Zahltag in Erfurt. Das Urteil im Fall Emmely

Zahltag in Erfurt

Die Kündigung der Kaiser’s-Kassiererin Emmely ist unwirksam, entschied das Bundesarbeitsgericht. Das Urteil ist das Resultat einer beharrlichen Solidaritätsarbeit und öffentlichen Skandalisierung.

Die Freunde der Nutzmenschhaltung haben einen Dämpfer erhalten. Vergangene Woche entschied das Bundesarbeitsgericht im Fall »Emmely«. Die Kaiser’s-Kassiererin Barbara E. war Ende 2007, Anfang 2008 als Verdi-Mitglied im Einzelhandelsstreik aktiv gewesen und als letzte in ihrer Filiale standhaft geblieben. Im Februar 2008 wurde sie mit der Begründung, sich 1,30 Euro in Form von Pfandbons erschlichen zu haben, nach 31 Jahren Betriebszugehörigkeit fristlos gekündigt. Berliner Arbeitsgerichte hatten das zunächst für rechtens befunden. Vergangene Woche nun erinnerten die Bundesarbeitsrichter daran, dass »nicht jede unmittelbar gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtete Vertragspflichtverletzung ohne Weiteres ein Kündigungsgrund« sei.
Barbara E. hat nun viele neue Freunde. Umgehend überschütteten die deutschen Medien und Politiker, bis hin zur Arbeitsministerin, die siegreiche Emmely mit Glückwünschen und nannten den Richterspruch »richtig«, »erfreulich«, »überraschend« und »gut«. Auch ihre Gewerkschaft zeigte sich zufrieden.

Das Urteil ist geradezu salomonisch. In der Sache jedoch tastete der Gerichtshof den Schuldspruch seiner Vorinstanzen nicht an, dass die Kassiererin tatsächlich für läppische 130 Cent ihren Job aufs Spiel gesetzt habe. Die Bagatellkündigung sei zwar eine unverhältnismäßige, überzogene Reaktion von Kaiser’s-Tengelmann gewesen, als Einzelfallentscheidung, so betonte der Richter, revidiere dies aber in keiner Weise das Grundsatzurteil von 1984. Damit zeigt man Nachsicht gegenüber dem Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung, bleibt aber im Kern der Sache eisern.
Möglicherweise spielt da mehr als die gegenwärtige um Gerechtigkeit mit. Im Krisenjahr 2009 hatte eine ganze Reihe ähnlicher Fälle die Beachtung der Presse gefunden. Ehemalige Beschäftigte von Supermärkten, Bäckereien und Küchen zogen vor Gericht, wo es um Wurstzipfel, Brötchen, Kohlrabi-Grünzeugs, Handy-Aufladen, Maultaschen, Frikadellen, Umzugskartons, Pfandflaschen, Sperrmüll und eine Kantinen-Rabattmarke ging. Eine eindeutige Tendenz war nicht auszumachen: Kündigung bestätigt, Kündigung kassiert, Kündigung zurückgenommen, Vergleich geschlossen. Der Rauswurf von Emmely wurde Anfang 2009 in zweiter Instanz bestätigt. Dass es sich hierbei um eine Abstrafung der hartnäckigsten Streikenden in der Filiale handeln könnte, stritt das Gericht ab, schließlich war das ja nicht als Kündigungsgrund angegeben worden. Der Streik und die damit verbundenen Auseinandersetzungen spielten auch in der öffentlichen Debatte keine Rolle.
Doch das Einzelschicksal bewegte etwa den wortgewaltigen SPD-Mann Wolfgang Thierse zu einer Äußerung, für die er sich später entschuldigte: Es handele sich um ein »barbarisches Urteil von asozialer Qualität«. Analytisch nicht ganz sauber, aber wirkungsvoll. So sprachen sich einer Umfrage des Wirtschaftsmagazins Enorm zufolge knapp drei Viertel der Bevölkerung für eine unmittelbare Sanktionierung des Unternehmens aus. Sie würden zumindest für mehrere Wochen »woanders einkaufen«. 32 Prozent würden sogar einen dauerhaften Boykott unterstützen. Ob es im Zuge der Emmely-Kampagne einen Umsatzrückgang in der Kaiser’s-Filiale in Berlin-Hohenschönhausen zu verzeichnen gab, ist leider nicht bekannt.

Nun also, wo »da draußen« die Zeichen auf Sturm stehen, schwenkt der Diskurs schon mal um auf Kompromiss. Die Aktien der »sozialen Marktwirtschaft« steigen wieder, und damit auch die einer konsensorientierten Justiz. Generell stößt das Arbeitsrecht als Schutzrecht von Lohnabhängigen dort an seine Grenzen, wo das wirtschaftliche Interesse beginnt: »Es versteht sich, dass das Eigentum des Arbeitgebers auch nicht zu einem Bruchteil zur Disposition der bei ihm beschäftigten Arbeitnehmer stehen kann«, schulmeisterte das Berliner Landesarbeitsgericht. Dies stellte auch der Erfurter Gerichtshof nicht in Abrede. Besonders klar tritt das bei der »Verdachtskündigung« hervor. Dabei könne es, so führte Rechtsanwalt Dieter Hummel auf einer Veranstaltung zu Emmely aus, »unter Umständen in einem parallel laufenden Strafverfahren zum Freispruch kommen. Die Kündigung hätte trotzdem Bestand, weil der Verdacht zuvor begründet war.« Auch bei der verwandten »Bagatellkündigung«, wo sich der Verdacht als richtig ­erweist, tritt die Interessenabwägung eigentlich in den Hintergrund. Genau hier lenkte das Bundesarbeitsgericht im Einzelfall nun ein und erinnert andere Instanzen daran, dass dem Diszi­plinierungsrecht des Arbeitgebers auch mit anderen Mitteln – der Abmahnung – genüge getan sei.
Ähnlich liberal zeigte sich am Tag der Emmely-Verhandlung das Kammergericht Berlin: Im Verfahren um die Frage, ob die FAU Berlin als Gewerkschaft auftreten dürfe, widersprach der Richter der Position der Vorinstanz, die das verneint hatte. Etwa 60 Unterstützer Emmelys und der Basisgewerkschaft, die sich während der Prozessvorbereitung gegenseitig unterstützten, feierten gemeinsam vor Emmelys Filiale im Osten Berlins. Emmely selbst bezeichnete bei Johannes B. Kerner den Tag als Doppelerfolg. In beiden Fällen wäre es soweit wohl gar nicht gekommen, hätten engagierte Gewerkschafter sich der Sache nicht angenommen. Unterstützung für Barbara E. kam dabei von einem eigens gegründeten Solidaritätskomitee, das sich aus Angehörigen des linken und linksgewerkschaftlichen Spektrums zusammensetzte.

Verdi selbst war die Sache anscheinend nicht geheuer. Zum Auftakt des ersten Prozesses im Juni 2008 war kein Verdi-Vertreter anwesend. War ihr die Verteidigung einer vermeintlichen Betrügerin etwa politisch zu heikel? Enttäuscht äußerte sich jedenfalls Willi Hajek, Gewerkschafter und Komitee-Mitglied: »Die erste Instanz geht verloren, Kaiser’s bekommt Recht, die Verdachtskündigung wird bestätigt. Verdi macht noch eine Postkartenaktion, bringt Berichte in der Publik, aber dann ist Ende.« Hätte auch das Komitee aufgegeben, hätten die Richter nie Gelegenheit gehabt, ihre Meinung zu revidieren.
Vor allem in der weiten Welt des Arbeitsrechts muss oftmals nachgeholfen werden, denn es beruht auf Interpretation und gesprochenem Recht, auf der sogenannten »herrschenden Meinung«. Die wurde im Nachkriegsdeutschland unter maßgeblicher Beteiligung eines hochrangigen Nazi-Richters geprägt und ist dementsprechend autoritär, paternalistisch und parteiisch. Durch die Arbeit der Solidaritätsgruppe hatten somit auch Parteien wie SPD und Linkspartei die Gelegenheit, der interessierten Öffentlichkeit ihre Gesetzesnovellen zur Einschränkung der operativen Entfernung missliebiger oder teurer Mitarbeiter mittels Bagatellkündigung vorzustellen.
Nehmen wir einmal an, dass die Bagatellkündigung gegen eine Streikaktivistin gerichtet war: Finanziell gesehen ist der Schuss deutlich nach hinten losgegangen. Zwei Jahre Lohnnachzahlung, Gerichts- und Anwaltskosten muss Kaiser’s der prominenten Kassiererin zahlen. Politisch hat der Einzelhändler womöglich seine Herr-im-Haus-Politik unterstrichen. Inwieweit das Früchte trägt, wird man sehen, wenn Ende 2010 die nächsten Tarifauseinandersetzungen im Einzelhandel anstehen. Doch unabhängig davon: Welcher Schaden wäre der Tengelmann-Gruppe durch die angebliche Einlösung der Pfandbons eigentlich entstanden? Extraeinnahmen in Höhe von 1,30 Euro wären ihr entgangen. Kann man da überhaupt redlicherweise von einer »wirtschaftlichen Schädigung« des Konzerns sprechen? Rechtmäßiger Eigentümer der Fundsache war er ja nicht.