Drei Wochen nach der Gaza-Flotille. Ein Schadensbericht

Lost in Confrontation

Die israelische Militäraktion gegen die Gaza-Flotille, bei der neun türkische Aktivisten getötet wurden, hat das israelisch-türkische Verhältnis tief zerrüttet. Verloren haben dabei beide Staaten. Und nicht nur sie gehören zu den Verlierern der Aktion.

Die Befürchtungen, die mich als in der Türkei ­lebenden US-amerikanischen und israelischen Staatsbürger schon länger plagen, wurden am 31. Mai wahr: Die Israelis griffen das in der Türkei ausgelaufene Schiff »Mavi Marmara« an, das unterwegs war, um die israelische und übrigens auch ägyptische Blockade des Gaza-Streifens zu durchbrechen. Der darauf folgende Kampf, in dem neun türkische Aktivisten getötet wurden, löste die wohl größte Krise zwischen den zwei vormals befreundeter Staaten aus. Um die entstandenen Schäden zu beurteilen, verbrachte ich die Woche nach der israelischen Militäraktion teils in Istanbul und teils in Tel Aviv. Drei Wochen später kann ich eines ohne Zweifel sagen: In diesem Debakel gibt es keine Gewinner. Schaden davongetragen haben nicht nur Israel und die Türkei, sondern auch die Palästinenser, US-Präsident Barack Obama und der gesamte Friedensprozess im Nahen Osten.
Als ich in Israel ankam und dort mit Israelis sprach, wurde schnell klar, dass sie jede Schuld weit von sich weisen, da ihr Denken von einer Art mentalem Belagerungszustand geprägt ist. Die Regierung hat es offenbar geschafft, der Bevölkerung weiszumachen, bei der Aktion auf der »Mavi Marmara« habe es sich um einen Akt der Notwehr gegen eine Bande von Terroristen gehandelt. Dabei ist die Wahrheit meiner Meinung nach recht simpel: Israel hatte kein Recht, das Schiff in internationalen Gewässern zu entern. Statt eine diplomatische Lösung anzustreben, entschied sich die Regierung gegen jeden gesunden Menschenverstand für Gewalt. Warum hinderte die israelische Armee das Schiff nicht einfach an der Weiterfahrt, was eine zwei oder drei Tage dauernde internationale Krise ausgelöst hätte, in die sich wahrscheinlich bald eines der europäischen Länder als Vermittler eingeschaltet hätte? Die Antwort ist schnell erraten: Diese eigentlich naheliegende Lösung war im Rahmen der Null-Toleranz-Politik des israelischen Außenministers Avigdor Lieberman und Premierministers Benjamin Netanjahu nicht denkbar, denn die sieht es nun mal nicht vor, mit Feinden (oder auch mit Freunden) zu reden – jedenfalls nicht, solange sie nicht niederknien, israelische Fahnen schwenken und die israelische Nationalhymne singen. Diese rücksichtslose Politik führte zu einer internationalen Bloßstellung der israelischen Armee und machte die Welt glauben, Israel entwickle sich zum Schurkenstaat. Denn auch wenn die türkischen Aktivisten der radikalen »Stiftung für Menschenrechte, Freiheit und Humanitäre Hilfe« (IHH) an einer Konfrontation mit den Soldaten der israelischen Streitkräfte durchaus interessiert waren, war dies kein Freibrief für die israelische Armee, zu tun, was immer ihr gefällt.
Hinsichtlich seiner Beziehungen zur Türkei scheint der jüdische Staat schlicht nicht zu verstehen, dass er sie als Partner nötiger hat als umgekehrt. Die Militäraktion setzte nicht nur die militärische Kooperation und die fruchtbaren ökonomischen Beziehungen aufs Spiel, die Türkei war bisher zudem das einzige muslimisch geprägte Land, in dem sich israelische Touristen oder Wissenschaftler halbwegs zuhause fühlen konnten und in dem ihre Anwesenheit im Nahen Osten immerhin als relativ normal galt. Auch wenn das israelischen Politikern entgehen mag, sollte der Verlust dieser Normalität der israelischen Bevölkerung Sorgen bereiten. Angesichts dessen gälte es eigentlich, alle Möglichkeiten zur Rettung der einst engen Freundschaft zwischen Israel und der Türkei auszuschöpfen – und umso schockierender ist es zu sehen, wie leichtfertig die Regierung von Netanjahu und Liebermann die türkisch-israelischen Beziehungen aufs Spiel setzt.

Doch die Türkei trifft nicht weniger Schuld. Während jetzt Israel am Pranger steht, gibt es keinen Zweifel daran, dass all dies hätte mühelos vermieden werden können, wenn die türkische Regierung eingegriffen hätte, und sei es allein, um ihre Staatsbürger vor der Gefahr zu bewahren, in ein Kriegsgebiet zu reisen. Premierminister Recep Tayyip Erdogan und sein vielgelobter Außenminister Ahmet Davutoglu waren sich natürlich bewusst, dass die Aktion ein tragisches Ende nehmen könnte, aber sie entschlossen sich dennoch, die »Mavi Marmara« darin zu bestärken, die Küste Gazas zu erreichen – vielleicht, um zu sehen, wie stark sie die Israelis unter Druck setzen können. Doch der Rückstoß war stark, und just wie die israelische manövrierte sich auch die türkische Regierung in eine Sackgasse. Sie hat die Situation derart verschärft, dass sie nun gar darüber debattiert, alle Verbindungen zu Israel zu kappen, solange Israel keine offizielle Entschuldigung sowie Entschädigungen für die Hinterbliebenen der Opfer anbietet.
Nach der Militäraktion auf der »Mavi Marmara« waren die antiisraelischen Proteste in der Türkei so dominant, dass es der Bevölkerung leicht fiel zu vergessen, dass allein in diesem Monat im Südosten der Türkei fast 50 türkische Soldaten in Kämpfen mit kurdischen Rebellen starben. Auch dem säkularen Oppositionspolitiker Kemal Kilicdaroglu, dessen steigende Popularität und dessen Wahl zum Vorsitzenden der Republikanischen Volkspartei (CHP) bisher die Schlagzeilen bestimmt hatten, entzog die Gaza-Flotille jede Aufmerksamkeit. Doch während einige Kommentatoren meinen, Erdogan habe in der türkischen Bevölkerung durch seine Hetze gegen Israel an Unterstützung gewonnen, könnte sich, sobald sich die Aufregung gelegt hat, zeigen, dass es doch die innenpolitischen Fragen sein werden, die die im kommenden Jahr anstehenden Wahlen entscheiden.
Zwar war die große Mehrheit der türkischen Bevölkerung über die israelische Militäraktion empört, doch unter den weithin sichtbaren Anklägern waren vor allem jene, die, ähnlich wie die türkischen Aktivisten auf der »Mavi Marmara«, radikalen islamistischen Gruppen nahestehen. Statt bloß von antiisraelischen Tönen war deren Rhetorik von krassen antisemitischen Äußerungen geprägt – etwa der im Rahmen der Proteste durchaus verbreiteten Redewendung »Jetzt verstehen wir Hitler«. Der von einigen geäußerte antisemitische Hass offenbart einen gefährlichen Trend und versetzt die kleine türkische jüdische Gemeinde in Angst. Darüber hinaus schaden die antisemitischen Äußerungen auch dem Ansehen der Türkei und verhindern jeden Versuch einer Versöhnung mit Israel. Während man sich damit trösten könnte, dass diese radikalen Gruppen nur eine Minderheit in der türkischen Bevölkerung sind, ist doch zu fragen, warum eine eher geringe Zahl an Menschen den Ton des politischen Mainstreams prägen konnten.

Die Palästinenser gehören zu den größten Ver­lieren der Krise um die Gaza-Flotille. Ein zwischen Türkei, Iran, Syrien, Hamas und Hizbollah auf der einen Seite und Israel, Ägypten, Saudi-Arabien und PLO auf der anderen Seite gespaltener Naher Osten ist einem dauerhaften wirksamen Friedensvertrag zwischen Israelis und Palästinensern mehr als hinderlich. Die Türkei hat zwar jedes Recht, sich für das Ende der Blockade Gazas einzusetzen, doch die Hamas der PLO vorzuziehen oder die internationalen Spannungen zu vertiefen, wird nur Schmerz und Leid verlängern, und zwar auf Seiten der Palästinenser ebenso wie auf Seiten der Israelis.
Auch US-Präsident Barack Obama gehört zur Reihe der Verlierer. Seit er im Amt ist, hat er nichts als Chaos in der Region bewirkt. Insofern ist es verständlich, dass die Türkei als Regionalmacht die Lücke besetzt, die Obamas Politik hinterlassen hat. Premierminister Erdogan ist nun in einer guten Position, um wirkliche Veränderungen zu erreichen. Er sollte dies nutzen, um zwischen der Fatah in der Westbank und der Hamas in Gaza zu vermitteln, denn dies könnte auch die Israelis dazu bringen, neue Schritte im Friedensprozess zu unternehmen. Er könnte die Israelis gar damit überraschen, dass er die Befreiung von Gilad Shalit erwirkt, dessen seit vier Jahren andauernde Geiselnahme eine der Hauptursachen der israelischen Blockade des Gaza-Streifens ist. Wenn Erdogan dies bewerkstelligte, könnte er den Israelis etwas beweisen, das er immer wieder behauptet: dass er nicht mit der israelischen Bevölkerung, sondern mit der israelischen Regierung im Streit liegt.
Vier Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Libanon-Kriegs, eineinhalb Jahre nach der Invasion in Gaza und nun fast einen Monat nach der Krise müssen sich sowohl Israel als auch die Türkei darauf konzentrieren, den Konflikt zu lösen. Wenn beide Seiten weiterhin Spielchen spielen, nur um ihr Gesicht zu wahren, werden darunter vor allem die Palästinenser und der Friedensprozess leiden.

Louis Fishman lehrt Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens am Brooklyn College an der City University New York und forscht gegenwärtig in der Türkei und in Israel. Sein Weblog findet sich unter

Aus dem Amerikanischen von Daniel Steinmaier