Über Martin Walsers literaturpolitischen Familienbetrieb

Das Gesetz der Sippe

Über den Zusammenhang von Kultur­industrie, Antisemitismus und Talentlosigkeit am Beispiel der Familie Walser.

Es begab sich in jenen, von unbeugsamem Aufbauwillen und Wiedergutwerdungsstreben der dezimierten deutschen Bevölkerung erfüllten mittleren fünfziger und frühen sechziger Jahren, dass dem Schriftsteller Martin Walser und seiner Gattin Käthe vier Töchter geschenkt wurden. Der Ältesten unter ihnen erging es, wie es im Leben vor sich zu gehen pflegt: Sie wuchs heran, um irgendwann das Elternhaus zu verlassen, in den Hafen der Ehe einzulaufen und auf eigenen Füßen zu stehen. Die drei anderen, Johanna, Alissa und Theresia, aber wurden von einem seltsamen Fluch heimgesucht: Obwohl auch sie von Jahr zu Jahr größer wurden, ohne je zu jener Schönheit zu erblühen, mit der sie das ungeteilte Wohlgefallen ihrer Umgebung hätten erregen können, versagten sie vor der Forderung, die jedem Menschen aufgegeben ist, das eigene Leben nämlich selbst zu gestalten und damit zur Verbesserung der Welt beizutragen. Selbst heute, 50 Jahre und mehr nach ihrer Geburt, sprengen sie nie den Umkreis ihrer Herkunft und machen damit sowohl den Traum wie den Albtraum aller Eltern wahr. Sie bleiben, was sie von Anbeginn waren, Papas Töchter – verdammt in alle Ewigkeit, dessen Lebenswerk zu ihrem eigenen wie zum Überdruss ihrer Mitwelt zu parodieren, fleischgewordene Zeugnisse der ebenso manischen wie talentlosen Produktivität ihres Erzeugers. Für die an Familiendebakeln stets interessierte Öffentlichkeit bleiben sie mit ihren ­literarischen Elaboraten bis an die Schwelle des Renteneintrittsalters »Walsertöchter« (1) und verkörpern somit ein weltweit wohl einmaliges Phänomen: Nachwuchsschriftstellerinnen auf Lebenszeit zu sein.

Bereits das berufliche Schicksal des Vaters weist darauf hin, dass wir es bei den Walsers mit keiner alltäglichen Familie zu tun haben. Die Unermüdlichkeit, ja Besinnungslosigkeit, mit der Walser Buch nach Buch entbindet, ohne je das Entzücken des Publikums erzwingen zu können, dabei ebenjenes Vergessen produzierend, gegen welches er mit fanatischem Eifer anschreibt – kein Mensch erinnert sich mehr an seinen Roman aus der jeweiligen Vorsaison –, könnte in geheimem Zusammenhang zu jenem ungezügelten Fortpflanzungswillen stehen, dem Tochter nach Tochter entspross. Dieselbe Ruhelosigkeit, die den Autor Walser beim Verfassen seiner Machwerke antreibt, scheint heimlich bei seinen Zeugungsakten am Werk gewesen zu sein. In beiden Fällen dieselbe Unbelehrbarkeit: statt sich der Aussichtslosigkeit nach jedem neuen Tiefschlag zu beugen, der trotzige Entschluss, es beim nächsten Mal besser zu machen und es endlich allen zu zeigen. So zeitigte Buch nach Buch und Tochter nach Tochter immer dasselbe Resultat einer monumentalen Vergeblichkeit. Warum aber ließ man Papa Walser jahrzehntelang gewähren, ohne ihm Einhalt zu gebieten? Warum bedeutete ihm nicht wenigstens der offensichtliche Widerwillen des Publikums, einen anderen, womöglich gar einen nützlichen Beruf zu ergreifen? Warum griff er nicht zu jenen kon­trazeptiven Maßnahmen, die das Bild und die Lebenswirklichkeit der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als kein Mutterkreuz mehr verliehen wurde, zu deren Gunsten und zum Leidwesen von Bevölkerungspolitikern so folgenreich verändert haben? Um das zu verstehen, ist ein Exkurs zum Verhältnis von Kapitalismus und Kultur, Markt und Betrieb, Gesellschaft und Familie vonnöten.

 

Markt und Betrieb

Früher oder später kommt unweigerlich der Tag, an dem jeder Arzt seine Patienten quält, jeder Lehrer seine Schüler verabscheut und jeder im Kulturbetrieb Bestallte die Kultur, zu deren Pflege und Verbreitung er berufen wurde, hasst. Warum solcher Hass entsteht und, unter den gegebenen Verhältnissen, entstehen muss, erklärt sich aus der paradoxen Stellung des Kulturbetriebs inmitten einer Gesellschaft, die unter dem Zwang des Profits und des Kosten-Nutzen-Kalküls keine Refugien vor der Verwertungslogik des Marktes vorsieht. Weil aber sowohl die Funktionäre des Bildungswesens wie die Apparatschiks der Kulturindustrie hartnäckig von sich behaupten, dem Marktdiktat enthoben zu sein, weil sie also vorgeben, in ihren Sphären gälten andere Gesetze als die der Profitmaximierung, stellt sich bei ihren Vertretern genau jene verdruckste Haltung ein, die immer dann zu beobachten ist, wenn einer aufgrund seiner beruflichen Position an Ideen Maß nimmt, die zu verraten er gerade bezahlt wird. Man kennt diesen Typus aus der Linken bis zum Überdruss: Das permanente Im-Munde-Führen immer derselben phrasenhaften Versatzstücke – »internationale Solidarität«, »Kampf gegen Herrschaft und Unterdrückung«, »emanzipatorische Politik« etc. – produziert in den Menschen, die sie von sich geben, eine Leere und Heuchelei, welche spätestens dann unabweisbar werden, wenn sie den Worten, die sie nur noch aus Gewohnheit wiederkäuen, keine Taten mehr folgen lassen.

Keinem der Vertreter der oben genannten Berufsstände kann seine tatsächliche Funktion als Agent eines von der Totalität des Marktes generös konzessionierten Betriebs entgehen. Jeder, der sich in ihm mit Produkten befasst, welche auf dem Markt zwar zugelassen sind, die aber seiner Verwertungslogik nicht genügen können, ist gezwungen, an der Korrumpierung der Intentionen mitzuwirken, die doch die raison d’être des Betriebs ausmachen. Auf die Dauer geht so etwas nicht gut. Man nimmt dabei zunächst Schaden an der Seele und lässt bald darauf andere dafür büßen. Darum verschreiben sich Ärzte der Produktion von Krankheit, dienen Lehrer der Abrichtung ihrer Schüler zu Arbeitskraftbehältern, die klaglos ihrer Selbstverwertung entgegenzugehen haben, und deshalb verfolgen die Lakaien der Kulturindustrie, also jene Spezies, die sich als Intendanten in Theatern, als Kuratoren in Museen, als Juroren von Preiskomitees, als Lektoren in Verlagen und als Redakteure von Kulturzeitschriften verdingen, jegliche Manifestation gedanklicher Unabhängigkeit und geistiger Ungebärdigkeit mit einer Bitternis, in der sich sowohl der Hass der Gesellschaft gegen alles ausspricht, was sich dagegen sträubt, lediglich verkauft und konsumiert zu werden, wie auch die Unleidlichkeit und Bösartigkeit derer Ausdruck verleiht, die ihren Lohn von einem Betrieb empfangen, den sie aufgrund seiner eigenen Bestimmung nur verachten können. Die gesellschaftliche Funktion des Kulturbetriebs ist die Vernichtung der Kultur. Kultur, soll der Begriff denn anders als pejorativ verstanden werden, wird einzig gestiftet durch die Gemeinsamkeit von Erkenntnis. Um diese zu hintertreiben, verordnet man der Kultur einen ­Betrieb, zu dessen Verwaltung ausnahmslos jene bestellt sind, die sich ihm aufgrund innerer Unfähigkeit und überwältigender Talentlosigkeit empfehlen. Es ist Verlass auf die täglich aufs Neue durchlebte narzisstische Kränkung dessen, der einmal anderes mit seinem Leben vorhatte, der es vielleicht einst wirklich besser wusste. Tagtäglich wider besseres Wissen agieren zu müssen, sich zum Handlanger eines Getriebes aufzuwerfen, in dem alles verraten, was dort stets postuliert wird, erzeugt eben jene Deformationen, die den Typus des modernen Kulturarbeiters charakterisieren und ihn derart ungenießbar machen, dass man seine Gesellschaft flieht, wo immer es nur möglich ist. Jeder, der mit Vertretern seines Typs einmal in Kontakt getreten ist, kennt die Züge von kaum verhohlenem Sadismus, jene Wichtigtuerei, die selbst subalterne Redakteure linker Postillen und Lektoren von Kleinverlagen mit traumwand­lerischer Sicherheit ausprägen und die daher rühren, dass ihre Position, für die ihnen nirgendwo Anerkennung gezollt und die nicht einmal ordentlich vergütet wird, ihnen immerhin die Befugnis erteilt, über Produkte zu befinden, die ihnen, je besser sie sind, um so schonungsloser die Kläglichkeit ihrer Existenz vor Augen führen.

Will man die Idee, die dem Begriff Kultur zugrunde liegt, in ihr Gegenteil verkehren, bedient man sich also der kulturindustriellen Reservearmee der Apparatschiks, Pöstchenjäger und Networker, die mit unfehlbarem Gespür für das Zweitrangige und Inferiore ihren Hass auf künstlerische Qualität und intellektuelle Kompromisslosigkeit ausleben. Aber warum will man überhaupt? Jedenfalls nicht, weil man von Li­teratur oder Kunst irgendetwas zu befürchten hätte, sondern weil die nachbürgerliche Gesellschaft im Gegensatz zur bürgerlichen, deren Ehre darin bestand, in schöner Regelmäßigkeit Werke hervorgebracht zu haben, die über sie hinauswiesen, sich kraft ihres eigenen Bewegungsgesetzes keinen unreglementierten Gedanken, keine nicht konfektionierte Form mehr gestattet. Die als Betrieb etatistisch organisierte Kultur kann sich nichts mehr anverwandeln, was ihr nicht ohnehin bis aufs Haar gliche. Was sie nicht verstehen kann, muss sie verschmähen, um es endlich zu vernichten. Wirkungsvoller als jedes Verbot hat die Verwaltung der Kultur durch den Betrieb ihren Bedeutungsverlust gewährleistet. Dabei ist der Kulturbetrieb keineswegs identisch mit dem freien Markt, dessen Gesetze er vielmehr lähmt und korrumpiert: Während in der Nische des Betriebs selbstreferentiell, oder besser inzestuös, immer nur die eigene Klientel bedient wird, visiert der Markt nämlich immerhin ein Publikum. Noch dem Urteil des dümmsten Publikums ist eher zu trauen als den Kulturagenten in Verlagen, Redaktionen oder Juries. Was auf dem Markt undenkbar ist, ist im Betrieb Usus: Keine Konditorinnung bewahrt ihr Mitglied vor dem verdienten Bankrott, denn das Urteil der Kundschaft über die Qualität der Teigwaren und Pralinen ist zuverlässig, unbestechlich und inappellabel. Kein Gastrokritiker wird dem Publikum verdorbene Ware schmackhaft machen können. Eben das jedoch geschieht im Kulturbetrieb. Seine Angestellten arbeiten daran, das Urteilsvermögen des Publikums durch Zerstörung seines Gedächtnisses zu zerrütten. Es wird nicht einmal mehr an bestimmte, noch lebende Autoren, deren Namen längst vergessen sind und deren beste Werke keiner mehr kennt, erinnert, damit nur niemand Wind davon bekommt, was Literatur sein könnte, ja was sie vor nicht allzu langer Zeit gewesen ist. (2) Dass gerade solche vergessenen Autoren keinesfalls am Markt gescheitert, sondern wegen persönlicher Unbotmäßigkeit vom Betrieb abgestraft worden sind, ist ein Beleg für die realen Kräfteverhältnisse, die hier­zulande auf dem Feld der Kultur zwischen Markt und Betrieb walten. Die einfache Beobachtung, dass in Ländern, in denen der Markt unbehelligt vom Betrieb bleibt, Literatur, Musik, Film, ja selbst das Fernsehen ungleich interessanter sind als in Deutschland, stützt diesen Befund. Kulturpolitik, die diesen Namen verdiente, müsste ihre eigene Abschaffung betreiben.

 

Nachbürgerliche Familienbande

Dem empörten Aufschrei, Kultur sei keine Ware, ist zu entgegnen, dass sie, lizenziert vom hiesigen Kulturbetrieb, nicht einmal das ist. Denn eine Ware muss beim Publikum Gefallen finden, wovon bei den Elaboraten deutscher Kulturproduktion kaum die Rede sein kann. Statt die Gunst des Publikums zu erobern, wird den Kulturschaffenden ihr Anteil an der staatlich bereitgestellten Beute in Form von Preisgeldern und Stipendien hinter dem Rücken des Publikums zugeteilt. Das anonyme Tribunal des Marktes, dessen Urteile ohne Ansehen der Person ergehen, wird im Betrieb ersetzt durch blanken Klientelismus. Dieser Triumph des Betriebs über den Markt gebiert Gewinner und Verlierer. Als seine exemplarischen Profiteure können nicht zufällig Martin Walser und sein talentloser Nachwuchs in Gestalt seiner drei schriftstellernden Töchter gelten. Dass ein solcher, auf der Basis von Klientelismus und Patronage statt von abstrakter Vergleichung organisierter Betrieb ebenjenen Zusammenhang zwischen Talent­losigkeit und Antisemitismus stiftet, der sich an Walsers literarischem Schaffen beispielhaft studieren lässt, ist historisch nur folgerichtig, denn die Gewinner der Entfesselung des libe­ralen Marktes im 19. Jahrhundert waren tatsächlich genau jene, die Max Horkheimer als »the competitors par excellence« (3) beschrieben hat, die Juden. Deren Emanzipation beruhte auf dem Tauschprinzip, durch das die Einzelnen zu konstituierenden Elementen des Allgemeinen wurden. Erst die Durchsetzung des kapitalistischen Marktes forcierte die Loslösung des Indi­viduums von Scholle und Sippe. Erst auf dem Markt standen sich die Menschen zumindest idealiter ohne Ansehen ihrer Herkunft als formal Gleiche gegenüber. Der Abstraktion des Gegenstandes zur Ware verdankt sich die abstrakte Vorstellung vom Menschen ebenso wie der Begriff des allgemeinen Rechts.

Der Antisemitismus hingegen zielte in Deutschland von Beginn an auf die Liquidation der Zirkulationssphäre, in der die Juden hatten reüssieren können, deren unter gesellschaft­lichem Zwang allererst produzierte Stärke die Stärke von Konkurrenten auf dem Markt gewesen ist. Diesem Markt gegenüber pocht der Antisemitismus umso bornierter auf den Primat der Tradierung und Vererbung von »Kultur« nach dem Modell der Familie. Talent aber lässt sich nicht vererben, da Talent sich nur im Widerstand gegen Vorgefundenes in Familie und Gesellschaft, in der Konkurrenz mit anderen, im Sich-Messen mit Ebenbürtigen entfalten kann. Dass Walser selbst davon eine Ahnung dämmert, belegt eine Passage aus seinen in diesem Frühjahr erschienenen Tagebüchern: »Wer Kinder hat, kann sich vielleicht nicht entwickeln. Er entwickelt sich lediglich zum Vater, dann zum Großvater. Und Schluss.« (4) Talentlosigkeit benötigt unbedingt den Schutzraum, den Familie und Betrieb bereitstellen, am besten in der Form des Familienbetriebs, um produktiv werden zu können. Nichts disponiert Walser und seine Sippe stärker zum Antisemitismus als ihre Talentlosigkeit, die ihnen allen, wenn es nach dem auf dem Markt versammelten Publikum ginge, den ebenso sicheren wie verdienten Untergang bereiten müsste. Konsequent hängt ihre Subsistenz ab von der Korruptheit eines Betriebs, dem die, wenn auch beschränkte, Gerechtigkeit fehlt, die der Markt seinen Produkten zuteil werden lässt. Dass es anderswo besser zugeht, wird durch die bemerkenswerte und kaum bekannte Tatsache belegt, dass die Werke der Walsers im Ausland, wo sie von keinem Kulturbetrieb protegiert werden, auf so gut wie keinen Widerhall stoßen, ja nicht einmal übersetzt zu werden pflegen.

In der Walsersippe erkennt sich ein Literaturbetrieb wieder, der ebenfalls wie ein Racket, ein Clan, eine Bande organisiert ist und dessen Idealtypus die Familienbande ist. Gerade darin ist die Sippe der Walsers exemplarisch für den deutschen Kulturbetrieb, dass sie das Bild der Familie nach ihrem realen Zerfall restituiert, wie es sich im Zeitalter der Patchwork-Familie kaum noch empirisch studieren lässt: als kulturpo­litische Zuchtstätte, als straff geführter Brutbetrieb am Bodensee, dessen Mitglieder nicht als Einzelne betrachtet werden, sondern als Zwangsmitglieder eines Kulturclans, der auf dem Prinzip des Blutes gegründet wurde und dessen Mitglieder bestimmt scheinen, in die Fußstapfen des Altvorderen als dessen literarische Wurmfortsätze zu treten.

Walser folgt der Logik des völkischen Anti­semitismus, wenn er nur zwei ethnisch homogene Kollektive gelten lässt: die Familie und das Volk. Die ethnische Homogenität des Volkes ist jedoch der genetisch homogenen Familie unterlegen: Was gilt schon der ethnisch motivierte Rassismus gegenüber dem Stolz des ­pater familias auf die von ihm gezeugte Nachkommenschaft? Handgreiflich wird dieser Zusammenhang an der Penetranz, mit der Walser seine Kontakte im Literaturbetrieb dazu nutzt, um seinen nicht einmal mittelmäßig begabten Töchtern regelmäßig Preise und Stipendien zuzuschanzen, wenn er, wie im Fall von Tochter Alissa, die Veröffentlichung sogar in seinem eigenen Hausverlag ermöglicht oder, wie bei Tochter Johanna, deren blanken Kitsch lang und breit in seiner eigenen Paulskirchenrede zitiert. (5) Nach dem Zusammenbruch der Volksgemeinschaft muss deren Urform, die Familie, auf postfaschistischer Grundlage um jeden Preis wiederhergestellt werden, will der talentlose Kulturschaffende sich nicht ohnmächtig der Kälte des anonymen Marktes ausgeliefert sehen, auf dem nur freigesetzte Einzelne das gute Ende für sich haben. In Walsers Werk nimmt diese Reaktionsweise nahezu pathologische Züge an. Stets konstruiert er die Nation als eine von allen rationalen Zügen gereinigte, organische Entität und – analog zur Familie – als authentische Abstammungsgemeinschaft. Permanent naturalisiert er in seinen Romanen und Essays das nationale »Wir«, unermüdlich sucht er die Bindung an nationale Gemeinsamkeit in einem Volkskörper, der jegliche Unterschiede zwischen seinen Mitgliedern nivelliert. Davon aus­geschlossen bleiben, wie nicht erst seit »Tod eines Kritikers« evident geworden ist, die Juden, die ihm die Drohung der aus allen kollektiven Bindungen entlassenen Einzelnen verkörpern, gegen die das als Großfamilie imaginierte nationale Kollektiv in Anschlag gebracht wird. In dieser Entgegensetzung besteht geradezu Walsers »ästhetisch-operatives Programm« (6), ebenso wie der Soundtrack der von ihm und seinen Töchtern verkörperten Familiensaga. Familie, die sich als Relikt in der nachbürgerlichen Welt längst überlebt hat, fungiert in ihrer ideo­logischen Gestalt als die vermittelnde Agentur zwischen den Einzelnen und der Nation, in die es sich mit Haut und Haaren einzufügen gilt.

 

Ich bin begabt

Dass die grundlegenden Dispositionen des autoritären Charakters, freiwillige Unterordnung des Einzelnen, bedingungsloser Gehorsam und exorbitanter Konformismus, tatsächlich zu den bei Walsers vorwaltenden Verhaltensmustern gehören, diese Einsicht haben seine Leser der offenherzigen Publikation von Papa Walsers Tagebüchern zu verdanken. Diese stellen ein in der bundesdeutschen Literaturgeschichte bislang einmaliges Kompendium aus Ressentiments und Zeugnissen barer Selbstverachtung dar, ein einziges Manifest der Engherzigkeit, Kleinkariertheit und Inferiorität. Anhand von Walsers deprimierenden Aufzeichnungen seines Familienlebens lassen sich der Konnex von Antisemitismus und Talentlosigkeit sowie dessen Tradierung innerhalb der Sippe qua papageienhafter Abrichtung detailliert nachvollziehen. Walser verhält sich zu seinen drei schreibenden Töchtern wie die Null vor dem Komma zu den Nullen hinter dem Komma.

Wenn Walser schildert, wie seine achtjährige Tochter Theresia skandierend »Ich bin begabt, ich bin begabt, wenn du mich was fragst, dann sag ich nur das, ich bin begabt« umherhüpft, weiß man, dass kein Kind, das auch nur im Entferntesten mit Originalität »begabt« ist, sich derart, die eigene Behauptung sofort dementierend, zum Affen machen würde. Dass dieselbe Theresia wenige Jahre später, als Walser wegen einiger Äußerungen zum Terrorismus in die Bredouille kam, diesen unter Familienkuratel stellen, ihm weitere öffent­liche Äußerungen erst durch das Plazet der gesamten Familie gestatten wollte, offenbart den Konformismus eines Kindes, das die so hoch gehaltene Familienloyalität jederzeit zugunsten des Vorrangs von Staat und nationaler Ehre zu opfern bereit ist und solcherart das Diktum Horkheimers bestätigt, dass »die moderne Familie die geeigneten Objekte totalitärer Inte­gration hervorbringt«. (7)

Walsers Schilderungen seines Familienlebens sind für jeden intelligenten Leser der beste Grund für eine zölibatäre Existenz. Trotzdem heißt es bei ihm etwa nach einem Gang durch das Frankfurter Bahnhofsviertel, dessen Verlockungen allseits bekannt sind: »Ohne Familie bin ich nichts.« (8) Wer ohne Familie ein Nichts ist, ist es freilich mit Familie erst recht. Konsequent finden sich in den Tagebüchern, als Kompensation der eigenen entleerten Individualität, veritable Lebensborn-Phantasien, in denen jede Verfeinerung der Sexualität zur Lust als Gefahr erscheint: »Nicht das Koitieren macht mich traurig, sondern der Betrug, das Sich-nicht-fortpflanzen-Dürfen, das Sich-herausreissen-Müssen aus der Saftheimat ins Trockene, Böse, Freie.« (9) Abgesehen davon, dass Walser sich mit Käthe derart häufig reproduziert hat, dass er zwischendurch nur wenig Zeit zum Traurig­sein gefunden haben dürfte, so dass es für ihn gar keinen vernünftigen Grund gibt, über ein Fortpflanzungsverbot zu lamentieren, gilt ihm die Enge stets als Heimat und das Freie stets als das Böse. Von schrankenloser und zweckfreier Lust geht für ihn eine Bedrohung aus, sie soll nicht sein, sondern lediglich als Mittel zur Fortpflanzung dienen. Walser selbst plaudert die Wahrheit über die Hölle des Ehebetts am Ufer des Bodensees unfreiwillig aus, wenn er schreibt: »Traum von einer Russin, die daran interessiert war, mit mir zu schlafen, aber Käthe verhinderte das auf die gemeinste Weise.« (10) Die Unersprießlichkeit des Familienlebens kann er auch vor sich selbst nicht verbergen und muss sich Luft verschaffen in einem Ressentiment, in dem das Begehrenswerte zum Verabscheuungswürdigen umgelogen wird. Nachdem er den Liebreiz schöner, fremder Frauen beschrieben hat, heißt es denn auch: »Plötzlich wusste er, wie er diese Schönheit fand. Hässlich. Er spürte es einigermaßen grell, dass es nichts Häss­licheres gab als diese vollkommene Schönheit.« (11) Folgerichtig schließt sich daran der Gedanke an seine Gattin Käthe an, deren Erscheinung wiederum als »schön« ausgegeben wird. Walser weiß insgeheim sehr wohl, dass er als Erzeuger von drei ebenso zickigen wie mediokren Schriftstellertöchtern auch als Vater gescheitert ist. Dieses Wissen artikuliert sich in den Tagebüchern immer dann, wenn er sich wider Willen in der Gesellschaft liebenswerter, schöner oder erfolgreicher Menschen wiederfindet, vor denen er zwangsläufig kapituliert: »Das Gefühl der grenzenlosen Niederlage (…). In diesen Hotels sind nur Leute, die einem das Leben verleiden können. Durch ihre Schönheit. Kraft. Stärke. Gelassenheit. Heiterkeit.« (12) Das Gefühl des Versagens in Familie und Beruf, ausgelöst durch die Demütigungen, die einer wie Walser auf Schritt und Tritt empfinden muss, wenn er das traute Heim verlässt, um sich unter geistvolle Menschen zu begeben, steigert sich sogleich zum offenen Verfolgungswahn: »Natürlich wird man nicht erschossen, wenn man einer Familie vier Kinder entspringen lässt, aber die Kinder müssen es büßen.«

 

Der unterlegene Konkurrent

Die Vergötzung der Familie erstreckt sich bei Walser jedoch nicht nur auf seine Nachkommenschaft, sondern auch auf die eigenen Ahnen, vor allem auf seine Mutter, die man als rabiate Nationalsozialistin aus seinen Büchern kennt und der er dennoch bis heute in Bewunderung verbunden ist: »Ich soll das Elend vergessen, das der Kapitalismus meinen Eltern bereitet hat.« (13) In einem bislang unbeachteten, dabei jedoch höchst bemerkenswerten Gedanken Horkheimers, der das Elend solcher Familienbande präzise bezeichnet, wird das antisemi­tische Unheil an die Intimität des Familienlebens zurückgebunden: »Es gibt in Deutschland eine Art Antisemitismus, die mit der Liebe zu den Eltern zusammenhängt.« (14) Bereits Horkheimers Studien über Autorität und Familie hatten Anfang der dreißiger Jahre zu dem Ergebnis geführt, dass antisemitisch gesinnte Versuchspersonen fast alle ihre Eltern idealisieren.

Gegen den längst nur zu gut belegten Vorwurf des Antisemitismus verweist Walser beständig auf seine intensive Beschäftigung mit jüdischen Autoren, oder mit Autoren, deren jüdische Anteile er mit der Besessenheit eines postfaschistischen Rassehygienikers zu erweisen sucht. Während einem vorurteilsfreien Leser zu Marcel Proust zunächst dessen Homosexualität oder sein Verhältnis zur Pariser Aristokratie in den Sinn kommen mögen und zu Rudolf Borchardt dessen deutschnationale Stellungnahmen, ­rubriziert Walser all diese, als litte er unter völkischen Zwangsvorstellungen, ganz umstandslos als Juden. Tatsächlich hat sich Walser stets ebenso emphatisch wie manisch mit solchen Autoren beschäftigt, an denen er seine deprimierende Inferiorität als Schriftsteller erfahren musste. Angefangen mit seiner indiskutablen Dissertation über Kafka bis hin zu den kläglichen Philip-Roth-Imitationen seines Spätwerks, hat er im Zuge seines gesamten Schaffens immer wieder ausdrücklich an jüdischen Vorbildern Maß genommen, um an ihnen hinterher das eigene Versagen umso schmerzhafter registrieren zu müssen. Damit erfüllt er aufs Haar das Profil des »unterlegenen Konkurrenten«, dem die Kritische Theorie im Panoptikum des Antisemitismus einen prominenten Platz einräumt.

Selbst im Kreis der Gruppe 47 war Walser stets der Zukurzgekommene, der Loser, den keiner so ganz für voll nahm. Nach einem Schriftstellertreffen stellt er beispielsweise verbittert fest: »Bis jetzt hatte ich immer Angst vor ihnen. Sie noch nie vor mir.« (15) Wie desaströs muss sich sein Scheitern für ihn da erst im Vergleich mit den Schwergewichten der Weltliteratur ausnehmen. Was die Nazis wussten, ahnt er dunkel in seinen Ängsten und Abwehrgefechten: Solange es Juden gibt, gibt es Aufklärung. Kein deutscher Autor pflegt seit Jahrzehnten die Sprache des Ressentiments so unbeirrt wie Walser: »Jeder darf jeden erschießen, wenn er den Verdacht hat, sich erheben zu wollen über andere. (…) Es darf keine Macher mehr geben.« (16) Solcher Hass auf die »Macher« inspirierte freilich auch die Nazis bei ihrer Bücherverbrennung 1933. Wenig später zogen sie daraus die Konsequenzen. Was dann nach Kriegsende an Autoren übrig blieb, rottete sich in der Gruppe 47 als Vernichtungsgewinnler des Kulturbetriebs zusammen. Prägnant erfasst wird diese gesellschaftliche Konstellation bereits in einer Diagnose Horkheimers, die schlagend vorwegnimmt, weshalb sich der postfaschistische deutsche Kulturbetrieb die Zerstörung der Kultur auf die Fahnen schreiben musste und seine Abgesandten die von Vernichtungs- und Züchtigungsphantasien durchzogenen Tagebücher Walsers auf einen Spitzenplatz ihrer Bestenliste hieven: »Their (the Jews’, CW) survival is inseparable from the survival of culture itself.« (17)

Nichts berechtigt dazu, Walsers Töchtern die Charakterlosigkeit und intellektuelle Beschränktheit ihres Vaters vorzuhalten. Für die Erbärmlichkeit ihrer Elaborate haben sie selbst einzustehen, ihre Herkunft darf ihnen gegenüber ebenso wenig als Vorwurf in Anschlag gebracht werden, wie sie ihnen zur Entschuldigung ihrer Talentlosigkeit dienen kann. Wer einmal eine Lesung mit Tochter Alissa besucht hat, hat eine Vorstellung davon, dass es im Kopf einer Autorin so leer zugehen kann wie im Bassin eines aus­gepumpten Swimmingpools, wer je eine Seite von Tochter Johanna gelesen hat, weiß, dass Hedwig Courths-Mahler Sätze von geradezu philosophischer Tiefe zustande bringt, und dass Tochter Theresia ihre Unfähigkeit, Dialoge zu schreiben, zu ihrem Markenzeichen als Dramatikerin gemacht hat, können die Zuschauer ihrer häufig aufgeführten Stücke jederzeit bezeugen. Dass sich alle drei aber als Autorinnen, die auf die 50 zugehen oder diese sogar längst überschritten haben, von der Phalanx aus Presse und TV bis heute immer noch bereitwillig als »Walsertöchter« apostrophieren lassen, dass sie unter diesem Label Homestories veröffent­lichen und mit dem vom Vater gelösten Familienticket landesweit Aufmerksamkeit erheischen, ist derart schmählich, dass es an der Zeit wäre, die Rolle der Töchter in der Auseinandersetzung mit dem Vater genauer zu bedenken. Auch von den Walsertöchtern wäre nicht weniger zu fordern als das, was Günther Anders einst in seiner Studie über Eichmann verlangt hat, nämlich dass die Angehörigen der jüngeren Generation sich von ihren Vätern distanzieren müssten, um »aus dem Teufelskreis der Herkunft herauszuspringen« und den »Makel, den (sie) unverdientermaßen mit sich herumtragen, loszuwerden«. (18) Eichmann war so antisemitisch, wie es die NS-Volksgemeinschaft erforderte, während Walser so antisemitisch ist, wie es die deutsche Zivilgesellschaft gerade noch zulässt. Wer vom Zwangszusammenhang der Sippe profitiert wie die Walsertöchter, darf sich nicht darüber entrüsten, ungerechterweise in Sippenhaftung genommen zu werden.

Solange am Zusammenhang von Talentlosigkeit und Antisemitismus hierzulande nicht ­gerührt wird, gilt: Die Literatur, deren Tod schon oft prophezeit wurde, ist mit Autoren vom Schlage der Walsers bereits in den Zustand der Verwesung übergegangen.

 

Anmerkungen:

(1) Der Spiegel 1/2010

(2) Genannt seien, stellvertretend für viele andere, »Schlatt« von Franz Böni und »Franz und ich« von Peter Rosei.

(3) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Briefwechsel 1945-1949, Frankfurt/M. 2005, S. 156

(4) Martin Walser: Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1979, Reinbek 2010, S. 22

(5) »Ich habe den Verdacht, dass alles viel schöner ist, als man darüber spricht. Alles ist viel schöner, als man bisher es sagen kann. Und sagen kann man bisher schon sehr viel, denn wir haben ja schon viel geschaffen, um auszudrücken, wie schön es ist. Wir machen neue Anläufe und versuchen immer neu, auszudrücken, wie schön alles ist. Aber schöner ist es trotzdem noch immer, als man es sagen kann.«

(6) Matthias N. Lorenz: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser, Stuttgart 2005, S. 394

(7) Max Horkheimer: Autorität und Familie in der Gegenwart. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/M. 1997, S. 384

(8) Martin Walser: Leben und Schreiben, a.a.O., S. 153

(9) Ebd. S. 134

(10) Ebd. S. 391

(11) Ebd. S. 278

(12) Ebd., S. 340

(13) Ebd., S. 241

(14) Max Horkheimer: Notizen. In: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M. 1991, S. 344

(15) Martin Walser: Leben und Schreiben, a.a.O., S. 172 (16) Ebd., S. 118

(17) Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Briefwechsel 1938-1944, Frankfurt/M. 2004, S. 319

(18) Günther Anders: Wir Eichmannsöhne, München 2002, S. 65. Dass dies nicht zu viel verlangt ist, hat der Architekt Albert Speer jr. gezeigt, als er sich von seinem Vater losgesagt hat. Von Carl Wiemer ist zuletzt bei der Edition Tiamat das Stück »Der Literaturverweser« erschienen, in dem Martin Walser und seine Familie die Hauptrollen spielen.