Zwei Dokumentarfilme von Claude Lanzmann auf DVD

»Elegante Frauen tragen Seidenstrümpfe und Hüte«

Basierend auf Interviews, die Claude Lanzmann während der Dreharbeiten zu »Shoah« aufgezeichnet hatte, entstanden Jahre später zwei eigenständigen Dokumentarfilme. »Ein Lebender geht vorbei« (1997) und »Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr« sind nun auf DVD erschienen.

Gerade haben sich die Kontroverse um Claude Lanzmanns Autobiografie und die Diskussion um die gewaltsame Verhinderung einer Vorführung von »Warum Israel« in einem Hamburger Kino durch linke Antizionisten beruhigt, da erscheinen nun seine beiden letzten Filme »Ein Lebender geht vorbei« (1997) und »Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr« (2001) erstmals in Deutschland auf DVD. Dass diese Veröffentlichungen eine vergleichbare mediale Aufmerksamkeit erlangen könnten wie Christian Welzbacher mit seinem Artikel »Kleine Warnung an den Rowohlt-Verlag« in der Zeit, der die Kontroverse um Lanzmanns Lebenserinnerungen ausgelöst hatte, war nicht zu erwarten. In seinem Artikel hatte Welzbacher Lanzmann vorgeworfen, in der Darstellung der Entlassung des ehemaligen Rektors der FU Edwin Redslob die Fakten falsch wiedergegeben zu haben. Spiegel, FAZ und Süddeutsche Zeitung druckten Erwiderungen, die FAZ sprach sogar vom Versuch eines Rufmordes an Lanzmann.
Ruhig verhielt sich das Feuilleton dagegen nach der gewaltsamen Blockade des Kinos, in dem »Warum Israel« gezeigt werden sollte. Für Lanzmann war das Schweigen der deutschen Presse der zweite Skandal nach dem antisemitischen Protest gegen »Warum Israel«. Einen Film, der sich emphatisch für Israel ausspricht, zu verteidigen, scheint dem Feuilleton schwer zu fallen.
Während sich »Ein Lebender geht vorbei« mit dem Versagen der Zeitgenossen beschäftigt, geht es in »Sobibór« um den Aufstand in dem gleichnamigen Vernichtungslager. In »Sobibór« verarbeitet Lanzmann Material, das in »Shoah« keine Verwendung gefunden hatte. Der Filmdokumentation liegt ein Gespräch zugrunde, in dem der aus Polen stammende Yehuda Lerner berichtet, wie er einen deutschen SS-Offizier erschlägt und damit den Aufstand einleitet, der zum Aufstand und zum Ende des Lagers führte. Auch der knapp einstündige Film »Ein Lebender geht vorbei« entstand aus dem Material eines 1979 ursprünglich für »Shoah« geführten Interviews. Befragt wurde der Schweizer Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes, Dr. Maurice Rossel. Im Vorspann erklärt Lanzmann: »Ich danke Maurice Rossel dafür, dass er mir gestattet hat, heute das Interview zu verwenden, das er mir 1979 gewährte. ›Heute, als Achtzigjähriger‹, schrieb er mir, ›erinnere ich mich nicht mehr so genau an den Mann, der ich damals war. Ich denke, ich bin weiser geworden oder auch verrückter, was auf dasselbe hinausläuft. Seien Sie gnädig, machen Sie mich nicht zu lächerlich.‹ Dies war nicht meine Absicht.« Lanzmann führt Rossel nicht vor, sondern zeigt das Versagen der sogenannten neutralen Beobachter.
Die Delegierten des Roten Kreuzes hatten die Aufgabe, die Einhaltung der Genfer Konvention in den deutschen Kriegsgefangenenlagern zu überwachen. Rossel hatte Auschwitz und Theresienstadt aufgesucht. Nach Auschwitz war er auf eigenen Wunsch gefahren, nach Theresienstadt auf Einladung der nationalsozialistischen Führung. Mit dem im Titel genannten »Lebenden, der vorbei geht« ist Rossel gemeint, der am 29. September 1944 als einer von wenigen Ausländern überhaupt die Kommandantur von Au­schwitz betrat, unter dem Vorwand, Medikamente für die Gefangenen anbieten zu wollen. Im Interview mit Lanzmann gibt er an, weder Rauch noch Züge gesehen und auch zum Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau keinen Zugang gehabt zu haben. »Wieder einmal haben wir beim Verlassen von Auschwitz den Eindruck, dass das Geheimnis gut gewahrt bleibt«, schreibt Rossel später in seinem Bericht über den Besuch. Thema von »Ein Lebender geht vorbei« ist nicht die Vernichtung der europäischen Juden, sondern die Rolle der Zuschauer, der scheinbar neutralen Beobachter und deren Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten.
Ein wichtiges Element dieser Instrumentalisierung war das Lager Theresienstadt, das Rossel am 23. Juli 1944 auf Einladung der nationalsozialistischen Führung gemeinsam mit zwei dänischen Vertretern der Hilfsorganisation besuchte. Die zum Konzentrationslager umfunktionierte Festung aus dem 18. Jahrhundert im Nordwesten der Tschechoslowakei wurde als Durchgangs­lager für prominente Juden, etwa im Ersten Weltkrieg geehrte jüdische Bürger, Musiker, Schauspieler oder Wissenschaftler, genutzt. Für insgesamt 140 000 Menschen war es eine Zwischenstation auf dem Weg in ein Vernichtungslager in Osteuropa. Nach außen jedoch war das Lager als »Musterghetto« (Adolf Eichmann) angelegt. Das »Potemkinsche Ghetto«, wie Lanzmann es im Vorspann des Films nennt, war Teil einer gezielten Politik der Täuschung. Im Film erklärt Lanzmann gegenüber Rossel: »Himmler ging es nur darum, die Massenvernichtung zu verschleiern, und Theresienstadt war etwas, das man vorzeigen konnte und wollte. Die Wahrheit ist aber, dass vor dem Besuch des Roten Kreuzes fast 100 000 Juden, die in Theresienstadt gewesen waren, deportiert wurden nach Au­schwitz und Treblinka und dort umkamen. Und nach dem Besuch genauso. Das Ghetto von Theresienstadt lebte in Angst und Schrecken. Was Sie tatsächlich gesehen haben, war die Angst dieser Juden.«
Was Rossel gezeigt wurde, war eine inszenierte Normalität, ein Theaterstück über das deutsche Judentum unter dem Nationalsozialismus mit erzwungenen Hauptdarstellern, eigens für den Besucher erbauten Parks, angepflanzten Blumen und einer zur Synagoge umgebauten Turnhalle. An dieser Kulisse geht Rossel als Lebender vorbei und verfasst im Anschluss einen Bericht, der die Normalität des Lebens in Theresienstadt beschreibt: »Kleidung ist anständig. Die Leute sind ordentlich angezogen. Wie überall gibt es Unterschiede zwischen Arm und Reich. Elegante Frauen tragen Seidenstrümpfe und Hüte.«
Rossel betont im Interview, dass er auch mit dem heutigen Hintergrundwissen den Bericht wieder unterschreiben würde: Auf Lanzmanns Frage »Bereuen Sie diesen Bericht?« antwortet Rossel: »Ich hätte keinen anderen schreiben können. Ich stehe dazu.« Die Normalität in Theresienstadt war so perfekt inszeniert, dass die Verblendung des Besuchers bis in die Gegenwart überdauert.
Das Motiv der Blindheit taucht immer wieder auf, etwa wenn Rossel beschreibt, was er bei seinem Aufenthalt in Auschwitz alles nicht gesehen hat. An anderer Stelle berichtet er vom Besuch George Scapinis im Haus des Internationalen Roten Kreuzes. Scapini, französischer Botschafters der Vichy-Regierung, war aufgrund einer Kriegsverletzung tatsächlich erblindet. Im Film sieht man Rossel, der seine Eindrücke aus Auschwitz und Theresienstadt mitteilt, und im Gegenschnitt das Gesicht des schweigenden Lanzmann, eine Montage, die den Monolog Lanzmanns am Ende des Films, in dem er Rossel über das Täuschungsmanöver der Nazis in Theresienstadt aufklärt, vorwegnimmt.
Wenn Lanzmann einen Film über die Inszenierung des Ghettos Theresienstadt dreht, so reflektiert er dabei zwei zentrale Aspekte seines eigenen filmischen Schaffens. Zum einen begründet er auf diese Weise erneut die Form seiner Filme, das Misstrauen gegenüber scheinbar authentischem, dokumentarischem Bildmaterial, das bis auf wenige Ausnahmen durch die Täter hergestellt und inszeniert worden ist. Gleichzeitig integriert er eine reflexive Ebene in seinen Film, die über die Problematik des Dokumentarfilms, das Inszenierte des Dargestellten, das Selektive des Abgebildeten, die Brüchigkeit von Erinnerung nachdenkt.
Es ist dies eine selbstreflexive Ebene, die Lanzmann nicht nur seinen Filmen, sondern auch ausdrücklich in seiner Autobiografie zu Grunde legt: Er hat seine Erinnerungen diktiert und seine Autobiografie so in die Tradition der Oral History gestellt, die gerade die subjektive Erfahrung und daraus resultierende Erinnerung in den Mittelpunkt stellt. Wenn Lanzmann aus einer vermeintlichen Ungenauigkeit in seinem Buch nun ein politisch-moralischer Vorwurf gemacht werden soll, so verkennt diese Kritik die subjektive Perspektive dieses Buches.
Natürlich kann man auch in den filmischen Rekonstruktionen auf widersprüchliche Darstellungen stoßen, beispielsweise in »Sobibór, 14. Oktober 1943, 16 Uhr«. So erzählt etwa Jehuda Lerner, dass er es war, der dem SS-Oberscharführer Graetschus mit der Axt den Schädel gespalten habe und nicht wie geplant sein Kamerad, der Kriegsgefangene Arkadij Wajspapir. In Jules Schelvis Buch »Vernichtungslager Sobibór« wird Wajspapir dagegen der Angriff zugeschrieben, der mit den Worten zitiert wird: »Ich trat hinter dem Vorhang vor, lief an dem Offizier vorbei, um scheinbar rauszugehen, drehte mich aber um und schlug ihn mit der scharfen Kante des Beils über den Kopf.« Soll man einen der beiden der Lüge bezichtigen? Ausgehend von der fehlerhaften Erinnerung das historische Ereignis des Aufstands im Vernichtungslager Sobibór anzweifeln? Wenn sich nicht einmal die direkt Beteiligten korrekt erinnern können? Eine lückenhafte Darstellung der Ereignisse durch die Opfer darf nicht mit den Lügen der Täter verglichen werden. Die Art und Weise, wie die Rol­len von Täter und Opfer vertauscht werden, wenn ein deutscher Historiker den NS-Mitläufer Redslob vor der Verleumdung durch einen Résistance-Kämpfer beschützen zu müssen glaubt, zeugt von einem spezifisch deutschen Ressen­timent gegen Lanzmann, von dem man sich in den als vorbildlich erachteten Umgang mit der NS-Geschichte und den Erinnerungsdiskurs nicht hineinreden lassen will.
Im Vorspann von »Sobibór« heißt es: »Museen und Gedenkstätten erzeugen Vergessen ebenso sehr wie Erinnerung. Hören wir Jehuda Lerners lebendiges Wort.« Lerner berichtet seine Geschichte, von der Deportation seiner Familie, seiner Flucht aus verschiedenen Konzentrations­lagern, um dann aus seiner Perspektive über den geglückten Aufstand im Vernichtungslager Sobibór zu berichten.
Eine wichtige Voraussetzung für den Aufstand war der Umstand, dass im September 1943 jüdisch-sowjetische Kriegsgefangene nach Sobibór gebracht worden waren, die über militärische Erfahrung verfügten und die Planung des Widerstands übernehmen konnten. Aus der Idee, eine Massenflucht zu organisieren, wurde ein genau strukturierter Plan.
Der Planer des Aufstands, Alexander Petjerksi, erklärte 1984: »Mein Ziel war, zunächst die Faschisten, die in Sobibór schon so viele Juden ermordet hatten, zu töten. Möglicherweise hätten dann nur zehn oder 15 von uns fliehen und die Freiheit erreichen können, um der Welt die Wahrheit berichten zu können.« Obwohl nicht alles nach Plan verlief, konnten etwa 350 Häftlinge entkommen, von denen sich viele den Partisanen anschlossen. Es sind 47 Überlebende bekannt.
Am Ende des Films wird an die Toten erinnert, Lanzmann zählt alle Transporte ins Vernichtungslager Sobibór auf, verliest Datum, Ausgangspunkt der Deportation und die Zahl der Deportierten.
»Shoah« beginnt mit einem Zitat aus dem Buch Jesaja, das als Motto für das Leben Lanzmanns Gültigkeit hat: »Einen ewigen Name will ich ihnen geben, der nicht vergehen soll.«

»Sobibór, 14. Oktober 1943 16 Uhr«/«Ein Lebender geht vorbei«. Dokumentation. Frankreich 1997–2001. DVD, Absolut Medien