Dumpinglohn für alle

Dumpinglohn für alle

In Deutschland gibt es immer mehr Mindestlohnregelungen, doch die Beschäftigten haben kaum etwas davon. Daran ändert auch ein Gerichtsurteil nichts, das Lohndumping vermeintlich als Straftat wertet.

Im Juni hatte man das Gefühl, die deutschen Gerichte überschlügen sich mit arbeitnehmerfreundlichen Urteilen. Erst werden Bagatellkündigungen erschwert und die Gewerkschaftsbezeichnung unter den Schutz der Meinungsfreiheit gestellt, dann wird die Tarifeinheit aufgehoben, und nun das: Wer einen verbindlichen Mindestlohn nicht zahle, handele nicht nur »ordnungswidrig«, sondern mache sich strafbar, entschied Presseberichten zufolge das Landgericht Magdeburg am 29. Juni.
Dort stand ein mittlerer Unternehmer vor Gericht, der als Pächter von Sanitäranlagen an Raststätten seine Reinigungskräfte, wie das Gericht feststellte, mit Stundenlöhnen unter zwei Euro abspeiste – dabei gilt seit 2004 ein verbindlicher Mindestlohn in der Gebäudereinigung. Die Arbeitszeit der Beschäftigten, allesamt Frauen aus Osteuropa, lag bei zwölf Stunden täglich. Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage, nicht etwa die Geprellten. Der Vorwurf lautete auf »Vorenthalten und Veruntreuung von Arbeitsentgelt«. Das ist ebenso eine Straftat wie der landläufig als Lohn­dumping bekannte »Lohnwucher«, der nach § 291 StGB bestraft werden kann. Da der damalige Arbeitgeber nun selbst wieder in ein Lohnarbeitsverhältnis abgerutscht ist und sich mit einem 400-Euro-Job durchschlägt, verhängte das Gericht nur eine symbolische Strafzahlung von 1 000 Euro. Von nun an müssten »Arbeitgeber, die nicht verbindlich festgesetzte Mindestlöhne zahlen, mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren« rechnen, so Christian Löffler, Sprecher des Magdeburger Gerichts.

Doch die Verlautbarungen infolge des Urteils vermitteln ein falsches Bild. Verurteilt wurde der Unternehmer im Grunde nicht, weil er seinen Beschäftigten den ihnen zustehenden Mindestlohn nicht gezahlt, sondern weil er »der Einzugsstelle Beiträge vorenthalten« (§ 266a StGB) hatte. Auf 69 000 Euro soll sich die Summe nicht gezahlter Sozialabgaben im Magdeburger Fall summieren, die sich aus der Unterschreitung des Mindestlohns ergibt. »Lohnwucher« nach § 291 StGB, wonach ein auffälliges Missverhältnis zwischen Lohn und Arbeitsleistung besteht, spielte in dem Verfahren hingegen keine Rolle. Der Firmenchef wurde also genau genommen als »Sozialbetrüger« und nicht als »Lohndrücker« verurteilt. Hätte er die gesetzlichen Beiträge korrekt abgeführt, aber den Beschäftigten weniger Lohn ausgezahlt, hätte er sich nicht im Sinne des herangezogenen Paragraphen schuldig gemacht. Daher bietet das Urteil allenfalls eine Behelfskonstruktion zur Durchsetzung des Mindestlohns. Der Abschreckungseffekt wurde nicht verschärft, allenfalls machte das Gericht auf einen Stolperstein aufmerksam.
Bezweifelt werden darf auch, ob der Richterspruch von »bundesweiter Bedeutung« ist. Ein Einzelfall ist er zumindest nicht. Im vergangenen Jahr, so die Bundesregierung in der Antwort auf eine Anfrage von Grünen-Abgeordneten Ende Juni, wurden in vielen Fällen Unternehmer der Gebäudereinigung wegen desselben Delikts zu knapp 600 000 Euro Strafe und 574 Monaten Haft verurteilt. Im Bausektor belief sich das Strafsaldo gar auf gut zwei Millionen Euro und fast 1 400 Monate. Insgesamt wurden wegen »Vorenthaltung« im Jahr 2008 fast 9 000 Verfahren geführt, 7 400 endeten mit einer Verurteilung. Zum Vergleich: Wegen »Wuchers« wurden dagegen nur 21 Prozesse angestrengt und zwölf Arbeitgeber für schuldig befunden.
Anschaulich wurde das gesellschaftliche Ausmaß der Vorenthaltung von Sozialversicherungsleistungen, als die Regierung mitteilte, dass jeder zehnte der überprüften Bau- und Reinigungsbetriebe weniger als den Mindestlohn zahle. Im vergangenen Jahr wurden demnach allein für das Baugewerbe fast 1 500 Verfahren, in der Reinigungsbranche 200 eingeleitet. Eine »seriöse Schätzung« der Dunkelziffer sei nicht möglich. Über weitere an den Mindestlohn gebundene Wirtschaftszweige, etwa die Müllbranche, gebe es keine Erkenntnisse. Damit war der Fall für das Arbeitsministerium auch schon abgeschlossen. Ursula von der Leyen (CDU) kündigte zwar schärfere Kontrollen an, mehr Personal und härtere Sanktionen lehnte sie aber ab.

Von den Mindestlohnregelungen profitieren die Beschäftigten kaum. In den vergangenen Jahren einigten sich mehrere Spitzenverbände auf Branchenregelungen für den Mindestlohn nach dem Arbeitnehmer­entsendegesetz. Mit der näher rückenden EU-Freizügigkeit für die neuen EU-Mitgliedsstaaten ab Mai 2011 wird die Idee des Mindestlohns auch auf Unternehmerseite weitere Anhänger finden. Zu ihren neuen Freunden zählen etwa Schlecker, Lidl, die Bertelsmann-Stiftung und die Leiharbeitsverbände IGZ und BZA. Der Kreis der Branchen mit Mindestlohn – derzeit acht – wird also größer werden.
Doch heißt das nicht, dass sich in Sektoren mit geringer gewerkschaftlicher Verankerung die Probleme der Ausgebeuteten in Luft auflösen. Schließlich ist die Einführung eines generellen Mindestlohns allenfalls Beweis eines politischen Einflusses der Gewerkschaften – ein Zeichen ihrer Stärke in den Betrieben ist es nicht. Sie begeben sich vielmehr auf Gedeih und Verderb in Abhängigkeit von der Exekutive, wenn der Mindestlohn von einer Ministerialverordnung abhängt. Die Kontrollen über dessen Einhaltung werden vom Zoll durchgeführt. Zum Einsatz kommt die in linken Kreisen nicht sehr beliebte Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS), die regelmäßig Jagd auf »illegale« Migranten und Schwarzarbeiter macht. Falls die Behörde einen Verstoß feststellt, wird ein Bußgeld verhängt und das Geld wandert in die Staatskasse. Die geprellten Beschäftigten gehen leer aus – so auch im Magdeburger Fall.

Das freundliche Presse-Echo, wonach »Lohndumping kein Kavaliersdelikt ist, sondern eine Straftat«, wie es IG BAU-Regionalleiter Peter Schulze formulierte, trifft den Puls der Zeit: Nicht immer auf »die Kleinen« dürfe es gehen, sozial gerecht müsse es eben sein. Doch die Realität sieht anders aus. Wie Schulze gegenüber der Jungle World erklärte, weise nach seiner Schätzung jeder vierte Arbeitsplatz in der Gebäudereinigung »Mängel bei der Umsetzung des Tarifvertrags« auf. So sei nach dem Abschluss im vergangenen Jahr die Arbeit teils stark verdichtet worden, »so stark, dass sie nicht mehr leistbar ist«. Als Verstoß gegen den Mindestlohn lässt sich das aber nur schwer nachweisen, ungeachtet der »vielen Kollegen, Gewerkschaftssekretäre und Ehrenamtlichen, die durch die Objekte gehen und prüfen«, quasi in Ergänzung zum Zoll.
Zudem gibt es auch Dumpinglöhne mit gewerkschaftlicher Billigung: in der Zeitarbeit. Vom gesetzlichen Grundsatz »gleicher Lohn für gleiche Arbeit« darf schließlich nur abgewichen werden, wenn das ein Tarifvertrag vorsieht. Die Gewerkschaften hatten ihre Unterschrift dafür hergegeben. Mit dem nun angekündigten Mindestlohn für die Zeitarbeit würde dieser geregelte Verstoß gegen den Grundsatz verstetigt.
Es waren im großen und ganzen immer zwei Argumente, die begründen sollten, warum ein Beschäftigter für zwei Unternehmer – den Verleiher und den Entleiher – zu arbeiten habe: die Flexibilität der Unternehmen und der Einstieg in den Arbeitsmarkt für Erwerbslose. Aber der »Klebeeffekt«, mit dem ein Franz Müntefering (SPD) seinerzeit die Entgrenzung der Leiharbeit begründet hatte, existiert nicht. Nicht einmal jeder zehnte der leiharbeitenden Ex-Arbeitslosen entkommt binnen zwei Jahren der Leiharbeit oder der Erwerbslosigkeit. Das ergab eine Ende Juni veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Dabei gab sich das zur Arbeitsagentur gehörige Institut alle Mühe: Leiharbeit sei »zwar keine breite Brücke, aber zumindest ein schmaler Steg in die Beschäftigung«, verkündete IAB-Chef Joachim Möller. Weiter heißt es in dem Bericht, dass die »Qualität der Arbeitsverhältnisse nicht im Fokus« gestanden habe. Selbst in dieser Beschränktheit reicht es also nicht für eine ordentliche Erfolgsmeldung. Vielmehr findet der »Klebeeffekt« in der Leihbranche selbst statt. Die Arbeitsaufnahme in der Leiharbeit stellte sich, im Vergleich zu denen in Nicht-Leiharbeit, »als nachteilig« heraus. Für solche Erkenntnisse hätte es nicht eigens einer Studie bedurft.
Das Institut für Arbeit und Technik (IAT) hingegen spricht Klartext. Seine Studie befasste sich mit »Flexibilisierung und Leiharbeit in der Pflege«. Zwar sei die absolute Zahl der Leiharbeiterinnen im Gesundheitswesen – davon nahezu 90 Prozent Fachkräfte – mit 19 000 noch gering. In den vergangenen fünf Jahren habe sie sich jedoch verfünffacht. Die Tendenz ist deutlich. Vielfach, so die Forscher, seien schlechte Planung und eine zu dünne Personaldecke Anlass, auf Verleiher zurückzugreifen. In den Genuss des ab August geltenden Mindestlohns für Pflegeheime und ambulante Dienste kommen jene Beschäftigten indes nicht, weil sie formell in einer anderen »Branche« – der Zeitarbeit – tätig sind.
Eine vermeintlich strengere Rechtsprechung ändert da wenig an der aussichtslosen Lage im prekären Bereich, genauso wenig wie die markigen Worte aus den Reihen der Gewerkschaften und der Politik. Wer den Mindestlohn haben will, muss sich – juristisch oder kollektiv – mit seinem Widerpart im Arbeitsverhältnis anlegen. Solange das nicht geschieht, steht vor allem eins zu befürchten: die Verallgemeinerung des Mindestlohnniveaus.