Habe ich etwas gelernt?

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Immer wenn eine neue Erfindung auf den Markt kommt, treten unweigerlich Miesmacher auf. So warnte Platon vor der Unsitte des Schreibens: »Diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie er­lernen, Vergesslichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben.« Diese Bemerkung gilt als Ursprung der Medientheorie, und rückblickend könnte man ein weiteres Argument gegen die Schrift hinzufügen: Diese Erfindung wird bewirken, dass jeder Wichtigtuer die Menschheit weitaus effektiver mit Banalitäten behelligen kann. Dass früher die Herstellung eines einzigen Buches den Schreiber etwa drei Monate in Anspruch nahm, war eine Absicherung gegen die inflationäre Verbreitung des Geschwätzes. Dann wurde der Buchdruck erfunden, und nun gibt es auch noch das Internet. Seitdem heißt das Gedächtnis Wikipedia, und jeder Biertischstratege kann seinen Plan zur Rettung der Welt online präsentieren.
Selbstverständlich mangelt es nicht an Miesmachern, und zu ihnen gesellen sich nun die Geläuterten. Die ­autobiographische Beschreibung des Lebens ohne Internet von Autoren wie Alex Rühle (»Ohne Netz: Mein halbes Jahr offline«) ist bereits zu einem literarischen Genre geworden. Auch die autobiographische Bekenntnis­literatur ist eine Erfindung der Antike, sie geht auf Augustinus zurück. Augustinus sagte aber auch: »Befreie mich, oh Herr, von der Vielrednerei, an der ich drinnen, in meiner Seele leide; sie ist erbarmungswürdig.« Dieses Leiden ist den meisten zeitgenössischen Autoren bedauerlicherweise unbekannt. Antike Weisheit zeigt allein der US-Cartoonist James Sturm, der vier Monate ohne Internet auskam, aber der Versuchung widerstand, ein Buch darüber zu schreiben. Er fragte sich nämlich zunächst: »Habe ich etwas gelernt, weil ich offline war?«
Die Miesmacher haben immer recht, und dennoch liegen sie falsch. Die Kunst des Memorierens ist durch die Verbreitung der Schrift weitgehend verschwunden - wie Platon es prophezeit hat. Bis zur Einführung der Druckerpresse war jedes Buch ein individuell gestaltetes Kunstwerk, und verbreitet wurden im 16. Jahrhundert vornehmlich religiöse Hetzschriften. Dennoch hat die Menschheit durch die Verbesserung ihrer Kommuni­kationsmittel letztlich mehr gewonnen, als sie verloren hat. Allerdings ist auch das Internet kein herrschaftsfreies Terrain. Unbezahlte Überstunden machten zu Platons Zeiten nur Sklaven, die mussten auch in der Nacht mal eine Amphore Wein holen, damit der Dialog nicht zu trocken würde. Nun aber sind zwei Drittel der Berufs­tätigen in Deutschland außerhalb der regulären Arbeitszeiten für ihr Unternehmen per Internet oder Handy erreichbar. Sinnvoller wäre es, statt des Internets den Chef abzuschalten.