Wie neoliberal ist der Euro?

Mehr Europa, nicht weniger!

Gerade angesichts der Wirtschaftskrise in der EU sollte der Euro aus linker Sicht verteidigt werden, als Antwort auf Globalisierung und Nationalismus.

Wenn ich mir die Transkription der damaligen Debatte ansehe und die vergangenen Jahre rekapituliere, kann man sich in der grünen Position zum Euro nur bestätigt sehen. Die von der Jungle World damals gestellte Frage, ob der Euro »ein neoliberales Projekt oder ein antinationales« sei, war durchaus richtig gestellt, konnten sich doch viele links der Mitte seinerzeit nicht entscheiden, ob sie aus pro-europäischen, internationalistischen Überzeugungen heraus den Euro begrüßen oder die gemeinsame Währung als Projekt neoliberaler Wirtschaftspolitik ablehnen sollten.
Aus unserer europafreundlichen Haltung heraus haben wir Grüne damals den Euro befürwortet. Das war richtig, und die Position hat sich bewährt. Der Euro war von Anbeginn mehr ein politisches als ein ökonomisches Projekt. Er war die Antwort auf die deutsche Vereinigung. Mit der unverbrüchlichen Einbindung des wiedervereinten Deutschlands in eine gemeinsame europäische Währung verzichtete Deutschland auf zen­trale Bestandteile seiner Souveränität. Es opferte nicht nur symbolisch sein bekanntestes Nationalsymbol. Die Abschaffung der heimlichen Leitwährung D-Mark übertrug die Währungspolitik einer europäischen Regulierung. Künftig wurde die Währungspolitik Europas nicht mehr durch die deutsche Bundesbank bestimmt. Der Euro war so von Anfang an ein antinationales Projekt – und so eine wirklich historische Leistung Helmut Kohls.

Auch ökonomisch ist der Euro überwiegend ein Erfolgsmodell. Er hat Handel und Binnenmarkt zum Vorteil der meisten befördert und vielen Staaten und ihren Bürgern durch prosperierenden und berechenbaren Außenhandel eine Verbesserung des Lebensstandards gebracht.
Die Entwicklung hat allerdings eines gezeigt: Eine gemeinsame Währung funktioniert nicht ohne eine gemeinsame Wirtschafts- und Steuerpolitik, ohne den Ausgleich von Ungleichgewichten, ohne die Koordinierung der Lohnpolitik. Das wurde schon damals von vielen links der Mitte gesehen und gefordert, nicht nur von Grünen. Die Antwort auf die derzeitige Euro-Krise – wenn man sich der medialen und spekulativen Übertreibung in dieser Benennung anschließen will – muss daher heißen: Mehr Europa, nicht weniger.
Nach wie vor gilt, dass die langfristige Überwindung des Nationalismus in Europa mit einer starken europäischen Union verbunden ist, mit einem einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum und mit einer gemeinsamen europäischen Währung. Auch in der jetzigen Schuldenkrise kommt der lauteste Ruf nach einer Aufkündigung europäischer Solidarität und nach einem Ausschluss der Schuldnerländer aus dem Euro vor allem von rechts. Von Springer-Presse bis Peter Gauweiler machen die Nationalisten Stimmung gegen das Griechenland- und das Euro-Rettungspaket. Für eine konsequent pro-europäische Position gilt es heute, den Euro gegen die Angriffe der Nationalisten und der Währungsspekulanten zu verteidigen und zu stabilisieren. Keineswegs können wir uns dem Ruf nach Austritt oder Zerschlagung der Währungsunion oder gar nach einer Wiedereinführung der D-Mark anschließen.
Der Euro war und ist als solcher kein neoliberales Projekt – was man schon daran erkennen kann, dass das europäische Kernland des Neoliberalismus, Großbritannien, nicht dabei ist. Richtig ist aber, dass in der EU lange Zeit ein neoliberaler Diskurs vorherrschend war. Die neoliberal ausgerichteten Eliten haben versucht, diese Vorherrschaft auch über die europäische Geldpolitik zu zementieren. Das wäre ihnen via Bundesbank sogar leichter gefallen.
Dennoch, das ist vorbei. Europa hat im vergangenen Jahrzehnt viel zur Regulierung getan – von der Umwelt- und Klimapolitik über ambitionierten Verbraucherschutz, fortschrittliche Antidiskriminierungspolitik bis zu dem Versuch, mit einer europäischen Beschäftigungspolitik die desintegrativen Folgen von Deregulierung und Privatisierung aufzufangen – auch wenn der Fortschritt wie so oft eine Schnecke war. Auch die Abwehrschlacht gegen die Dienstleistungsrichtlinie wurde gewonnen. Wir haben seit Lissabon einen neuen Vertrag, der mehr Demokratie auf europäischer Ebene instituiert und immer mehr Bereiche in die Mitbestimmung des Europäischen Parlaments gebracht hat.

Es ist nicht per se neoliberal, eine stabile Währung mit strikten Verschuldungskriterien zu fordern. Das ist es nur, wenn sich eine neoliberale Wirtschafts-, Sozial- und Steuerpolitik anschließt und Geldwertstabilität zum alleinigen bzw. dominanten Kriterium erhoben wird. Die Finanzierung öffentlicher Güter über Verschuldung und Inflation zu regeln war und ist keine gute Lösung, und nachhaltig ist sie schon gar nicht. Die engen Schuldenkriterien des Euro als wesentlich neoliberal zu interpretieren, folgt einer falschen Entgegensetzung. Denn diese Kriterien sagen nichts darüber aus, ob man Verschuldung über unsoziale Kürzungen oder über sozial gerechte Einnahmeverbesserungen löst. Ich kann nur wiederholen, was ich in der Debatte vor 13 Jahren gesagt habe: »Was wir als Staat machen, muss durch Einnahmen finanziert werden, also durch Steuern, und nicht durch Verschuldung. Das Geld für die Staatstätigkeit muss durch Besteuerung der Besserverdienenden kommen, dazu muss die Linke den Mut und die Konsequenz haben; der sozialdemokratische Weg, stattdessen den Staatshaushalt über Verschuldung zu finanzieren, ist eine Flucht, die am Schluss die unteren Einkommensschichten bezahlen – also gerade keine Umverteilung.«
Der Euro als solcher hat niemanden davon abgehalten, Steuern zu erhöhen. Was die Staaten davon abgehalten hat, ist die Abwanderungsdrohung mobilen Kapitals und die ruinöse Standort- und Steuerkonkurrenz. Die Lösung liegt deshalb darin, den Binnenmarkt politisch und wirtschaftlich zu regulieren. Dazu bedarf es weit mehr als einer gemeinschaftlichen Geldpolitik, dazu brauchen wir gemeinsame Sozialstandards, mehr Koordination in der Lohnpolitik und eine europäisch koordinierte Steuerpolitik, mit einer zumindest teilweisen Harmonisierung von Steuersätzen und Bemessungsgrundlagen.
Die fatale Abhängigkeit vieler Mitgliedsstaaten von den Finanzmärkten resultiert aus unterfinanzierten Haushalten. Neoliberal ist es, dieses Problem durch Sozialabbau und die Reduktion der Staatsquote lösen zu wollen. Man kann es auch durch Erhöhung der Einnahmen lösen. Das ist die politische Auseinandersetzung, um die es heute geht. Und die Bedingungen verbessern sich. Die neoliberale Hegemonie bröckelt, wie man an den massiven Schwierigkeiten der schwarz-gelben Bundesregierung sieht. Bis tief in die Reihen der Konservativen hinein ist die Einsicht gewachsen, dass eine starke öffentliche Hand besser finanziert sein muss.
Die derzeitige Schuldenkrise verweist allerdings auf mehr Ungleichgewichte als nur jenes zwischen öffentlichen Ausgaben und Einnahmen. Denn was liegt der Schuldenkrise zugrunde? Die verschuldeten Länder Südeuropas haben jahrelang mehr konsumiert als produziert, mehr importiert als exportiert, private und öffentliche Verschuldung war die Folge. Die Ungleichgewichte der Leistungsbilanzen können durch die wirtschaftlich unterlegenen Länder im Euroraum nicht mehr über Währungsabwertung und relative Verbesserung ihrer Wettbewerbsposition abgebaut werden. Die Defizitländer landen also mittelfristig in der Überschuldung. Seit Beginn der Währungsunion hat Deutschland in die sogenannten PIIGS-Staaten Güter und Dienstleistungen für fast 270 Mrd. Euro exportiert. Verglichen damit erscheint die Summe von 148 Mrd. Euro für die Gewährleistungen im Rahmen des Eurorettungspakets in einem etwas anderen Licht. Deutschland wurde »Exportweltmeister« auf Pump. Da einem großen Teil der deutschen Exporte keine entsprechenden Importe gegenüberstanden, wurden sie über den Umweg des Kapitalmarktes finanziert, auf dem wiederum deutsche Banken eine große Rolle spielten. Vereinfacht gesagt: Deutsche Unternehmen exportierten Güter in Defizitländer, diese verschulden sich bei deutschen Banken, am Schluss garantiert der europäische Steuerzahler die vom Ausfall bedrohten Kredite. Die von rechts so heftig bekämpfte Transferunion existiert schon. Finanziert wird der Länderfinanzausgleich innerhalb der Währungsunion durch die Banken, per Rettungspaket garantiert durch die Steuerzahler.
Dieser Zustand ist so unhaltbar wie ungerecht. Einmal mehr werden private Risiken auf die öffentliche Hand verlagert. Die gemeinsame europäische Währung erzeugt daher weiteren Druck in Richtung auf die Vergemeinschaftung, auf Demokratisierung und Europäisierung von Politikbereichen. Denn auch dies verlangt, dass die Währungsunion durch eine koordinierte Wirtschaftspolitik ergänzt wird. Im Ergebnis kann eine solche koordinierte Wirtschaftspolitik Entwicklungen hin zu mehr europäischer Solidarität, hin zu gleichmäßiger Entwicklung, hin zu einem stärkeren Ausgleich zwischen Arm und Reich in Europa bewirken.

Eine koordinierte europäische Wirtschaftspolitik müsste die Binnennachfrage in den Überschussländern stärken, damit sie aus den Defizitländern mehr importieren können. Sie müsste eine konsequentere Investitions- und Strukturpolitik betreiben, die den schwächeren Gebieten ein Aufholen ermöglicht. Sie müsste die Steuerpolitik harmonisieren und dafür sorgen, dass Steuer­dum­ping ausbleibt, dass Steuern auch in Ländern wie Griechenland vor allem bei den Gutverdienenden und Vermögenden auch wirklich eingezogen werden – was die Auflagen für das Nothilfe- und Kreditprogramm der EU von den Griechen übrigens bereits verlangen. Eine solche Harmonisierung würde mittelfristig dafür sorgen, dass die Unterfinanzierung der öffentlichen Hand in den Mitgliedsstaaten und damit ihre Abhängigkeit von den Kapitalmärkten stark reduziert würde. Und eine europäische Wirtschaftspolitik könnte durch koordinierte Investitionen Impulse in Richtung einer ökologischen Modernisierung der europäischen Wirtschaft geben. Das meint die Forderung nach einem europäischen Green New Deal.
Eingebettet in eine solche europäische Wirtschaftspolitik, wäre der Euro nicht nur ein postnationales Projekt, sondern könnte in seinen Wirkungen sogar ein elementarer Bestandteil eines sozialen und ökologischen europäischen Transformationsprojektes werden. Zugegeben, der Weg dahin ist noch weit, und eine solche Entwicklungsrichtung muss politisch erkämpft werden – auch gegen erhebliche Widerstände. Aber der Trend geht hin zu derartigen Ansätzen und die Erosion neoliberaler Hegemonie bietet dafür endlich wieder mehr Anknüpfungspunkte – und neue Bündnispartner.

Um wie vieles schlechter wäre doch die Alternative der angeblich Euro-kritischen, in Wirklichkeit aber neonationalen »Linken« – und ihrer Mitstreiter auf der Rechten. Das Auseinanderfallen des Euro in nationale Währungsräume ist alles andere als fortschrittlich, geschweige demokratisch. Die Möglichkeit, Währungen abzuwerten, würde den Schuldnerländern vielleicht Wettbewerbsvorteile für ihre Exporte liefern, sie wäre aber erkauft mit großen Einkommensverlusten, gegen die der heutige Sparkurs in Griechenland ein laues Lüftchen ist, einem Kollaps des Bankensystems, einer Kapitalflucht der Oberschichten und sinkendem Lebensstandard für Millionen von Menschen in den europäischen Schuldnerländern. Ganz zu schweigen von den unkalkulierbaren Risiken für die Beziehungen zwischen den europäischen Völkern und Klassen, bis hin zu einem Aufflammen aggressiver Nationalismen und Rechtspopulismen in bisher nicht gekanntem Ausmaß.
Die große Aufgabe der Politik für die nächsten Jahrzehnte ist nichts weniger als die soziale und ökologische Regulierung und demokratische Steuerung internationalisierter Märkte, ein Wiedergewinn von demokratischer Gestaltungsmacht gegenüber den Finanzmärkten. Es gilt, der Abwanderungsdrohung des immer mobilen Kapitals zu begegnen. Um die Märkte zu zivilisieren, den notwendigen Technologieschub der ökologischen Modernisierung zu initiieren und die sozialen Standards weiter zu finanzieren, muss die dafür notwendige Staatsquote durchgesetzt werden. Dazu müssen wir europäisch denken. Dazu müssen wir den Euro nutzen. Standort- und Standardkonkurrenz kann nur europäisch ausgehebelt werden. Ein Rückzug in den Nationalstaat unter »linken« Vorzeichen, eingeleitet durch ein Ausscheren aus der europäischen Währung, wäre für das Projekt sozialer und ökologischer Zivilisierung der Märkte das Falscheste, was man tun kann. Links und neonational gingen noch nie zusammen.

Jürgen Trittin ist Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Bundestag und Mitglied im Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union.