Die Koalitionsgespräche nach der Wahl in Großbritannien

Gedränge in der Downing Street

Nach den Wahlen in Großbritannien hat keine Partei die absolute Mehrheit der Wählerstimmen bekommen. Zum ersten Mal seit 35 Jahren laufen in London Koa­litionsgespräche.

»Die Wähler haben gesprochen, nur was sie gesagt haben, wissen wir noch nicht.« So brachte Ed Miliband, Labours noch amtierender Energie- und Klimaschutzminister, am Freitagmorgen während der Auszählung der Stimmen die Situation nach den britischen Wahlen auf den Punkt.
Dass Premierminister Gordon Brown keine gute Nacht haben würde, war lange vor dem Wahltermin am Donnerstag vergangener Woche abzusehen. Die Labour Party kam landesweit auf 29 Prozent der Stimmen und fuhr eines der schlechtesten Ergebnisse der Nachkriegsgeschichte ein. Im neuen Parlament werden noch 258 Labour Abgeordnete sitzen, 91 weniger als zuvor. Wenig überraschend war auch, dass Browns Herausforderer, David Cameron, nicht genug Wähler hinter sich bringen konnte, um die Wahl eindeutig zu entscheiden. Die Tories legten nur um 3,8 Prozent zu und kamen auf 36,1 Prozent. Mit 307 Abgeordneten fehlen ihnen 20 Sitze, um eine absolute Mehrheit zu erreichen.

Mit dem Ergebnis der Liberaldemokraten hatte man hingegen nicht gerechnet. Parteiführer Nick Clegg war im Wahlkampf nach seinen erfolgreichen Auftritten in Fernsehdebatten bereits als möglicher neuer Premier gehandelt worden. In einer Welle von »Cleggstasie« und »Cleggomania« wurden den Liberalen Gewinne bis zu zehn Prozent vorausgesagt. Doch am Wahltag verbuchte Cleggs Partei bloß einen mageren Gewinn von einem Prozent und erreichte 23 Prozent der Wählerstimmen. Sie verlor fünf Sitze und stellt nun 57 Abgeordnete im neuen Unterhaus.
Rund 30 Sitze gingen an schottische und walisische Nationalisten, die nordirischen Parteien sowie an die Grünen. Deren Vorsitzende Caroline Lucas gewann in der südenglischen Küstenstadt Brighton einen Sitz für die Partei. Sie erreichte 31 Prozent der Stimmen und übertrumpfte damit den Kandidaten der Labour Party. Die Grünen sind damit zum ersten Mal in ihrer 25jährigen Geschichte im britischen Unterhaus vertreten.
Trotz eines Ergebnisses, das deutlich unter den Erwartungen blieb, kommt dem Liberaldemokraten Nick Clegg nun die Rolle des Königsmachers zu. Clegg hatte bereits vor den Wahlen erklärt, dass die Partei mit den meisten Stimmen und Sitzen ein Recht auf den ersten Versuch zur Regierungsbildung habe. Damit spielte er den Ball den Konservativen zu.
Eine Koalition von Konservativen und Liberaldemokraten hätte rechnerisch eine stabile Mehrheit. Cameron hat bereits Angebote an die Liberaldemokraten gemacht, sie könnten wohl einige Minister in seinem Kabinett stellen. Doch politisch ist eine solche Koalition eher problematisch. Denn die Liberaldemokraten stehen in vielen Politikbereichen links von der Labour Party. Bei Steuern und Finanzen, aber auch bei der Europa- und Verteidigungspolitik liegen die Tories und die Liberaldemokraten meilenweit auseinander. Auch in Hinblick auf eine aus Sicht der Liberaldemokraten unerlässliche Reform des Wahlrechts haben sich die Konservativen bisher kaum kompromissbereit gezeigt.
Das Ergebnis der Liberalen hat deutlich gezeigt, welche Nachteile das Mehrheitswahlrecht für kleinere Parteien bringt: 23 Prozent der landesweit abgegebenen Stimmen sind auf eine Partei entfallen, die schließlich weniger als zehn Prozent der Sitze im Parlament erhalten hat. Weil das bisherige Wahlrecht eindeutige Vorteile für die großen Parteien mit sich bringt, ist allerdings in diesem Punkt ein Entgegenkommen der Konservativen höchst unwahrscheinlich. Ein Kompromiss könnte darin bestehen, ein Referendum über die Reform des Wahlrechts abzuhalten. Doch das Risiko solch eines demokratischen Vorgehens mag den Tories zu groß erscheinen. Bereits 1976 waren Koalitionsgespräche zwischen Tories und Liberalen an diesem Punkt gescheitert. Margaret Thatcher, die als Ministerin an den Verhandlungen beteiligt war, sagte damals, die Tories blieben unter einem Verhältniswahlrecht für Jahrzehnte von der Regierung ausgeschlossen. Sicher ist, dass die Partei politisch an Einfluss verlieren würde, hätte Großbritannien ein repräsentativeres Wahlrecht.
Auch in der Europa-Politik gibt es große Unterschiede zwischen den Konservativen und den Liberalen. Cameron erklärte bereits, seine Partei sei zu keinen Kompromissen in Hinblick auf eine pro-­europäische Politik bereit. Dies würde allerdings nicht zu unüberwindbaren Problemen führen, da derzeit keine maßgeblichen europapolitischen Entscheidungen anstehen. Das ist anders im Bereich der Verteidigung, wo die Liberaldemokraten Einsparungen in Milliardenhöhe versprochen haben, indem sie auf die fällige Erneuerung des britischen Nukleararsenals verzichten wollen. Die Konservativen und Labour haben sich hingegen für eine solche Erneuerung ausgesprochen.

Ein großes Hindernis für eine Koalition von Tories und Liberalen ist die Steuerpolitik. Die Liberaldemokraten wollen Geringverdiener entlasten und eine neue Immobiliensteuer einführen, die vor allem die Reichen trifft. Die Konservativen wollen dagegen die Erbschaftsteuer abschaffen, zum Vorteil der Besserverdienenden im Lande.
Darüber hinaus hat Cameron versprochen, sofort Sparmaßnahmen in Höhe von sechs Milliarden Pfund einzuleiten, um die defizitären britischen Staatsfinanzen zu sanieren. Labour und die Liberalen kritisieren, dass dies die Gefahr einer erneuten Rezession erhöhe, und wollen mit den Sparmaßnahmen warten, bis sich die Wirtschaft deutlich erholt hat.
Die Sondierungsgespräche werden derweil von den Turbulenzen der Finanzmärkte überschattet. Dort blickt man sehr genau auf die Entwicklungen in London. Als am Freitagmorgen die Ergebnisse der Wahlen bekannt wurden, sackte das Pfund an den internationalen Märkten sofort ab. Alle Politiker haben deswegen von der Notwendigkeit gesprochen, sich schnell auf eine stabile neue Regierung zu einigen. Die gegenwärtige Instabilität erhöht den Druck auf alle Parteien, sich kompromissbereit zu zeigen. Gleichzeitig wird es für Clegg schwer sein, seinen Parteimitgliedern und vor allem seinen Wählern eine Abmachung mit den Konservativen zu verkaufen, die keine sub­stan­tiel­len Erfolge mit sich bringt.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass sich die Liberaldemokraten auf eine Koalition mit der Labour Party einließen. Aber zusammen haben beide Parteien keine Mehrheit im Parlament. Selbst mit der Unterstützung der Grünen sowie der irischen Schwesternparteien käme eine Lib-Lab-Koalition nur auf 320 Sitze, sechs unter der absoluten Mehrheit. Zwar könnten zusätzlich noch die neun schottischen und walisischen Nationalisten einbezogen werden, doch auch dies würde kaum eine stabile Mehrheit bringen. Die meisten Liberaldemokraten würden einen Lib-Lab-Pakt bevorzugen, weil es starke Überschneidungen zwischen beiden Parteien vor allem in der Finanz- und Steuerpolitik gibt. Labour-Politiker hatten außerdem bereits am Wahlabend umfangreiches Entgegenkommen versprochen. Wirtschaftminister Peter Mandelson machte mit seiner Aussage, das Ende des Mehrheitswahlrechts sei gekommen, eine deutliche Avance an die Liberaldemokraten. Auch der amtierende Premierminister hat bereits umfangreiche Zugeständnisse gemacht. Eines hat er den Liberaldemokraten nicht angeboten: seinen eigenen Job. Clegg hatte vor den Wahlen gesagt, dass er sich nicht vorstellen könne, einen Premierminister im Amt zu belassen, der ohne Wahlen ins Amt kam und eine Wahl verloren hat.
Sollten die Verhandlungen scheitern, könnten die Konservativen auch versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden. Angesichts der höchst umstrittenen Sparmaßnahmen, die Cameron vorantreiben will, birgt auch dieser Weg nicht wenige Risiken. Groß ist vor allem die Gefahr, dass Cameron bald eine Abstimmung im Parlament verlieren könnte. Das wäre ein Vertrauensverlust, der wohl zu direkten Neuwahlen führen würde.