Strafe für »Aggressoren«. Zur Politisierung des Internationalen Strafgerichtshofs

Mit Adrenalin gegen die Aggressoren

Vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) soll in Zukunft auch gegen die Urheber von Angriffskriegen verhandelt werden. Eindeutige gesetzliche Bestimmungen gibt es hierfür nicht, die internationale Justiz dürfte sich politisieren.

Einen »dringend notwendigen Schuss Adrenalin« habe der Internationale Strafgerichtshof (ICC) jüngst erhalten, schreibt der irische Professor für Menschenrechte William Schabas. Die Aussage, dass der ICC nun mit neuer Energie an die Arbeit gehen soll, dürfte derzeit unumstritten sein. Seit sieben Jahren ist das Gericht in Den Haag zuständig für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord. Während Beobachter noch unschlüssig sind, in welche politische Richtung sich die Institution entwickelt, haben die Gründerstaaten dem Gerichtshof bereits eine weitere, bemerkenswerte Befugnis übertragen. Künftig soll in Den Haag auch der Vorwurf des Angriffskriegs (»Aggression«) verhandelt werden. Also nicht mehr nur, wie bisher, die heikle Frage, welche Kriegspartei sich wie an Zivilisten vergangen hat, sondern auch die meist noch heiklere: Wer trägt die Schuld an einem Krieg?
Dass die Aussicht auf zusätzliche politische Spannung in Den Haag den Adrenalinspiegel in die Höhe treibt, überrascht nicht. Ob und für wen diese Neuerung »dringend notwendig« ist, ist aber eine andere Frage.

Die Entscheidung, dem Gerichthof diese neue Zuständigkeit zu übertragen, fiel Mitte Juni auf einer Staatenkonferenz im ugandischen Kampala. Das starke Engagement der deutschen Delegation soll dabei eine wichtige Rolle gespielt haben. Seither zeigt sich die Bundesregierung höchst zufrieden darüber, dass die Befugnisse des Gerichtshofes erweitert werden. Die USA und Israel hingegen bleiben weiterhin zurückhaltend.Schon die bisherige Arbeit des ICC ist konfliktträchtig. Die Ahndung von Kriegsverbrechen wirft Fragen auf, die sich nicht allein mit einem Blick auf die Gesetze beantworten lassen, sondern von den Anklägern auch einen politischen Standpunkt erfordern. Der erste Chefankläger am ICC, der Argentinier Luis Moreno-Ocampo, hat sich manchmal recht eigenwillig gezeigt. So etwa im Fall Darfur. Ocampos erste Anklage richtete sich gegen regierungsfeindliche Guerilleros, die bei einem Angriff auf internationale Truppen zwölf Soldaten getötet hatten. Den Reitermilizen des sudanesischen Regimes, die Hunderttausende von Zivilisten in der Region Darfur terrorisierten, wandte sich Ocampo erst danach zu.
Wo es um Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord geht, können die Juristen des ICC auf Erfahrungen zurückgreifen, die man seit den Nürnberger Prozessen gesammelt hat. Das macht ihr Vorgehen zumindest berechenbar. Wenn es aber künftig darum geht, welche der zwei verfeindeten Kriegsparteien ein grundsätzlich legitimes Anliegen verteidigt und welche der »Aggressor« ist, verlässt der ICC erstmals das Gebiet, in dem das internationale Recht noch »objektive« Maßstäbe hergibt. In solchen Fällen wird der Gerichtshof deutlich weniger berechenbar werden.

Unter welchen Umständen ist militärische Gewalt legitim? Der Zweite Weltkrieg war historisch der erste und letzte Fall, in dem weltweit beinahe Einigkeit darüber herrschte, dass ein Staat – Deutschland – andere Staaten ohne jegliche Legitimation angegriffen hatte. Seither herrscht in der UN-Vollversammlung Streit. Die Konferenz im ugandischen Kampala hat »Aggression« als ein Verbrechen definiert, das von einem politischen oder militärischen Anführer begangen wird und das eine »manifeste« Verletzung der UN-Charta darstellt.
Nebulöser hätte man es kaum formulieren können. Die Diskussion darüber, ob die Intervention der Nato im Kosovo-Konflikt legitim war, illustriert das Problem ebenso wie die regelmäßigen Anschuldigungen, Israel begehe »Aggres­sionen« gegen Gaza oder den Libanon: Was muss sich ein Staat gefallen lassen, bevor er zurückschlagen darf, ohne als »Angreifer« zu gelten? Wie viele Zivilisten müssen welches Leid ertragen, bevor ein ausländischer Staat gewaltsam intervenieren darf, ohne als »Angreifer« zu gelten?
Solche Fragen können diskutiert und unterschiedlich beantwortet werden, eindeutige Bestimmungen im internationalen Recht gibt es jedenfalls nicht. Über die Frage, wo und zu wessen Gunsten der ICC künftig die genaue juristische Grenze zur »Aggression« ziehen und welche Po­litiker er öffentlich brandmarken wird, lässt sich deshalb nur orakeln.
Fest steht nur, wer künftig mitredet. Bislang ist der UN-Sicherheitsrat das einzige Gremium, das über die Legitimität militärischer Gewalt weltweiter Autorität entscheiden kann, dies freilich je nach Gutdünken der fünf Vetomächte, nämlich China, Großbritannien, Frankreich, Russland und der USA. Diese Deutungshoheit kann der ICC dem Sicherheitsrat künftig streitig machen.

Der Gerichtshof gibt einer Gruppe von Staaten eine Stimme, die sich gewissermaßen als Gegenentwurf zum UN-Sicherheitsrat versteht. Anders als noch bei den beiden Vorläufern des ICC, beim Jugoslawien- und beim Ruanda-Tribunal, wählt hier nicht der UN-Sicherheitsrat die Richter und Ankläger aus. Stattdessen bestimmen beim ICC alle 111 Unterzeichnerstaaten über die Vergabe von wichtigen Ämtern. Das gibt vor allem den zahl­reichen europäischen, afrikanischen und südamerikanischen Staaten großen Einfluss. Einer der beiden derzeitigen Vizepräsidenten des ICC ist der langjährige deutsche Karrierediplomat Hans-Peter Kaul. Wenn in Zukunft über die Legitimität eines Militäreinsatzes irgendwo auf der Welt gestritten wird, dann werden die Richter eine wichtige Rolle spielen.
Der »Schuss Adrenalin« für das Gericht in Den Haag dürfte populär werden, nicht zuletzt in Deutschland. Für besonders »unbeliebte« Staaten wie Israel ist die Änderung des Aufgabenbereichs hingegen ein Grund zur Vorsicht. Der Gerichtshof kann zwar vorläufig nur gegen solche Staaten wegen »Aggression« ermitteln, die sich freiwillig der Haager Gerichtsbarkeit unterworfen haben, weshalb die USA und Israel die Entwicklung aus sicherer Entfernung beobachten können. Zudem haben sich die Staatenvertreter in Kampala darauf geeinigt, dass Anklagen wegen »Aggression« frühestens im Jahr 2017 möglich werden. Auch das ist ein Kompromiss mit den Skeptikern. Langfristig verändern sich aber die Machtverhältnisse.
Im Jahr 1988 hatte die Bundesregierung vor der Juristenkommission der Uno noch erklärt: »Die bewaffneten Konflikte der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Frage, ob ein Akt der Aggression vorliegt und von wem die Aggression ausging, fast immer kontrovers war. Solange diese Frage nicht allgemein bindend geklärt ist, kann die Entscheidung unmöglich in die Hände irgendeines Richters irgendeines Landes gelegt werden.« Die Zeiten, da die Bundesrepublik eine so vorsichtige Haltung einnahm, sind vorbei. Der europäische Exportchampion geht wohl davon aus, dass sich die weltweite Stimmungsmache auf absehbare Zeit gegen andere richten wird.