Ein »Memory Trip« mit einem Überlebenden der Roten Khmer in Kambodscha

Im Land der Killing Fields

Auch 30 Jahre nach dem Sturz des Regimes der Roten Khmer in Kambodscha ist es für die meisten Überlebenden immer noch schwer, mit ihren traumatischen Erfahrungen umzugehen. Mit Memory Trips zu den Schauplätzen des Terrors wollen kambodschanische NGO die Aufarbeitung der Vergangenheit befördern.

Wenn Mok Rouen einmal anfängt zu reden, ist er kaum noch zu bremsen. »Ich habe für jeden Tag eine Geschichte«, sagt er breit lächelnd, »Sie müssen nur sagen, was Sie wissen wollen.« Der 66jähriger Rentner hat es sich zur Aufgabe gemacht, Menschen über die kambodschanische Vergangenheit und die Zeit unter dem Regime der Roten Khmer aufzuklären. Nur mit Journalisten aus dem Ausland hat er noch nie gesprochen, und so will er gleich ein gemeinsames Foto machen, damit er den Menschen in seinem Dorf zeigen kann, dass er seine Geschichte weitererzählt.
Mok ist von der kambodschanischen NGO Youth for Peace auf einen sogenannten Memory Trip in die Hauptstadt Phnom Penh eingeladen worden. Ziel dieser Reisen, die regelmäßig organisiert werden, ist es, Orte zu besuchen, die mit der Herrschaft der Roten Khmer in Verbindung stehen. Gemeinsam mit 50 anderen Kambodschanerinnen und Kambodschanern verschiedener Altersgruppen und aus unterschiedlichen Regionen des Landes besucht Mok die Erinnerungsorte in der Stadt. Die meisten Teilnehmer setzen sich dabei zum ersten Mal so direkt mit der Geschichte ihres Landes auseinander.
Im 20. Jahrhundert wurde Kambodscha erst in den Indochina- und Vietnam-Krieg hineingezogen und dann zum Spielball der Mächte im Kalten Krieg. Weithin unbeachtet von der Welt entstanden aus verschiedenen anti-kolonialen Befreiungsbewegungen die Roten Khmer, die 1975 erfolgreich in Phnom Penh einmarschierten und die pro-amerikanische Diktatur des Generals Lon Nol stürzten. Damit, dass die Roten Khmer – die das Land von 1975 bis 1979 regierten – eines der weltweit absurdesten politischen »Experimente« durchführen würden, hatten die wenigsten gerechnet. Getrieben von marxistischen und maoistischen Visionen, wollten die Führer der Roten Khmer in Kambodscha einen neuen Bauernstaat errichten. Dafür galt es, alles Alte zu vernichten und einen »neuen Menschen« zu schaffen. Die Menschen aus den Städten, diejenigen, die Fremdsprachen beherrschten, in Ministerien und in der Verwaltung arbeiteten oder in irgendeiner Verbindung zur alten Ordnung standen, wurden zu Staatsfeinden erklärt. Wenn sie nicht direkt umgebracht wurden, schickte man sie in die Verbannung aufs Land, wo sie in neuen Kooperativen gigantische Bewässerungsprojekte errichten sollten. Fast ein Viertel der damaligen Bevölkerung verlor ihr Leben für dieses »politische Experiment«. Die Folgen davon sind bis heute zu spüren.

Als die Roten Khmer an die Macht kamen, war Mok 31 Jahre alt und lebte in der Provinz Kampong Chnang, eineinhalb Autostunden nordwestlich der Hauptstadt. Er war Angestellter in einer Außenstelle des Transportministeriums und Sicherheitschef seines Dorfes. Damit stand er eigentlich auf der falschen Seite. »Dass ich auf dem Dorf lebte und vorgab, ein Bauer zu sein, rettete mir das Leben«, erzählt er. Seine Provinz war eine der letzten, die von den Roten Khmer erobert wurden, und bald nach der Eroberung zogen auch durch die Hauptstraße seines Dorfes die Trecks der Stadtbewohner auf dem Weg in die Verbannung: »Immer wieder sahen wir Leute, die versuchten, wegzulaufen, aber nie hat es jemand geschafft.« Mok selbst musste während der Zeit der Roten Khmer in verschiedenen Kooperativen arbeiten und hat mehrere Familienmitglieder verloren. Die meisten von ihnen starben an Krankheiten und Unterernährung.
»Es gibt kaum jemanden in Kambodscha, dessen Familie nicht durch die Roten Khmer dezimiert wurde«, sagt Kerstin Kastenholz. Die junge Deutsche arbeitet im Auftrag des Deutschen Entwicklungsdienstes als Beraterin für Youth for Peace. Die Organisation, die Ende der neunziger Jahre gegründet wurde, sieht eine ihres wichtigsten Aufgaben darin, die Aufarbeitung der Vergangenheit zu unterstützen und einen Dialog zwischen jüngeren und älteren Menschen herzustellen. So leitet Youth for Peace neben den Erinnerungsreisen vor allem Dialogprojekte in den Dörfern und bildet junge Menschen, Mönche sowie Mitglieder von Gemeinderäten als Multiplikatoren aus.
Dass die beiden Orte Tuol Sleng und Choeung Ek auf dem Besuchsprogramm eines Memory Trip stehen, kommt nicht von ungefähr. Es sind die wohl symbolträchtigsten Orte im ganzen Land, die an die Gräueltaten der Roten Khmer erinnern. Und sie stehen in enger Verbindung zueinander. Nachdem die Gefangenen in Tuol Sleng ihre angeblichen Verbrechen gestanden hatten, wurden sie auf die Killing Fields gebracht, um dort ermordet zu werden. Tuol Sleng war ursprünglich eine Schule. Als die Roten Khmer die Stadt einnahmen, wurde die Schule zum Folterzentrum umfunktioniert und bekam den Namen S-21. Dorthin kamen vor allem politische Gefangene. Sie wurden so lange verhört und gefoltert, bis sie gestanden, was auch immer ihnen vorgeworfen wurde. Nach der Vertreibung der Roten Khmer aus Phnom Penh wurde dort 1979 ein Museum eingerichtet. Auch in Choeung Ek gibt es ein Museum, das die Geschichte der Killing Fields dokumentiert.

Dass man heute so genau Bescheid weiß über die Geschehnisse in Tuol Sleng, liegt an der Akribie der Henker. Über jeden Gefangenen gab es eine Akte mit einem Foto, in der Folterprozess und Todesurteil dokumentiert wurden. So gibt es zumindest über die Identität der Menschen, die dort ihren Tod fanden, Gewissheit. Über 20 Jahre später begann im März vergangenen Jahres vor dem Khmer-Rouge-Tribunal (Extraordinary Chamber in the Courts of Cambodia) – einem Hybrid-Gericht, das von der Uno und von der kambodschanischen Regierung besetzt wird – das erste Verfahren gegen einen Funktionär der Roten Khmer. Kaing Guek Eav, alias Duch, war der Leiter von S-21. Ihm werden Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen und Mord vorgeworfen. Ein Urteil wird für den Sommer dieses Jahres erwartet. Von über 15 000 Gefangenen haben nur sechs Menschen die Zeit unter seiner Aufsicht in Tuol Sleng überlebt.

Der Besuch in Tuol Sleng hat Mok sichtlich beeindruckt. Bei der Führung durch die Räume der Gedenkstätte lässt er sich keine Information entgehen. Prüfend nimmt er immer wieder die ausgestellten Folterwerkzeuge in die Hand und diskutiert deren Funktionsweise mit seinen Begleitern. Er will verstehen, er will wissen, was genau hier vor über 20 Jahren passiert ist.
Youth for Peace ist er dankbar dafür, dass die Organisation es ihm ermöglicht, an diese Orte zu kommen und das Grauen mit eigenen Augen zu sehen. Dabei braucht er selbst keine Beweise mehr, er hat seine eigenen Erinnerungen an die dunkelsten fünf Jahre der kambodschanischen Geschichte. »In meiner Heimatregion kenne ich die mass killing places und weiß, was passiert ist«, erzählt er, »aber über diese Orte in Phnom Penh habe ich nichts gewusst.«
Die Roten Khmer hielten sich mit einem ausgeklügelten System aus Zwang und Repression an der Macht. Neben der inneren Feinderklärung war vor allem die Zerstörung alter Familienstrukturen ihr Hauptanliegen. Ersetzt wurde diese durch neue Strukturen innerhalb der Angkar, wie die Roten Khmer ihre revolutionäre Bewegung nannten. Die Kinder wurden von ihren Familien getrennt und von klein auf in die Bewegung integriert. Die Rationierung der Lebensmittel war ein wichtiges Instrument der Kontrolle. Übereinstimmend berichten Überlebende immer wieder davon, dass es oft nur eine kleine Schale Reis am Tag gab, für die man lange anstehen musste. Das Land produzierte zwar Reis im Überfluss, der aber war zum Export in den Bruderstaat China bestimmt. Von dort wurden im Gegenzug Waffen für den Krieg importiert. Die Dörfer waren von Spitzeln durchsetzt, und jeder, der sich nicht fügte oder öffentlich Kritik äußerte, musste mit dem Tod rechnen.
Moks schlimmstes Erlebnis war, wie er sagt, den Tod eines nur wenige Monate alten Babys nicht verhindern zu können. Es war gegen Ende des Jahres 1976, als er mit anderen Männern zum Pflanzen von Kokospalmen abkommandiert war, erzählt er. Bei der Arbeit in den Feldern sahen sie eine Frau mit einem Kind im Arm. Sie versuchte zu fliehen und wurde von einigen Aufpassern der Roten Khmer verfolgt. Um schneller flüchten zu können, legte sie ihr Kind unter einem Baum ab. »Alle aus meiner Gruppe sahen die Frau und das Baby«, erzählt Mok kopfschüttelnd, »aber keiner konnte den beiden zu Hilfe eilen, da überall Aufpasser waren und wir große Angst hatten.« Während die Frau verhaftet und auf einem lokalen mass killing place hingerichtet wurde, überließ man das Kind seinem Schicksal. »Es wurde von roten Waldameisen gestochen und fand alleine seinen Tod. Nie werde ich diese Bilder vergessen.«

Es ist selten in Kambodscha, jemandem wie Mok zu begegnen. Die Menschen reden in der Regel nicht über ihre Erlebnisse. Denn nur wer damals schwieg, hatte eine Chance zu überleben. »Erinnerung ist vor allem für die Jugend wichtig«, davon ist Mok überzeugt. Er hat häufig feststellen müssen, dass viele junge Menschen in Kambodscha keine Ahnung von der Geschichte ihres Landes haben. Das ist fatal in einer Gesellschaft, in der 60 Prozent der Bevölkerung unter 35 Jahre sind. Auch in der Schule wird das Thema ausgeblendet, gerade erst hat DC-Cam, das Dokumentationszentrum über den Genozid in Kambodscha, ein erstes Schulbuch über die Jahre unter der Herrschaft der Roten Khmer herausgegeben. Wenn Mok von seinen Erlebnissen erzählt, glauben ihm die Jugendlichen oft nicht. Aus diesem Grund ist ihm der Dialog mit ihnen wichtig. Deshalb redet er auch in Tuol Sleng und Choeung Ek mit jugendlichen Besuchern, klärt sie über die Folterpraktik auf und versucht, die Geschehnisse verständlich zu machen.
Die Reisen zu Erinnerungsorten können viel dazu beitragen, die Erzählungen der Überlebenden mit Beweisen zu untermauern. Erst der Anblick der aufgebahrten Schädel in den unzähligen Stupas, die zum Gedenken an die Ermordeten errichtet wurden, vertreibt bei vielen jungen Menschen die letzten Zweifel.
Der Prototyp einer Stupa wurde in Choeung Ek von einem vietnamesischen Militärhistoriker errichtet. Dies legte die Grundlage für die Aufbahrung der Schädel aus den Massengräbern, wie man sie mittlerweile überall im Land kennt. Choeung Ek ist noch immer ein Symbol des Grauens, hier gibt es viele Massengräber, die bis heute nicht exhumiert sind. Nur eine kleine Metallkette und ein Schild »Please don’t walk over the massgrave« weisen darauf hin, dass unter der Erde noch die Überreste tausender Menschen liegen.
Der Besuch der Reisegruppe von Youth for Peace in Choeung Ek endet mit einer buddhistischen Zeremonie. Vor der Stupa, in der tausende Schädel aus den Massengräbern der Killing Fields aufgebahrt sind, haben sich drei Mönche im Schneidersitz niedergelassen. Vor ihnen im Halbrund knien die Teilnehmer der Rundreise und beten gemeinsam mit den Mönchen. Angeleitet wird die Zeremonie von Mok, der flink alle an ihre Plätze dirigiert und die Räucherstäbchen verteilt. Für ihn ist das Routine. Er ist Mitglied im Beirat der Pagode seines Heimatdorfes und auch dort für die Vorbereitung religiöser Feste zuständig. Für ihn hat die Zeremonie die Funktion, an die Toten zu erinnern und Versöhnung zu stiften.
Tuol Sleng und Choeung Ek sind Orte, die auf dem Programm der meisten Touristen stehen, die nach Kambodscha kommen. Sie kommen in viel größerer Zahl als die Kambodschaner, und so sind es ihre Eintrittsgelder, welche die Einrichtungen hauptsächlich finanzieren. Dieses große Interesse fehlt bisher in der kambodschanischen Gesellschaft. Viele Einheimische bekommen jedoch durch Programme von nationalen NGO die Möglichkeit, sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Wie Mok mit dem Memory Trip von Youth for Peace.
Nach zwei Tagen Programm in Phnom Penh ist Mok sichtlich ermüdet und freut sich auf die Rückkehr in sein Heimatdorf. Dort will er seine Erlebnisse in der Hauptstadt weitererzählen.
Auf die Frage, was für ihn Gerechtigkeit bedeutet, lächelt er und antwortet: »Ehrlichkeit.« Ehrlichkeit vor allem in Hinblick auf das, was in der Vergangenheit passiert ist.