Die EU als Projekt nationaler Eliten

Eine Nation ist Europa nicht geworden

Zur linken Kritik am europäischen Einigungsprozess gehörte es in den neunziger Jahren, vor einer europäischen Identitäts- und Nationenbildung zu warnen, die nationalstaatlichen Chauvinismus nicht ersetzen, sondern auf eine »Großmacht Europa« umlenken würde. Hat sich diese Analyse bestätigt? Einige Überlegungen.

Die linke Debatte über den Euro und damit immer auch über die Europäische Union verbleibt auf seltsame Art und Weise im luftleeren Raum. Die von der Jungle World vor 13 Jahren gestellte Frage, ob die EU ein antinationales, neoliberales oder, um eine noch ältere Debatte aufzuwärmen, ein pazifistisches oder antiamerikanisches Projekt sei, lässt sich nicht unabhängig von der gesellschaftlichen und politischen Anbindung dieses Projekts beantworten.
Dazu muss man sich von der Vorstellung verabschieden, die EU wäre ein irgendwie staatsähnlicher politischer Akteur oder würde in absehbarer Zeit zu einem werden. Dagegen sprechen mehrere Argumente: Schon alleine aufgrund der Entscheidungsstrukturen ist die EU nicht in der Lage, europäische außenpolitische Interessen zu definieren. Stattdessen folgt die Außenpolitik der EU einer prozessualen Logik von Expansion und Erweiterung, die mit den formulierten Interessen der Mitgliedstaaten nur bedingt zu tun hat; innenpolitisch fehlen ihr Gewalt- und Steuermonopol. Anders als beim klassischen Territorialstaat fallen die ökonomischen, politischen und sozialen Grenzen der EU auseinander. So sind mit Norwegen, Island und der Schweiz Nicht-Mitglieder Teil des Schengenraums, an dem wiederum Großbritannien nicht teilnimmt; ähnliches trifft auf den Euroraum zu. Insofern stellt die EU ein neuartiges politisches Gebilde dar, in dem eine Vielzahl ökonomischer und politischer Akteure aktiv sind.

Die Unterscheidung zwischen Akteuren und der Struktur, in der sie sich bewegen, ist für eine politische Bewertung der EU nicht unerheblich, da nur so die relevanten Fragen für eine linke, antinationale Position zu Europa beantwortet werden können: Stellt dieses politische Gebilde den verlängerten Arm Deutschlands dar? Und in welchem Verhältnis steht die EU zu wirkungsmächtigen Ideologien wie Rassismus und Nationalismus? Für Deutschland war und ist die EU eines der zentralen politischen Projekte, da Europa die beste Möglichkeit bietet, sich politischer Beschränkungen unterschiedlichster Art zu entledigen. Genau aus diesem Grund bemüht sich Deutschland auch, im Unterschied zu Großbritannien und Polen, die europäische Integration voranzutreiben. Das lässt sich, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, an mehreren Politikbereichen zeigen.
Geschichtspolitisch ermöglichte die europäische Integration den deutschen intellektuellen Eliten, die deutsche Schuld in eine europäische Verantwortung zu transformieren. In diesem Rahmen wird der Holocaust zu einer europäischen Erfahrung umdefiniert und aus dem deutschen Angriffskrieg wird eine »Erinnerung, die uns trennte, bevor sie uns verband« (Frankfurter Hefte 1–2/2004). Die erinnerungspolitische Entdeckung der französischen Kollaboration mit den Deutschen dient, genauso wie der Verweis auf das Massaker von Jedwabne, einer Geschichtsschreibung, in der die Trennlinie zwischen Tätern und Opfern des Zweiten Weltkriegs nicht mehr entlang nationaler Grenzen verläuft, sondern quer zu ihnen. Ihren Niederschlag findet diese Art der Geschichtspolitik in zahlreichen historischen Symposien sowie in Schulbüchern. Der geschichtspolitische Nutzen ist offensichtlich: Holocaust und Zweiter Weltkrieg werden von einer politischen Last Deutschlands zu einem Kernbestandteil europäischer Identität umdefiniert und dadurch weiter entwirklicht. Während die deutsche Vergangenheit der Politik im nationalen Rahmen umfassende Beschränkungen auferlegt, speist sich aus ihr auf EU-Ebene ein globales Sendungsbewusstsein.

Eng damit verbunden ist der Versuch Deutschlands, über die EU die eigenen Großmachtambitionen zu verwirklichen. Bereits während des Irak-Kriegs bot die EU das zentrale politische Forum, in dem sich Deutschland den Ländern des Nahen Ostens als attraktive Alternative zu den USA zu präsentieren suchte. Während letztgenannte vornehmlich auf eine Änderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Nahen Osten setzten, empfahlen sich Deutschland und die »Friedensmacht Europa« (SPD) den dortigen Diktaturen als »Partner«, von dem lediglich eine rhetorische Einmischung in innere Angelegenheiten zu erwarten war. Dabei ist die im Rahmen der EU verfolgte Außenpolitik primär Ausdruck des geopolitischen Interesses an einer stabilen Peripherie, die zwar durchlässig für russisches Gas ist, nicht jedoch für Migranten, und die möglichst keine für Kerneuropa gefährliche Quelle der Instabilität sein soll. Die gesellschaftlichen Zustände in Europas Hinterhof werden dabei dem Primat stabiler Verhältnisse untergeordnet. Insofern gilt für die Außenpolitik das gleiche wie für die Erinnerungspolitik: Auf dem Umweg über Europa entledigt sich Deutschland seiner Beschränkungen und verleiht den eigenen Ambitionen größeres geopolitisches Gewicht.
Auch mit der unter besonderer Beobachtung durch Linke stehenden EU-Migrationspolitik verhält es sich nicht anders. Hier hat Deutschland die Einschränkungen durch humanitäre Verpflichtungen insoweit an andere EU-Mitglieder abgegeben, als Asylsuchende, Flüchtlinge und illegale Migranten mit der Gastfreundschaft Griechenlands, Italiens und Spaniens vorliebnehmen müssen. Mit der Einführung des Dublin-Systems und perfektioniert durch die EU-Ost-Erweiterung kann sich Deutschland bei der Auswahl seiner Zuwanderer somit relativ unbeirrt an Kriterien des Arbeitsmarktes orientieren. Politisch und gesellschaftlich unerwünschte Formen der Migration überlässt man der EU-Peripherie, die auf diese Situation mit weiterer Abschottung reagiert. Insofern steht auch hier die verbesserte Durchsetzung nationaler Interessen im Mittelpunkt.
Nichtsdestotrotz lässt sich die EU nicht auf ein Instrument deutscher Großmachtinteressen reduzieren, da dies die Rückwirkungen des Integrationsprozesses auf die deutsche Gesellschaft unterschlagen würde. Dies ist für eine linke Positionierung insofern relevant, als bestimmte Ergebnisse der Integration zunehmend in Widerspruch zu wirkungsmächtigen Ideologien wie Nationalismus und Rassismus treten. Damit wird die europäische Integration zu einem Mobilisierungsfeld für diese Ideologien. Es handelt sich somit also keineswegs nur um alten Wein in neuen Schläuchen.
Die Eurokrise und das sogenannte Rettungspaket für Griechenland stellen dabei nur die jüngsten Beispiele dafür dar, wie der Prozess der europäischen Integration Sachzwänge und darauf folgende politische Reaktionen produziert, die auf erheblichen Widerstand von nationalistischer Seite stoßen. Zwar profitierte Deutschland von der Einführung des Europäischen Währungssystems und seiner Vollendung durch den Euro, weil die weniger produktiven EU-Mitglieder die Möglichkeit verloren haben, ihre Wirtschaft über Währungsabwertungen konkurrenzfähig zu machen. Doch die gemeinsame Währung verknüpft die griechische (sowie die spanische und portugiesische) Wirtschaft mit der der restlichen Euroländer, so dass ökonomische Entwicklungen in einem Mitgliedstaat Auswirkungen auf die gesamte EU haben können. Die unvorhersehbaren Folgen einer Staatspleite begründen somit Sachzwänge, denen sich Deutschland nicht entziehen kann und die dadurch für das Rettungspaket ausschlaggebend sind.

In der Folge übersteigt damit die europäische Integration die Schwelle zur Politisierung, und der bis dato weitestgehend latente Widerspruch zwischen dem Projekt Europa und breiten Bevölkerungsinteressen wird offensichtlich. Oder, wie es der Politikwissenschafter Andrew Moravcsik sinngemäß formuliert hat: Europa funktioniert nur, weil und solange es so langweilig ist. Aufgrund der medialen Politisierung der Eurokrise sehen sich die politischen Eliten zunehmend mit der Frage der Bevölkerung konfrontiert, warum »wir« für die »lebenslustigen Südländer« zahlen sollen. Insofern tritt der Integrationsprozess in Widerspruch zu dem, was der Bevölkerung als »nationales Interesse« erscheint.
Ähnliches konnte bereits bei Fragen der europäischen Binnen- und Arbeitsmigration beobachtet werden. Hier wird die EU von vielen Menschen vor allem für eine Intensivierung der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verantworlich gemacht. Dank der EU müssen »wir« jetzt auch noch mit polnischen Klempnern konkurrieren und in vier Jahren Rumänen und Bulgaren reinlassen. Hier bringt die Osterweiterung, die unter anderem durch das Interesse der Mitgliedstaaten an stabilen Pufferzonen in der Peripherie befördert wird, die Nebenwirkung mit sich, dass auch die neuen EU-Bürger in den Genuss der Freizügigkeit kommen werden. In der Folge wird ein Großteil derjenigen, die noch Anfang der neunziger Jahren im Zentrum des rassistischen Ressentiments standen, in absehbarer Zeit legalen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Die uneingeschränkte Öffnung des Arbeitsmarkts entspringt damit nicht politischen Interessen Deutschlands, sondern folgt der Integrationslogik, die sich auch gegen Widerstand aus den Mitgliedstaaten durchgesetzt hat. Das sind noch keine offenen Grenzen, aber es ist auch nicht Nichts.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die EU als Projekt nationaler Eliten entstanden ist und weiter vorangetrieben wird, dabei aber in einen zunehmenden Widerspruch zu dem gerät, was die Mehrheit der Bevölkerung als »nationales Interesse« definiert. Somit kann auch keine Rede davon sein, dass es sich um ein irgendwie geartetes antinationales Projekt handelt, das Gegenteil ist der Fall: Es handelt sich bei den progressiven, antinationalen Spurenelementen um eine List der Geschichte und nicht um ein antinationales Erfolgsprojekt. Ernst genommen werden müssen sie dennoch, da sie, wie die Reaktionen auf die Eurokrise und die Arbeitnehmerfreizügigkeit gezeigt haben, als Anlass für rassistische und nationalistische Kampagnen dienen.

Der Autor war Mitglied des BgR Leipzig sowie Redakteur der »Phase 2« und ist jetzt Stipendiat der Bremen International Graduate School of Social Sciences.