Auf Besuch bei den schwedischen Syndikalisten

Alter Schwede

Die syndikalistische SAC in Schweden wird 100 Jahre alt und wirkt dabei keineswegs antiquiert. Nach einigen Strukturreformen und einer Rückbesinnung auf ihre revolutionären Wurzeln spürt sie deutlichen Aufwind. Ein Besuch bei den Syndikalisten aus dem hohen Norden.

Es irrt, wer glaubt, der Syndikalismus sei ein historisches Relikt, das nur unter heißblütigen Südländern eine große Anhängerschaft gewinnen konnte. Zu einem der Drehpunkte jenes Gewerkschaftskonzepts, das aus der Tradition des Arbeiteranarchismus erwachsen war, avancierte schon früh Schweden, ein Land, das nicht gerade berühmt ist für rebellisches Temperament. Schon der französische Philosoph Albert Camus sah in Teilen der schwedischen Arbeiterbewegung den »mittelmeerischen Geist« am Wirken. Und damit meinte er keineswegs bioregionale Charaktereigenschaften, wie ihm häufig unterstellt wurde. Camus umschrieb damit vielmehr eine spezifische Tradition im Sozialismus, die den »abstrakten Zentralismus« und den Autoritarismus in der Arbeiterbewegung ablehnte, wie er in großen Teilen des Marxismus vorherrschte. Der revolutionäre Syndikalismus galt Camus als Inbegriff dieser autoritätskritischen Tradition. Eben der fand in Schweden einen fruchtbaren Boden – und gedeiht bis heute.
In diesen Tagen feiert die Sveriges Arbetares Centralorganisation (SAC) ihr 100jähriges Jubiläum – eine Geschichte relativen Erfolgs. Denn während fast alle syndikalistischen Organisationen in den Wirren des 20. Jahrhunderts marginalisiert wurden, konnte die SAC immerhin nach dem Zweiten Weltkrieg einen gewissen gesellschaftlichen Einfluss bewahren – wenn auch das revolutionäre Ziel weit in die Ferne rückte. Erst in den achtziger Jahren setzte ein spürbarer Niedergang ein. Nach einer Phase der Restrukturierung scheint die SAC jedoch revitalisiert zu sein. Im Jahr 2008 führte sie zum Beispiel deutlich mehr Konflikte als die sozialdemokratischen Gewerkschaften der Landsorganisationen (LO), die über eine Million Mitglieder haben.

Wer sich in Stockholm den Sveavägen entlang bewegt, eine belebte Hauptverkehrsader der Hauptstadt, wird unweit der Stelle, wo 1986 der schwedische Ministerpräsident Olof Palme ermordet wurde, auf die Zentrale der SAC treffen. Der sechsstöckige Altbau, der sich im Besitz der Organisation befindet, deutet schon an, welche Präsenz die Syndikalisten in Schweden haben. Riesengroße Lettern an der Fassade und das schwarz-rote Logo der Organisation verkünden, dass sie hier zuhause sind. Gabriel Kuhn, ein in Stockholm lebender Anarchist und Mitglied der SAC, bestätigt: »Die SAC und der Syndikalismus sind den meisten Schweden durchaus ein Begriff. Manchmal reicht es schon, wenn SAC-Leute bei einem Laden auftauchen und Aktionen ankündigen, damit sich Arbeitsbedingungen unmittelbar ändern.«
Kuhn wartet in der Zentrale auf Besucher der Anarchistischen Buchmesse. Die SAC hat ihre Räumlichkeiten als Empfangszentrum bereitgestellt. Das Verhältnis der Anarchisten zur SAC ist weitgehend unkompliziert. »Viele Anarchisten sind Mitglieder der SAC. Wenn sie auch nicht unbedingt aktiv sind, so sehen sie die SAC immerhin als ihre Gewerkschaft an«, erzählt Kuhn, als wolle er darauf anspielen, dass Anarchisten in Deutschland der Gewerkschaftsfrage eher distanziert gegenüberstehen. Die anreisenden Anarchisten aus anderen Ländern sind sichtlich irritiert ob der Größe der Zentrale. Man merkt ihnen an, dass sie es bereits für selbstverständlich halten, sich in miefigen Kellerräumchen oder tristen Hinterzimmern zu treffen.

Im dritten Stock befinden sich die Büros der SAC. In einem zugestellten Zimmer sitzt Ruben Tastas-Duque. Er ist zuständig für die Koordination der SAC-Register, einen Bereich, der den meisten Gewerkschaftern in anderen Ländern nichts sagen dürfte, aber wesentlich für das gegenwärtige Wachstum der SAC ist. Mit dem »Register« setzt die SAC seit wenigen Jahren auf eine Taktik, die so simpel wie durchschlagend ist. Dabei führen die Lokalorganisationen Statistiken über Löhne, die sie in verschiedenen Branchen durchsetzen konnten. Den jeweils höchsten Lohn nehmen sie dann als Richtwert und fordern ihn in den Betrieben ein, wo sie Mitglieder haben. Weigert sich das Unternehmen, die Forderung zu erfüllen, tritt die SAC in den Arbeitskampf. In der Regel setzt sie dabei auf Blockadeaktionen, und sie setzt damit bis zu 30 Prozent höhere Löhne durch als die in den Tarifverträgen der LO vereinbarten. Vor allem im prekären und hochflexibilisierten Bereich, und ganz besonders unter papierlosen Arbeitern, erzielt die SAC mit direkten Aktionen Erfolge. Mittlerweile fallen fast 2 000 Arbeiter, vorwiegend Migranten, unter das Registersystem. »Wir sind fast immer erfolgreich«, stapelt Tastas-Duque hoch und kann auf siegreich ausgetragene Konflikte auch bei McDonald’s oder Man­power verweisen.
Die Anwendung der Registermethode ist Ausdruck des Radikalisierungsprozesses in der SAC. Bis in die vierziger Jahre hatte sie die SAC schon einmal angewendet. Dann begann die Zeit, wegen der die SAC bei vielen Anarchisten als »reformistisch« gilt, in der die SAC »weicher« wurde, wie Tastas-Duque es bezeichnet. Mit der Registermethode reagiere sie auf den wieder härter werdenden Klassenkampf. Seit 2002 hat sie zudem auf ihren Kongressen Reformen beschlossen, die zu einem Abbau der Gewerkschaftsbürokratie und einer Reaktivierung der Basis geführt haben. Auch verabschiedete sie eine neue Prinzipienerklärung, die sich wieder auf die revolutionären Wurzeln der SAC bezieht. Seitdem nehmen die Aktivitäten der SAC zu, und der Abwärtstrend scheint gestoppt. Denn seit 1980 hat sie kontinuierlich Mitglieder verloren, fiel von 20 000 auf 5 500 im Jahr 2008. Tastas-Duque zufolge steuert die SAC nun wieder auf die Marke von 7 000 Mitgliedern zu. Die Zahl ist beachtlich. Im Verhältnis gesehen ist das so, als gäbe es in Deutschland etwa 60 000 organisierte Syndikalisten. »Wir führen Konflikte und gewinnen sie. Das ist unsere beste Mitgliederwerbung«, erklärt Tastas-Duque.
Die Restrukturierung ging durchaus mit internen Konflikten einher. Viele bezahlte Funktionäre stellten sich dagegen oder klagten gar gegen die Streichung ihrer Jobs. Ohne Erfolg, die Reformer obsiegten. Doch ganz ausgestanden ist die Sache noch nicht. So tobt derzeit eine Auseinandersetzung um die SAC-Zeitung Arbetaren. Die traditionsreiche Wochenzeitung mit einer Auflage von 3 500 Exemplaren hat ebenfalls ihre Räume in der Zentrale. An SAC-Aktivitäten, über die berichtet werden kann, mangelt es nicht, wie eine Pressewand verdeutlicht. Dort werden alle Artikel über die SAC aus anderen Zeitungen der laufenden Woche gesammelt. Das Brett ist gut gefüllt. Elf Vollzeitangestellte hat die Zeitung, die auch mit einer Kulturbeilage aufwartet. Auf einem Kongress wurde bereits 2006 beschlossen, die Zeitung stärker auf gewerkschaftliche Kämpfe auszurichten. Doch die Redakteure ignorierten den Beschluss und hielten an dem Konzept einer eher allgemeinen linken Zeitung mit breiterer Themensetzung fest. 2009 wurde dann Mattias Pettersson als neuer Chefredakteur eingesetzt. Er soll den Beschluss der Basis umsetzen und hat damit eine unangenehme Aufgabe, wie er selbst zugeben muss. Von zahlreichen Redakteuren musste er sich trennen. Diese rebellierten und klagten mit einem offenen Brief in einer großen bürgerlichen Zeitung den Umschwung bei Arbetaren an. Diesen merkwürdigen Schritt nehmen ihnen viele übel. Die Reformer sind sich sicher, dass das der letzte große Konflikt ist. ­Danach sei die Restrukturierung der SAC abgeschlossen.

Auf einer Podiumsdiskussion bei der Anarchistischen Buchmesse diskutieren Mitglieder der SAC unter anderem mit einem Vertreter der Industrial Workers of the World (IWW) aus London über Syndikalismus in der Wirtschaftskrise. Die Diskutanten, die ihre radikale Gesinnung im Gegensatz zum Publikum nicht äußerlich zur Schau tragen, sind durchgehend einer Meinung. Eine ideologische Agitation mit dem Ziel anarchistischer Bewusstseinsproduktion lehnen sie allesamt ab. Sie plädieren stattdessen für die Organisierung entlang von Interessenlagen und die Zuspitzung alltäglicher Konflikte. Das scheint manche Zuhörer zu überraschen, die eher wie Lifestyle-Anarchisten wirken und optisch einen Kontrast zum Podium bilden. Später werden sie bei einer anderen Diskussion dem Insurrektionalismus huldigen, indem sie Aufstandsbewegungen wie in Griechenland zu einem Zukunftsmodell stilisieren. Für die Syndikalisten stellt das keine Option dar. Sie halten einen spontaneistischen Ansatz für naiv und sprechen von der Bedeutung einer ökonomischen »Kampforganisation«. Dass sich Kämpfe erstmal an der Gegenwart orientieren, sei die Voraussetzung für zukünftiges Handeln, betont Jona Elings. Und Torfi Magnusson erklärt: »Wir haben keine Alternative dazu, die Arbeitsplätze und sozialen Bereiche zu organisieren, wenn wir die Gesellschaft wirklich verändern wollen.«
Draußen tritt einem das lebendige Argument dafür entgegen, dass Magnusson Recht haben könnte. Dort verköstigen Filzhaarträger, zottelige Bärtige und Barfüßler die Besucher – sie versuchen es zumindest. Geboten wird die aus der Linken gewohnte Matschepampe, die vielen zum Sinnbild linker Lustfeindlichkeit geworden ist. »Wenn diese Vokü ein Vorgeschmack auf die anarchistische Gesellschaft sein soll, dann gute Nacht«, kommentiert ein SAC-Mitglied das Essen in einer lockeren Runde. Er sieht den Syndikalismus klar im Vorteil: »Wir sind gut organisiert und sammeln Fähigkeiten. Wir haben ja auch Köche, die das machen könnten. Nur so lässt sich Gesellschaft reorganisieren.« Einzig der Wobbly aus London, der sich gerade seine Portion in den Mund schaufelt, gesteht, dass ihm das Essen schmecke. Die Runde schweigt in sich hinein und tauscht bedeutungsvolle Blicke aus: Offensichtlich hat die englische Küche seine Geschmacksnerven bereits ruiniert. Seine Meinung zählt in kulinarischen Fragen nicht.
Für Irritationen sorgt auch die Tatsache, dass sich hier so mancher Anarcho mit Palästina-Flaggen schmückt. Israel und die Gaza-Flotte sind auch in Stockholm ein großes Thema. Der in Deutschland bekannte Konsens der Anarchisten, dass Nationalflaggen auf ihren Veranstaltungen nichts zu suchen haben, scheint hier nicht zu gelten. Auch das kulinarisch versierte SAC-Mitglied zeigt sein Unbehagen. Leider gebe es auch in der SAC Teile, die zu solchen Bekundungen neigten und sich schon an entsprechenden Aktionen beteiligt hätten. Da gebe es noch Klärungsbedarf, meint er.

Buchmessen sind nicht unbedingt das, wofür die Syndikalisten stehen. Wie ihre Praxis aussieht, kann man momentan an einem Laden namens Berns beobachten. Die SAC habe schon größere Konflikte organisiert, aber dieser sei wohl der wichtigste in ihrer jüngeren Geschichte, erklärt Jan Abrahamsson, ein SAC-Aktivist, der bei der U-Bahn arbeitet. An dem berühmten Gastronomie- und Diskothekbetrieb wollen die Syndikalisten ein Exempel statuieren. Dort hatte man schon einmal bessere Arbeitsbedingungen durchgesetzt. Die Chefs reagierten, indem sie die Reinigungskräfte, darunter die meisten SAC-Mitglieder, in eine Subgesellschaft ausgliederten, wo sie wieder zu schlechteren Bedingungen arbeiten sollten. »Berns argumentiert, dass wir uns an den Subgesellschafter wenden müssen. Das akzeptieren wir nicht. Wir sehen den Kernbetrieb in der Pflicht. Es geht uns also um den prinzipiellen Umgang mit Ausgliederungen«, so Abrahamsson.
Die SAC erhofft sich davon Dynamik, der Kampf selbst ist für sie ein Verlustgeschäft. Denn bereits seit Februar blockiert sie den Laden, insbesondere an den Wochenenden, spät in der Nacht. Etwa 80 SAC-Aktivisten stehen nach Mitternacht immer noch in der Picket-Line. Ein Eingang ist komplett dicht, bei einem anderen müssen sie für die Besucher einen kleinen Spalt auflassen. Über Megafone werden Boykottparolen skandiert. Viele Ankommende gehen dennoch in den Laden, in dem gerade DJs aus dem Berliner Berghain auflegen. »Alles Streikbrecher«, sagt ein Mitglied des Syndikalistiska Ungdomsförbundet (SUF), der SAC-Jugendorganisation, die die Blockaden kräftig unterstützt. »Die meisten hier sind verkokste Snobs, die sich um Arbeiterrechte keine Gedanken machen«, meint er angewidert. Nicht selten geht es zur Sache. Im vergangenen Monat war der Konflikt sogar Gegenstand der Nachrichten im schwedischen Staatsfernsehen, das Bilder zeigte, wie die Polizei die Picket-Lines angriff. Tastas-Duque, der die Blockaden koordiniert, zeigt sich hartnäckig: »Wir müssen gewinnen, sonst verlieren wir an Respekt bei den Arbeitgebern.« Er rechnet damit, dass der Kampf noch mehrere Monate dauern wird.

Abrahamsson sieht die SAC wieder auf einem guten Weg. Er, der ein wenig wirkt wie sein fiktiver Berufskollege Spence in »King of Queens«, ist versiert in der Geschichte seiner Organisation und setzt sich für eine Radikalisierung ein. Er zeichnet ein entscheidungsfreudiges Bild von der SAC, die trotz ihrer Größe weniger schwerfällig anmutet als so manche viel kleinere Anarchogruppe. Ob die Entscheidungen wirklich richtig waren, müsse man aber abwarten.
Besonders schmerzt ihn die Frage nach dem Internationalismus. Eine neue, umfassende Kooperation der syndikalistischen Organisationen müsse her, meint Abrahamsson. Denn in den fünfziger Jahren wurde die SAC aus der anarchosyndikalistischen Internationale ausgeschlossen, weil sie sich dem Reformismus zugewandt habe, so der Vorwurf damals. »Wir waren die letzte syndikalistische Massenorganisation, die den Krieg überlebt hatte. Und die Gesellschaft hatte sich stark verändert«, sagt Abrahamsson. »Hätten wir uns nicht angepasst, zum Beispiel mit der Beteiligung am staatlichen Arbeitslosenversicherungsprogramm, würden wir heute gar nicht mehr oder nur sehr klein existieren.« Jetzt sei die SAC aber wieder auf dem Weg zurück in die anarchosyndikalistische Tradition. Staatliche Gelder, die zu nehmen ihr manche Anarchisten vorwerfen, erhält sie lediglich noch als Förderung für ihre Wochenzeitung, wie fast alle Zeitungen in Schweden. Die SAC habe gewissermaßen »überwintern« müssen, sagt Abrahamsson. Jetzt, wo sich die Verhältnisse änderten, könne sie wieder offensiver agieren und habe den Vorteil, sich weiter auf eine große Basis stützen zu können. Die Geschichte zumindest scheint der SAC Recht zu geben.