmen, dass eine Ausschreibung von Regionalstrecken nach der anderen gewann. Doch schon für den Betrieb einiger Regionallinien in Brandenburg fehlte das Kapital, und so stieg die Hamburger Hochbahn GmbH mit ihrer Tochtergesellschaft Benex ein, um zusammen als ODEG aufzutreten. Doch um sich um Regionalexpress-Linien zu bewerben, fehlte auch ihnen das Kapital, weshalb man Arriva aus Großbritannien mit ins Boot holte. Und Arriva gehört nun bald der DB – falls das Kartellamt kein Veto einlegt. So kommen die Strecken zurück zu »Mama«, nur dass sie eben mit 30 Prozent niedrigeren Löhnen betrieben werden.

Diesen Lohnsturz befürchten nun auch die Berliner S-Bahner. Nachdem ihre Bahn in Vorbereitung auf den Börsengang systematisch kaputtgespart wurde und inzwischen auch in der bürgerlichen Presse als Paradebeispiel für eine fehlgelaufene Privatisierung gilt, plant der rot-rote Senat in Berlin nun eine Teilausschreibung der S-Bahn. Doch statt den direkten Konflikt mit ihrem Arbeitgeber, der DB, zu suchen, der offensichtlich das Unternehmen zum Schaden der Berliner Bevölkerung gegen die Wand gefahren hat, wehrt sich die Transnet allein gegen die »Zerschlagung« der S-Bahn durch den Senat. Andererseits könnte Transnet bei der Ausschreibung zumindest auf der Übernahme der aktuellen Tarifverträge bestehen. Wie angespannt die Stimmung bei den S-Bahnern ist, zeigt sich auch daran, dass bei den jüngsten Betriebsratswahlen die relativ kämpferische GDL ihren Sitzanteil fast verdoppeln konnte.
Statt der kapitalistischen Dynamik hinterher zu hecheln, könnten die deutschen Bahngewerkschaften auch am Aufbau einer europäischen Bewegung mitwirken. Gerade wegen der kaum vorhandenen deutschen Beteiligung wirkten die Protestaktionen von etwa 1 000 europäischen Eisenbahnern Anfang April vor der Europäischen Eisenbahnagentur (ERA) im nordfranzösischen Lille »gegen die zunehmende Privatisierung und Liberalisierung im Eisenbahnbereich« etwas hilflos. Getragen wurde der Protest der Europäischen Transportarbeiterförderation (ETF) vor allem von britischen Eisenbahnern. Doch auch die stören sich insbesondere an einer Betriebserlaubnis für den deutschen ICE für den Euro-Tunnel und befürchten ein Aufweichen der Sicherheitsbestimmungen. Wie sich alle drei deutschen Bahngewerkschaften eher in einem Boot mit der DB sehen, fühlen sich auch Gewerkschaften aus anderen Ländern jeweils ihren noch nationalen Konzernen verbunden. So wird es noch ein weiter Weg bis zu europaweit erkämpften und geltenden Tarifverträgen sowie einheitlichen Arbeitsschutzbestimmungen sein. Dass so etwas möglich ist, haben vor wenigen Jahren die Hafenarbeiter vorgemacht, die mit koordinierten europaweiten Demonstrationen und Streiks die EU-Richtlinie zur Liberalisierung in den Seehäfen kippen konnten.