Beantworten die Frage: Wer soll Weltmeister werden?

Wer soll Weltmeister werden?

Wir haben unsere Autoren nach ihrem Favoriten für den Titelgewinn bei der Fußballweltmeisterschaft gefragt.
Hier sind die Tipps.

Mein Favorit: England
Mein Freund John kommt aus England, ich glaube, er wohnte früher mal am Wembley-Stadion. Vor einiger Zeit ist er in Deutschland hängen geblieben, der Zufall hat uns in einer Fußballmannschaft zusammengeführt. Nun stürmt er rechts und ich links, und manchmal ist es umgekehrt. »Was hat dich hierher geführt?«, hab ich ihn neulich gefragt: »Liebe? Arbeit? Oder der Fußball?« – »Alle drei«, lautete die Antwort.
John spielt nie scheiße, wenigstens nicht absichtlich, er tritt nicht nach,wenigstens nicht absichtlich, meckert wenig, wenigstens nicht absichtlich und spricht kein Wort Deutsch.
Zur Weltmeisterschaft und zu unserer besseren Verständigung habe ich ein kleines Wörterbuch gekauft, das »Pons-Fußballlexikon in sechs Sprachen«. So können wir uns auf dem Fußballplatz in sechs verschiedenen Sprachen Kommandos zurufen. Außerdem kann man dort vergleichen, wie die deutsche Fußballsprache übersetzt klingt. Zum Beispiel der »Angstgegner«. Auf Spanisch heißt er »bestia negra«. Auf Italienisch: »bestia nera«. Auf Französisch: »bête noire«. Und auf Englisch? »Formidable Opponent«.
Ich finde, John ist ein formidable Mitspieler. Und wer den Ort, an dem er lebt, zu jeweils einem Drittel von Fußball, Job und Liebe – denn das bedeuten die drei Löwen auf dem Trikot der englischen Nationalmannschaft – abhängig macht, dessen formidable Landesteam hat hin und wieder auch schon mal einen Weltmeistertitel verdient.
Jürgen Kiontke
Mein Favorit: Portugal
Griechenland sollte Weltmeister werden. Um all die hämischen Deutschen in ihre Grenzen zu weisen, die in den letzten Monaten darüber gemault haben, dass »wir« nun auch noch die »EU-Verlierer« mitfinanzieren müssen. Klingt erst einmal plausibel, gäbe es da nicht diesen Otto Rehhagel. Würde Griechenland Weltmeister, so ist zu befürchten, wären die hämischen Deutschen nur in ihrem Vorurteil bestätigt: Im Fußball wie in der Wirtschaft – sie schaffen es nicht ohne uns. Dann also doch nicht. Ideal wäre vielmehr ein Endspiel Griechenland gegen Portugal, dem womöglich nächsten europäischen Subventionskandidaten. Mit dem in Mosambik geborenen Trainer Carlos Queiroz ist das portugiesische Team frei von dem Verdacht, auf dem Feld nur mit Hilfe der »starken Euro-Zone« zu punkten. Und dann ein Sieg für Portugal, sagen wir 3:2. Danach könnte Präsident José Sócrates den Staatsbankrott eingestehen, und ­alles wäre halb so schlimm.
Martin Büsser
Mein Favorit: Deutschland
Die Jungle World ist wahrscheinlich die einzige Redaktion weltweit, in der eine derartige Frage überhaupt gestellt wird. Die Deutschen sind auch die Einzigen, die Fans anderer Länder sind. Man stelle sich vor, man fragte Franzosen, Spa­nier oder Italiener, sie hätten nur eine Antwort. Wir können uns schließlich nicht aussuchen, zu welchem Land wir gehören wollen. Als Deutscher nicht für Deutschland zu sein, ist total deutsch. Ich werde jedenfalls nicht mit Brasilien mitfiebern.
Andreas Michalke
Mein Favorit: Argentinien
»Und wir haben ein Idol, Helmut Kohohl!« sangen 462 Mitglieder der Junge Union anlässlich des 80. Geburtstags des Altkanzlers vor dessen Haus in Ludwigshafen. Fast zwölf Jahre nach Kohls Abwahl sind diese Menschen immer noch begeistert von seinem einen großen Wurf: als er ihnen die Einheit gemacht hat. Die Einheit, das war sein großes Ding. Davon werden sie immer zehren, das werden sie nie vergessen. Wie er da einfach zu Gorbi gefahren ist und das mal eben klar gemacht hat. Diese jungen Karriere-Politiker wollen alle so werden wie ihr Idol. Sie wollen auch mal die Einheit machen. Nur zu dumm, dass es sie schon gibt. Aber das Idol ist eben »weitgehend mit Irrationalität aufgeladen«, wie Georg Seeßlen in der aktuellen Ausgabe des Musikmagazins Opak schreibt.
Mir geht es in gewisser Weise ähnlich wie den Kohl-Begeisterten. Doch ich könnte zumindest theoretisch noch so werden wie mein Idol. Ich könnte zumindest theoretisch zu einem permanent abstiegsgefährdeten italienischen Erstligisten wechseln und gegen den großen Meisterschaftsfavoriten Lazio Rom in einem meiner ersten Spiele drei Tore beim 4:0-Sieg machen, darunter einen sensationellen Heber ins obere rechte Eck aus 20 Metern Entfernung und eine direkt verwandelte Ecke.
Und theoretisch könnte ich auch diesen Traum­pass auf Jorge Burruchaga im WM-Finale beim Spielstand von 2:2 gegen Deutschland zum entscheidenden Siegtor spielen. Das war 1986 in Mexiko, bevor Kohl diese Einheit gemacht hat. Vier Jahre später kam es im Finale wieder zu der Begegnung Argentinien gegen Deutschland. Bekanntlich wurde Deutschland Weltmeister. Mein Idol konnte nicht mehr so spielen, wie man es von einem Idol erwartet, und Franz Beckenbauer ließ anschließend die Welt wissen, dass Deutschland nun mit den dazu gekommenen Spielern aus der DDR »auf Jahre nicht zu schlagen« sei. Deprimierende Aussichten also, und mein Idol konnte nichts dagegen tun.
Nun ist Diego Armando Maradona wieder bei einer Weltmeisterschaft dabei. Er ist Trainer der argentinischen Mannschaft, einer Mannschaft voller Stars wie Javier Zanetti, Esteban Cambiasso oder Lionel Messi. Trotzdem hat Maradona es fast geschafft, an der WM-Qualifika­tion zu scheitern. Aber für das WM-Turnier sehe ich blühende Rasen-Landschaften, auf denen das Team Maradonas durch Gottes Hand zum Sieg geführt wird.
Stefan Rudnick
Mein Favorit: Kamerun (stellvertretend für Schwarzafrika)
Ich bin für einen afrikanischen Weltmeister, und zwar einen schwarzafrikanischen – auch wenn es sehr unwahrscheinlich ist. Ghana, ­Elfenbeinküste, Nigeria oder Kamerun kämen in Frage.
Wenn eines dieser Länder die WM gewinnt, ärgern sich die Nazi-Pappnasen, die in den hiesigen Stadien Dumpfback­iges von sich geben, schwarz.
Tanja Dückers
Mein Favorit: Dänemark
Eigentlich gehöre ich zu der Sorte Nostalgiker, die jedes Mal hoffen, dass der WM-Titel endlich wieder an das Land gehen möge, aus dem traditionell die besten Bücher über das Leben mit und das Leiden am Fußball kommen: England. Wie es wohl aussehen würde, wenn Wayne Rooney sich nach dem Finale den Cup in die Hosen schiebt, und was ein deutscher TV-Kommentator dazu zu sagen hätte – das malt man sich eben gerne aus.
Doch noch mehr würde mir diesmal ein sportlich deutlich unwahrscheinlicherer Ausgang des Turniers zusagen: Ich hoffe auf einen Siegeszug Dänemarks, der notgedrungen in alle islamischen Länder der Welt ausgestrahlt werden müsste. Bilder, wie Trainer Morten Olsen den Sportteil der Jyllands Posten liest, dänische Fans siegestrunken Fahnen mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund schwenken oder Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf der Ehrentribüne jubelt – die gehören einfach auf die Fernsehschirme von Istanbul bis Teheran. Und so schlecht sind sie auch wieder nicht, die Dänen: Wer wie sie in der Qualifikation Portugal in Lissabon besiegen konnte, muss sich nicht verstecken. Also lautet meine Prognose: Arsenals Stürmerstar Nicklas Bendtner – derzeit leider noch an einer Verletzung laborierend – wird es richten für die Dänen und damit der Welt beweisen, dass Allah es wohl meint mit denen, die Mohammed karikieren.
Uli Krug
Mein Favorit: Nordkorea
Bei einer Frage, zu deren Beantwortung ich weder mit Erkenntnis noch mit Interesse beitragen kann, darf ruhig der Wunsch Vater des Gedankens sein. Darum hoffe ich, dass Nordkorea die diesjährige Fußballweltmeisterschaft gewinnt, idealerweise (keine Ahnung, ob das geht, es gibt da ja irgendwelche Listenkombinationen) im Endspiel gegen Honduras. Meine Traum-WM würde etwa so ablaufen: Deutschland fliegt schon beim ersten Spiel raus, so dass die brutale Fröhlichkeit der Fans, die in den kommenden Monaten den öffentlichen Raum heimzusuchen drohen, sich von Beginn an in Grenzen hält. Alle anderen Mannschaften, die kollektive Begeisterungsstürme, vulgärviriles Herumgegröle und sonstiges unzivilisiertes Verhalten provozieren könnten, manövrieren sich durch eine Reihe glücklicher Zufälle so bald wie möglich ins Aus. Übrig bleiben ein paar Mini-Nationen, von denen man allenfalls weiß, auf welchem Kontinent sie liegen, für die sich aber nicht mal multikulturelle Linksdeutsche auch nur ansatzweise interessieren. Alle Enthemmungslust, die sich in den Menschen während der vergangenen Wochen in sadistischer Vorfreude auf den zu erwartenden Ausnahmezustand angestaut hat, verpufft. Desillusioniert und enttäuscht, werden die Leute allmählich über alle Maßen ansprechbar. Der Public-Viewing-Terror versiegt, in den Kneipen und Cafés kann man sich wieder ungestört unterhalten. Weil sie partout nichts mit sich anzufangen wissen, kaufen sich die Menschen in ihrer Ohnmacht sogar Bücher, um die Zeit totzuschlagen. Die Nachbarn fangen plötzlich an, gute Musik zu hören. Alle werden freundlicher, und die Welt wird für ein paar Wochen schön. Der Sieg von Nordkorea fällt dann kaum jemandem mehr auf, weil vor den Fernsehern fast so we­nige Leute hocken wie im Stadion, wo auf dem nordkoreanischen Fanblock nur ein paar Funk­tionäre neben bestellten Claqueuren mit Fußkettchen sitzen. Alle merken insgeheim: So fühlt sich Kommunismus an. Und später erinnert man sich in stillem Glück an das südafrikanische Wunder.
Magnus Klaue
Mein Favorit: Griechenland
Endlich Feierabend, Fußball, Alltag abschalten, Fernseher anschalten und die Weltmeisterschaft. Selbstverständlich nervt die volksgemeinschaftliche Nationalbeflaggung, will man nichts zu tun haben mit den dümmsten aller Fans, die beim Sport das sein dürfen, was sie sonst nicht sein wollen, aber immer sind, nämlich deutsch. Und dennoch gibt es bei sich links dünkenden Menschen, die sich ansonsten über al­les mit Häme ereifern können, zudem insbesondere bei Männern, diese alles andere als heim­liche Begeisterung für den Fußball, Antinationalismus hin, Aufklärung her. Sei’s drum, ich verstehe es nicht und will es auch nicht verstehen: nicht den Fußball, nicht die Regeln, nicht das allgemeine Interesse an dem Spiel, nicht die besondere Beziehung zu irgendwelchen Vereinen, Mannschaften oder Spielern.
Wenn’s allerdings doch ein mithin berechtigter Wunsch sein mag, darf die angeblich schönste Nebensache der Welt die schlimmste Hauptsache der Welt, die Herrschaft des Kapitals, nicht vergessen machen. Auch beim Fußball bedeutet die konkrete Utopie freilich Verhältnisse, in denen niemand Weltmeister werden kann oder soll, und auch niemand will, dass irgendjemand Weltmeister wird; nämlich eine Utopie der freien Assoziation ganz nach der Logik der Faulheit, heute dies, morgen jenes zu tun, also gegebenenfalls Sport zu treiben, schließlich Fußball zu spielen oder anderen dabei zuzusehen. Meinetwegen muss also niemand Weltmeister werden, kann Fußball ohnehin aus dem spätkapitalistischen Unterhaltungsprogramm ersatzlos gestrichen werden, vor allem inklusive Fans und sogenannter Fankultur.
Muss ich nun doch, etwa unter popdiskursivem Mitmachzwang in der Kneipe, sagen, wen ich mir als Weltmeister wünsche, dann sage ich natürlich: die Griechen! Aber nicht die Mannschaft des realexistierenden Bankrottstaates, sondern die Philosophen, die Monty Python 1972 gegen deutsche Philosophen gewinnen ließen: Platon, Aristoteles, Epikur, Demokrit etc. gegen Leibniz, Kant, »Nobby« Hegel, Heidegger etc. Alle diskutieren, keiner berührt den Ball. Der Überraschungsspieler der Deutschen: Beckenbauer; der der Griechen: Archimedes – er ruft schließlich »Heureka« und beginnt das Spiel. An den weiterhin diskutierenden Deutschen vorbei erzielt Sokrates schließlich das 1:0 und damit den Sieg der Griechen. Nietzsche kassiert die gelbe Karte für die Schiedsrichterbeleidigung, dieser, Konfuzius, habe keinen freien Willen. Hegel und Kant argumentieren, dass das Tor nicht real sei, sondern nur idealistisch zu fassen. Marx – gegen Wittgenstein in der zweiten Halbzeit ausgewechselt – plädiert erfolglos auf Abseits.
Und dieses Abseits bleibt nicht nur beim bevorstehenden Weltmeisterschaftsspektakel der sichere Ort, von dem aus ich mir es völlig egal sein lasse, wer und ob jemand Weltmeister wird.
Roger Behrens

Mein Favorit: nicht Deutschland
Auf die Frage wer bei der diesjährigen Weltmeisterschaft gewinnen soll, habe ich mehrere Antworten. Die erste ist ganz simpel und dazu noch wenig verwunderlich: Deutschland natürlich nicht. Aus politischen Gründen, aus Geschmacksgründen, aus Distinktionsgründen. Als ich noch jünger war, hab ich immer mal zu verschiedenen Mannschaften gehalten: zu Jamaica in meiner Reggae-Phase, zu England in meiner Punk-Phase. Heute hat die Mannschaft, der ich einen Sieg wünsche, oft mit dem Beknacktheitsgrad meines Gegenüber zu tun, der mir die Frage stellt: Ist er Fußballfan, hasse ich Fußball. Hasst er Fußball, liebe ich Fußball. Ist er Deutschland-Fan, hasse ich ihn. Will mein Gegenüber, dass Brasilien gewinnt, wünsche ich mir Nordkorea als Sieger. Fußball funktioniert, besonders zur Weltmeisterschaft, als das beste Abgrenzungswerkzeug überhaupt. Tatsächlich ist es aber so, dass ich die WM bloß als Kommunikationswaffe einsetze, weil sie mir so egal ist. Ich habe sowieso schon immer leichte Fremdschämanfälle, wenn Menschen laut jubeln. Ganz zu schweigen davon, wenn sie das im Kollektiv tun. Wenn sich zur WM Kneipen, Gärten und Wohnzimmer füllen, macht sich der Fußball bei mir nicht beliebter. Und auch nicht, wenn ich meine Freunde treffe und anderthalb Stunden die Klappe halten muss; von daher ist es mir herzlich egal, wer Weltmeister wird.
Nina Scholz
Mein Favorit: Spanien
Weltmeister kann nicht nur spielerisch, sondern auch spirituell gerechterweise nur eine Mannschaft werden: die Spanische. Dass sie den besten, zurzeit unschlagbaren Fußball spielt, ist dabei nur das geringste Argument. Favoriten gewinnen bei WM, da hat Diego Amando Maradona recht, nur selten. In Südafrika geht es aber um mehr als nur einen Titel: Es geht um die endgültige Erledigung Hegels, auch im Fußball. Seit der Kettenraucher und Hegelianer Cesar Luis Menotti mit Argentinien 1978 in Argentinien, einem Land, in dem eine verfluchte Diktatur schrecklich waltete, Weltmeister wurde, ist der Hegelianismus (Systemtrainer!) im Fußball wie in der Geschichte zum einzigen Leitmotiv geworden: Der Sieg, heißt das, verifiziert das Spiel. Entscheidend ist, was auf dem Platz ist, meint dazu der Spar-Hegel Otto Rehhagel.
Das ist alles kompletter Scheiß und gehört endgültig widerlegt, und das können nur Xavi, Iniesta, Sergio Ramos und Fernando Torres: Alle zusammen jederzeit bereit, das Virtuelle dieses Spiels real werden zu lassen. Nicht bescheuerte Taktik und ermüdende Disziplin, sondern die eine neue Bewegung, der eine nie gesehene Pass in ägyptisch aristoskratischer Pose, wie es mal Johann Cruiff, Maradona oder Günther Netzer konnten. Allesamt Fußball­legionäre in Spanien einst, in den verfeindeten Lagern Barcelonas und Madrids. Und alle auch Vorbilder dieser Generation kleiner, spanischer Meisterspieler des Kurzpasses, die alle so dreinschauen, als könnten sie nicht ohne logischen Totalschaden bis drei zählen. Also genau so wie Hegel den Afrikaner sah: Afrika sei, schrieb der Philosoph, »das in sich gedrungene Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewussten Geschichte in die schwaze Farbe der Nacht gehüllt ist.«
Und einzig eine vorher unbekannte, kinderleichte Drehung Iniestas oder Torres´ kann es schaffen, der selbstbewussten Geschichte schön in den Arsch zu treten.
Cord Riechelmann