Zur Kulturgeschichte der Tätowierung

Personenbeschreibungen

Zur Kulturgeschichte und Aktualität der Tätowierung.

Tätowierungen gewinnen mehr und mehr an Beliebtheit und werden in der Öffentlichkeit mit immer größerer Selbstverständlichkeit akzeptiert. Diesen Eindruck gewinnt nicht nur, wer diesen Sommer allerhand Sternformationen erblickte, die sich tapetenartig über minderjährige Arme erstrecken. Das Zwischenergebnis einer von der Universität Leipzig durchgeführten Langzeitbeobachtung bestätigt, dass sich das Tätowieren vor allem bei den 15-25jährigen zu einem Massenphänomen entwickelt hat, mittlerweile sind mehr als 22 Prozent dieser Altersgruppe tätowiert.
Tattoos werden nicht mehr nur von einer Minderheit als Körperschmuck verwendet, sondern zunehmend wie dekorative Accessoires getragen, als handele es sich um Halsketten oder Make-Up. Eine dauerhafte Veränderung der Haut als einfaches Modephänomen zu behandeln, erscheint freilich paradox, ist der Inbegriff von Mode doch ihr Wandel, während die Faszina­tion der Tätowierung in ihrer Unveränderlichkeit besteht. Bisher existiert keine Entfernungsmethode, mit der die Entscheidung zum neuen Hautbild tatsächlich rückgängig zu machen wäre. Von der klassischen Dermabrasion, bei der die obere Hautschicht durch Hobeln, Schleifen oder Fräsen abgetragen wird, über die Sala­brasion, bei der zur Verätzung eine Salzlösung verwendet wird, den Einsatz chemischer Substanzen bis hin zu abenteuerlichen Expandertechniken hinterlassen alle Varianten wenn nicht Narben, so doch zumindest Hypopigmentationen. Selbst bei der gängigsten, relativ sauberen und unkomplizierten Laserpraxis bleiben nach dem Ausbleichen der Pigmente helle Umrisse der Tätowierung zurück.
Dessen ungeachtet ist die Körperzeichnung bis zu einem gewissen Grad tatsächlich zu einer Angelegenheit von Mode und Kosmetik geworden. Weil aber eine Mode, die nicht aus der Mode kommen kann, letztlich keine ist – obwohl die Motivwahl selbstverständlich auch modischen Strömungen unterworfen ist – , bieten immer mehr Studios neben der Anfertigung der Tätowierung auch gleich Laserbehandlungen zu ihrer Entfernung an. Dennoch wollen die Kids heute nicht allein Tattoos, weil von Celine Dion bis Lady Gaga alle eines haben, weil sie dauernd Serien über den Alltag in Tätowierstudios sehen oder weil sie Tätowierungen einfach nur für einen schicken Körperschmuck und die damit verbundene Stigmatisierung für überholt halten. Hinter jeder Tätowierung steckt immer auch ein Bedürfnis, das über den bloßen Trend hinausgeht.
Das Tragen dauerhafter, in die Haut eingeritzter Zeichen ist eine der ältesten Phänomene der Menschheit. Bereits »Ötzi« trug in der Kupfersteinzeit, also vor mehr als 5 000 Jahren, Hautzeichen (die erst vor kurzem auch als therapeutische Versuche in Form von Akupunktur nachgewiesen wurden). Die Tatsache, dass einer der ältesten Belege für das Vorkommen von Tätowierungen aus dem europäischen Raum stammt, widerlegt eine Vielzahl von Theorien, die den Ursprung der Tätowierung einem bestimmten geografischen Raum zuzuordnen versuchen. Demgegenüber wird neuerdings davon ausgegangen, dass wahrscheinlich jede Kulturgemeinschaft der Erde zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung die Sitte des Tätowierens kannte und ausübte. Das Punktieren der Haut hat seinen Ursprung in der Körperbemalung, die vermutlich noch vor der Felsbemalung eine der ersten künstlerischen Äußerungen des Menschen darstellt. Aus der Körperbemalung entstanden neben der Tätowierung weitere Techniken: Die Kosmetik etwa, die Farbe sowohl zur Verschönerung (etwa als Kleiderersatz) wie zur Abschreckung (beispielsweise als Mimikry bei der Jagd) oder als Drohung (bei der Kriegsbemalung) aufträgt und durchaus auch medizinisch-hygienische Absichten verfolgen kann. Außerdem die Maske, die anders als die Kosmetik Körper und Gesicht nicht nur konturiert, sondern tatsächlich verdeckt und vor allem religiöse und magische Funktionen erfüllt. Auch die Tätowierung diente der Verschönerung und erfüllte Aufgaben innerhalb des Ritus. Während Kosmetik und Maske jedoch stets Rollenspiele bleiben, die die Bemalten und Maskierten gerade nicht in ihrer Identität festlegen, ist die Tätowierung eher der Narbenzeichnung und der Brandmarkung verwandt. Brandmarkungen wurden in Stammesgesellschaften als Eigentums- und Zugehörigkeitszeichen eingesetzt, häufig waren etwa die Zeichen auf einem Körper mit denen auf Töpfen, Waffen und anderem Besitz identisch. Die Brandmarkung wurde schließlich zur Rechtspraxis. Die Schmucknarbe wie auch die Tätowierung hatten gesellschaftlich-politische Funktionen. Sie markierten Stammeszugehörigkeiten, verwandtschaftliche Beziehungen und den sozialen Rang ihres Trägers. Im Grunde kann die Tätowierung als sublime Form der Narbenzeichnung gelten.
Angesichts dieser historischen Hintergründe scheint es zunächst erstaunlich zu sein, dass die kosmetische Funktion der Tätowierung heute in den Vordergrund rückt, denn der Effekt der Identifizierung hat historisch eine weit längere Tradition als der Aspekt der Verschönerung. Der europäische Hautstich war vor allem an der rechtspraktischen Funktion der Brandmarkung orientiert. Tätowierungen waren fremdbestimmt und betrafen die rechtliche Person wie ein Personalausweis; selbst Kindern wurden noch vor hundert Jahren in Pariser Armenspitälern und unter Tiroler Bauern kleine Tätowierungen als Identifikationsmerkmal beigebracht. Hauptsächlich dienten Tätowierungen als Form der Ächtung von Kriminellen und Prostituierten. Noch der derzeitige Tattooboom schöpft motivisch nicht selten aus dem Repertoire der Zwangstätowierung. Diese so­genannte nota infamia firmierte im Mittelalter unter den leichten Körperstrafen für Huren, Falschspieler und Diebe und sah eine Kennzeichnung mit passendem Symbol vor; Falschspieler trugen einen Würfel, flüchtige Schiffsleute einen Bootshaken etc. Auf der anderen Seite war das Hautbild auch Berufszeichen und Handwerkerwappen. Kennt die zeitgenössische ­Tätowierung meist nur mehr die Werkzeugmotive von Auto- und Zweiradmechanikern so­wie aus dem Friseurhandwerk, waren noch bis ins 19. Jahrhundert eine Vielzahl solcher Berufszeichen üblich: Schiffsheizer trugen Manometer und Schippe, Maschinisten Regulator und Zahnrad, Taucher Halm und Harpune. Bei den Zimmersleuten waren Schrotsäge und Breitbeil die Bildregel, bei den Schreinern Hobel und Schichtsäge. Sezulot und Kelle gab es für Maurer, Ochsenkopf und Schlachtbeil für Metzger.
Auffällig an der europäischen Tätowierung insgesamt, ob als Zunft- oder Strafzeichen, ist die Vereinzelung und Verkapselung der Motive. Darin unterscheidet sie sich deutlich von der Tradition chinesischer, besonders japanischer Tätowierung, bei der die Schmuckfunktion von Beginn an im Vordergrund stand (farbige Tätowierungen sind japanischen Ursprungs). Die asiatische Überlieferung prägt insgesamt ein emotionales, prätentiöses und erotisches Verhältnis zum eigenen Hautbild, der Aberglaube an die Schutzkraft der Tätowierung ebenso wie der an ihre sexuelle Wirkkraft. In Europa hat sich dagegen nie eine Tradition der Ganzkörpertätowierung entwickelt. Erscheinen die sogenannten body suits als organisch dem Körper angepasst, wirken die europäischen Tattoos eher wie angesteckte Abzeichen oder aufgeklebte Etiketten. Ornamentale Muster beschränken sich vor allem in Deutschland traditionell auf Sterne (bei älteren Seemannstätowierungen sehr oft als füllende Verbindung zwischen Bildmotiven), alle weiteren Tätowierungen sind zum großen Teil auch heute noch naturalistischer oder emblematischer Art.
Die moderne Geschichte der europäischen Tätowierung beginnt erst mit ihrer Renaissance im 19. Jahrhundert. Durch den Kontakt mit der Südsee kommt es zur Wieder- und Neubelebung des europäischen Hautstichs. Den entscheidenden Impuls gibt 1774 die Zurschaustellung des tätowierten Tahitianers Omai, der durch James Cooks zweite Südseefahrt nach Europa gelangte und wie schon Aoturo und später Timotaitai eine Sensation für die gehobene Gesellschaft darstellte. Tahiti galt als Garten Eden, als Sinnbild eines unverfälschten Urzustands, der nicht wenigen Spätaufklärern als Folie für ihre Kritik am absolutistischen Europa diente. Im Gegensatz zu den natives, die man bereits zuvor im Rahmen der Kolonialisierung nach Europa verschleppt hatte, um sie vom staunenden Publikum begaffen zu lassen, wurden die tätowierten Polynesier frei nach Rousseau als Prototypen des »edlen Wilden« aufgefasst und in antiken Posen porträtiert. Ihre Hautbilder repräsentierten dabei ebenso die Differenz des Anderen und Fremden, wie sie die Faszination daran nährten. Als Körperverzierung wurde die Tätowierung nicht nur erstmals sichtbar und ausgestellt, sondern auch benennbar.
Was im deutschen Wortschatz zuvor »Male stechen und pfetzen« (Luther) oder »Stipfelei« geheißen hatte, wurde nun zum »Tatauieren« oder »Tätowieren«. Das Wort »Tatau« hat sich lautmalerisch aus dem Geräusch entwickelt, das beim Schlagen auf den in Polynesien traditionell benutzten Tätowierkamm entsteht. Der Begriff hatte sich zunächst im englischen Sprachraum vermutlich darum relativ schnell durchgesetzt, weil es ein gleichlautendes Wort schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts in der englischen Militärsprache gab. In England waren es zunächst überwiegend Soldaten, die sich tätowieren ließen und das neue Wort im europäischen Sprachgebrauch einbürgerten. Als Projektionsfläche europäischer Sehnsüchte und Utopien verschafften die Südsee und ihre Bewohner dem Brauch des Tätowierens neuen Aufschwung. Die Südseeornamentik selbst übte dabei keinen entscheidenden Einfluss auf die europäische Tätowierung aus, da die komplizierte Zeichenhaftigkeit der polynesichen Tätowierung mit dem bereits existierenden realis­tischen europäischen Stil unvereinbar war. Dennoch gibt es eine starke Interferenz von Südseetechnik und europäischer Bildvorstellung. Viele der ursprünglich polynesischen und dann in Europa mit entsprechenden Veränderungen verselbständigten Motive haben sich bis heute erhalten. Existierten vor dem polynesischen Einfluss hauptsächlich religiöse Tätowierungen, Zugehörigkeits-, Erinnerungs- und Identifika­tionszeichen sowie vereinzelt politische Zeichen, die mit der französichen Revolution aufgekommen waren und meist als Geheimzeichen getragen wurden (Jean Baptiste Bernadotte, später als Karl XIV. König von Schweden und Norwegen bekannt, hielt das auf seinen Oberarm gestochene »liberté, egalité, fraternité« zeitlebens versteckt), stifteten die Südseemotive nun den Beginn einer neuen Geschichte des Hautbildes.
Im Gegensatz zur starken Rückbesinnung auf authentische Tätowierungen älterer Kulturen, wie sie heute innerhalb einer subkulturellen Bewegung erfolgt, die sich mit vollem Recht modern primitives nennt, wurden damals nicht etwa die Tätowierungen Omais zu kopieren versucht, sondern jene Bilder übernommen, die europäische Seeleute aus der Südsee mitbrachten. An der Tätowierung der zivilisierten Welt haften seither der Duft des Abenteuers und der Hauch des Verwegenen. Deserteure, Runaways, Beachcombers und andere »verwilderte« Europäer, die sich auf Südseeinseln punktieren liessen, nährten den europäischen Mythos von der Südsee als von Zivilisationszwängen unberührtem Paradies: Sich tätowieren zu lassen, hieß, eine Verbindung zu einer idealisierten Gegenwelt herzustellen. Diese Gegenwelt berührte allerdings eine Realität, die bis dahin die bisherige Geschichte des europäischen Hautstichs charakterisiert hatte. Wenn die Tätowierung auch plötzlich zum Ausdruck unerfüllter Wünsche und uneingelöster Versprechen avancierte, so blieb sie doch gleichzeitig Wesensmal einer radikalen Differenz.
Mit der Einführung des Wortes in die europäischen Sprachen war auch ein Diskurs eröffnet, der die Tätowierung zum Beobachtungsgegenstand machte. Von Mitte des 19. Jahrhunderts an bis etwa zum Ersten Weltkrieg erlebte die Tätowierung in Europa eine Hochzeit. Während der zwei Phasen einer regelrechten »Tätowierungswut« 1870-1880 und 1905-1910 war die Nachfrage so groß, dass sich erste Berufstätowierer etablierten. Aus dieser Zeit existieren keine ernstzunehmenden Statistiken, es wird aber davon ausgegangen, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zu 20  Prozent der Bevölkerung tätowiert waren – vornehmlich Angehörige der unteren Schichten, Seeleute, Hafenarbeiter, Soldaten, Fabrikarbeiter, Nichtsesshafte, Erntearbeiter, Marktfahrer, Hausierer und Jahrmarktsleute.
Die Körperzeichnung sprach mittlerweile weniger das Sensationsbedürfnis der Massen an als den Wissensdurst der Gelehrten. Bis heute sind Tätowierungen mit Vorstellungen von Marginalität und Devianz konnotiert. Die erste große Studie wurde 1825 im Zusammenhang mit einem Verbrechen angefertigt, bei dem die Frage, ob Tätowierungen spurlos verschwinden können, die entscheidende Rolle für die Identifikation eines Verbrechers spielte. Durch den aufsehenerregenden Strafprozess um den »Mordfall Schall« geriet die Tätowierung in den Blick der Kriminalanthropologen und Mediziner. Untersucht wurde neben den gesundheitlichen Folgen von Tätowierungen und ihrer Bedeutung in der Gerichtsmedizin vor allem der Tätowierte »an sich«, und zwar immer mit dem Ergebnis, dass er über einen niederen Intelligenzgrad verfüge, an Persönlichkeitsstörungen leide sowie einen Hang zu ungewöhnlichen Sexualpraktiken an den Tag lege. Angesichts der Tatsache, dass die Statistiken ausschließlich anhand von Probanden in Zuchthäusern oder psychiatrischen Kliniken erstellt wurden, überraschen ihre Auswertungen nicht. Dessen ungeachtet hielt sich seitdem das Vorurteil, dass jeder Mann, der ein Herz mit Initialen der Verlobten auf der Brust trägt, tendenziell ein Fall für die Forensik sei.
In seinem kriminalanthropologischen Klassiker »L’ Uomo delinquente« brachte der Arzt und Psychiater Cesare Lombroso 1876 die Tätowierung des fremden Wilden ausführlich und explizit mit dem geborenen Verbrecher in Verbindung, der als nicht kulturell domestizierbar für immer auf einer niederen Entwicklungsstufe verharre. Für Lombroso ist die Tätowierung das »atavistische« Merkmal eines »geborenen Kriminellen«, ebenso ein Überbleibsel aus primitiver Zeit wie der Delinquent selbst: Der Mörder ist immer der Tätowierte! In einem berühmten Aufsatz des Architekten Adolf Loos, »Ornament und Verbrechen« (1908), ist der Tätowierte sogar immer ein Mörder: »Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter. Es gibt Gefängnisse, in denen achtzig Prozent der Häftlinge Tätowierungen aufweisen. Die Tätowierten, die nicht in Haft sind, sind latente Verbrecher oder degenerierte Aristokraten. Wenn ein Tätowierter in Freiheit stirbt, so ist er eben einige Jahre, bevor er einen Mord verübt hat, gestorben«, heißt es dort.
Der Funktionalist Loos verachtete wie alles Ornamentale und Dekorative den Luxus der nicht zweckgebundenen Körperverzierung. Auch wenn niemand durch ein tätowiertes Mädchenporträt notwendig zum Frauenwürger wird, trifft etwas an der Beobachtung, es müsse sich entweder um einen »latenten Verbrecher« oder »degenerierten Aristokraten« handeln, ungewollt einen richtigen Punkt. Denn tatsächlich finden sich unter den Tätowierten viele Mitglieder der europäischen Fürstenhäuser ebenso wie Diebe, Fälscher und Wegelagerer – Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht hingegen nicht. Was aber die englischen excentrics, die sich etwa das Verzeichnis ihres Weinkellers tätowieren ließen, mit farbverzierten Straßenräubern und Vagabunden verbindet, ist die Abwesenheit von bzw. Abneigung gegenüber geregelter Arbeit.
Im lesenswertesten Buch zum Thema hat Stephan Oettermann die Fabrikarbeit als »das geheime Thema des Diskurses« um die Tätowierung ausgemacht. Als Reaktion auf die Paupe­risierung und Verstädterung der Landbevölkerung, die Auflösung der Zünfte und die Proleta­risierung der Handwerker zu Fabrikarbeitern sei die »sprachlose Praxis« der Tätowierung ein Protest gegen den Primat der Nützlichkeit geworden. Es mag naiv sein, am Glauben an eine kreatürliche Gefühlswelt ungeregelter Primitivität festzuhalten, als könnten sich rohe, wild lebende Menschen dem Prozess der Disziplinierung entziehen. Dennoch steht, was damals als nicht regelkonform galt (etwa der unstete Alltag des Abenteurers oder Verbrechers), noch immer für die Vorstellung eines erfüllten Lebens ein. Oettermanns Studie ist die bisher einzige, der es gelingt, die Kulturtechnik des Tätowierens in den Zusammenhang zu stellen, in den sie seit ihrer modernen Renaissance gehört: die Totalität gesellschaftlicher Rationalisierung. Oettermanns These ist dabei keineswegs falsch, sondern schlicht veraltet. Längst ist die Tätowierung nicht nur Zeichen der Desintegrierten und Bekenntnis zum Außenseiterdasein. Gerade ihr vermeintlich Unversöhnliches und Widerständiges wird unvermeidlich Teil der Entwicklung, gegen deren Zwangslogik sie hatte protestieren wollen.
Niemand, der sich heute tätowieren lässt, muss mehr eine Grenze überschreiten. Er oder sie muss keine Kaschemmen und Hinterzimmerspelunken aufsuchen, sondern kann sich an passabel eingerichtete, nach Desinfektionslauge riechende Studios wenden, von denen in manchen Stadtvierteln Berlins bereits mehr existieren, als es Bäckereien gibt. Der ehemals getarnte Beruf steht inzwischen im Branchenverzeichnis jeder mittelgroßen Kleinstadt. Überall ist das Gewerbe präsent und die Dienstleistung zugänglich. Der noch bis Ende der neunziger Jahre signifikante Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und Tätowierung ist seit dem letzten Jahr empirisch aufgehoben. Das Marktsegment »dauerhafte Körpermodifikation« ist eine boomende Branche mit Beschäftigungszuwachs und allerlei sekundären Gewinnfaktoren durch den Absatz von Merchandiseprodukten und grotesken Paraphernalia. Wie stets war die Professionalisierung und Ausdifferenzierung eine Frage der Technik. Die in den zwanziger Jahren geläufigen Tätowier- und Stempelpressen – Nadelbündel, die in Bildform geordnet an einem Griff montiert waren – gehören der Vergangenheit an. Die manuellen Tätowiertechniken, vor allem die Königsdisziplin der japanischen Irezumi, werden von Liebhabern nachgefragt, die sich die Exotik traditionellen Kunsthandwerks leisten können.
Im Westen ist heute die elektrische Tätowiermaschine gebräuchlich, deren Prinzip auf der Erfindung von Samuel O’Reilly beruht, unter der Bezeichnung »Tattaugraph« erstmals in New York erprobt und 1891 patentiert wurde. In Deutschland setzte sie sich (mit der üblichen Verspätung) erst nach 1922 durch. Ihr Prinzip ist einfach, sie funktioniert im Grunde wie eine Nähmaschine; bei Stromzufuhr wird mittels zweier Spulen aus Kupferdraht ein elektromagnetisches Feld erzeugt. Dieser Elektromagnet zieht eine Metallfeder an, die rückwärtig am Maschinenrahmen befestigt ist. Auf der anderen Seite der Feder hängt die Nadelstange, die sogenannte »Flatt«, mit einer variablen Anzahl feiner, angelöteter Nadeln. Die Feder, die nun die Nadelstange nach unten zieht, deaktiviert den Stromkreis, sobald sie unten angelangt ist, so dass die Feder mitsamt der Nadelstange in die ursprüngliche Position zurückspringt. Das schnelle Auf und Ab der Nadeln entsteht durch die ständige Wiederholung dieses Prozesses. Die Geschwindigkeit ist regulierbar und abhängig vom gewünschten Effekt, je nachdem, ob etwa Linien oder Schattierungen gewünscht sind. Sie liegt zwischen 800 bis 5 000 Bewegungen pro Minute. Die Schnelligkeit ermöglicht das Zeichnen geradliniger, scharfer Konturen. Die variable Nadelanzahl an der Stange ermöglicht saubere Farbfüllungen, Verläufe und Schattierungen.
Ohne diese Technik wäre die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Stile bis hin zu der Möglichkeit, im Grunde jedes gewünschte Motiv in die Haut zu übersetzen, nicht denkbar. Entscheidend dafür sind ebenso die Farben. Für die einfachsten Aufgaben benutzte der Laie früher meist in Urin aufgelösten Lampenruß oder Tinte. Fortgeschrittene nutzten als Grundstoffe für die Farben Kohle, Kreide, Safran und Kermes (gewonnen aus den getrockneten Weibchen der Kermesschildlaus), außerdem Ochsengalle, Ruß der Lichtnuss und der Kaurifichte. Blau gewann man aus Schießpulver, Tier- und Pflanzenasche, Gelb stellte man mit Curcuma her. Bei den heutigen Tätowierfarben handelt es sich um synthetische Färbemittel, die ein Gemisch aus organischen Farbstoffen und anorganischen Füllmitteln sind und bereits ohne Anrühren eine erhebliche Palette abdecken. Nach einigen Kontroversen um ihre Gesundheitsverträglichkeit ist ihre Zusammensetzung seit dem 1. September 2005 in Deutschland als kosmetische Mittel gesetzlich festgeschrieben.
Selbst das mythische Moment der während des Tätowierens unvermeidlichen Schmerzen kann heute auf Kundenwunsch durch Betäubungssalben gemildert werden. Dennoch unterscheidet die Tattoosession sich weiterhin vom Zahnarzt- oder Friseurbesuch, sie bleibt trotz aller Kommerzialisierung eine Grenzerfahrung, freilich eine, die man käuflich erwerben kann: ein ausgesuchter, zugelassener und fachgerecht vollzogener Eingriff in die Integrität des eigenen Körpers. Seit die Frühchristen das Stigma zum Element der Gruppenstabilisierung umwerteten, steht die Tätowierung in dieser Tradition doppelter Grenzziehung. Von den Jerusalempilgern und armenischen oder koptischen Christen bis zu den Zeichencodes der Subkulturen war sie gleichermaßen Abgrenzungsmerkmal und Gruppenzeichen: Man wollte zu denen gehören, die nicht dazugehörten.
Neben der Umkehrung der Stigmatisierung zum Integrationszeichen entwickelt sich die Tätowierung mehr und mehr vom Gruppen- zum individuellen Erkennungszeichen. Mit dem Voguing als einer Ende der achtziger Jahre aufgekommenen Form der Selbstdarstellung wird die eigene Haut selbstverständlich zu Markte getragen. Die neue Rolle der Tätowierung verdankt sich vor allem einer Aufwertung der Populärkultur und des Trash. Ehemals als deviant geltende Formen der Sexualität werden als fashionable rehabilitiert. Das illustriert neben dem Mainstreaming der Tätowierung vor allem die Geschichte des ursprünglich aus dem Sexunderground der Westküste und der Punkbewegung stammenden Piercings. Ein bisschen underground zu sein, gehört heute zum Mainstream. In Maßen erscheint gerade das Abwegige als zeitgemäß.
Natürlich ist die Stigmatisierung der Tätowierungen nicht derart verschwunden, dass heute jeder Arbeitgeber bereitwillig gut sichtbar Hals- und Handtätowierte einstellen würde. Dennoch verlaufen die Grenzziehungen anders. Die Frage ist, wer es sich leisten kann, wie tätowiert zu sein. Der kreativ und selbständig beschäftigte Freizeitprofi kann seinen Geschmack mittels raffinierter grafischer Elemente an ausgesucht intelligenten Stellen beweisen oder sich mit einem Nerdtattoo interessant machen. Wem dagegen, aus einer vergangenen Metal-Biografie, zerlaufene Totenköpfe über die Arme kullern, dem sollte man zu Langärmeligem raten. Längst wohnt Tätowierungen eine Stildimension inne, stets werden sie auch nach ihrer Eleganz beurteilt. Sie sind kosmetische Qualifizierungen, die anhand von Qualität und Motivwahl vorgenommen werden. Mittlerweile ist der Tätowierung der Sprung vom minder geschätzten Handwerk zur Kunstform gelungen, adaptiert der Ausdruck flash für urheberrechtlich geschützte Motiventwürfe bereits das Vokabular des Indus­triedesigns, orientiert sich der Sprachgebrauch im Tätowierungsdiskurs an der Kunstwelt, Tä­towierer sind Künstler. Marktwert, Exklusivität und Bekanntheit des Tätowierers gewinnen an Bedeutung. Nicht mehr das bloße Vorhandensein, sondern die Formgebung der Tätowierung wird zum neuen Unterscheidungsmerkmal.
Doch selbst bei den avanciertesten Verkunstungen des Körpers schwingt noch immer die Koketterie mit der Verrohung mit: Die Businesspunks sind meist genauso arm wie die creative class des selbsternannten Prekariats sexy. Waren im Rahmen des zu Beginn der siebziger Jahre aufkommenden wissenschaftlichen Interesses an Sub- und Jugendkulturen Tätowierungen meist als ein Teil innerhalb eines größeren Forschungsfeldes in den akademischen Fokus ge­raten, entdecken seit dem Boom in den späten Achtzigern neben Soziologen und Psychologen auch Kunst- und Kulturwissenschaftler die Tätowierung als eigenes Forschungsgebiet. Dennoch ist das Interesse verhältnismäßig gering, insofern die Tätowierung nicht nur als Paradebeispiel für das mittlerweile sprichwörtlich gewordene Theorem von der »Einschreibung in den Körper« gelten könnte, sondern sich ebenso als ideales Feld für postmoderne Identitätsdebatten anböte.
Nach dem vom Poststrukturalismus ausgerufenen Ende der Geschichte sowie des Erzählens bleibt das Subjekt mit der Frage nach der Authentizität seiner Selbstwahrnehmung zurück. Die Tätowierung scheint in diesem Zusammenhang wie ein ikonografisiertes Narrativ; als eine Art autobiografische Einschreibung, als eine Form, Erfahrungen festzuhalten, sowie als Versuch, ein fragmentiertes Selbst zusammenzuhalten. Diese postmoderne Lesart der Tätowierung als »creative narcissism« korrespondiert mit einer Beobachtung, die Adolf Spamer bereits 1929 machte: Die Neigung zum Hautbild gehe mit einem »Gefühl mangelhafter Biographie« einher, das sie mit dem Festhalten realer lebensgeschichtlicher Momente ebenso auszugleichen suche wie mit deren Überhöhung. Neben dem »speaking the self« bestehen in einer Welt vermeintlich unbegrenzter Identitäten ungeahnte Möglichkeiten des »self-fashioning«. Als Beispiel für diese als »reclaiming the body« gemeinte Selbstdefinition wäre die Frauentätowierung zu nennen. Waren Frauen früher entweder gar nicht oder aber als Leinwände tätowierender Männer gleich gewerbsmäßig volltätowiert, scheinen junge Frauen heute das Prinzessinnendasein mit Haut, die so weiß ist wie Schnee, satt zu haben. In den letzten zehn Jahren haben sie die Asymmetrie, die bezüglich des Tätowiertseins zwischen den Geschlechtern bestand, zumindest statistisch ausgeglichen.
Eine gelingende Selbsterschaffung durch »body-work« erscheint aber fragwürdig, denn die Entscheidung für den lebenslänglichen Selbstausdruck spricht dafür, dass es weniger um Neuerschaffung als um Selbsterhalt geht. Der kreative Narzissmus sucht eine Form, in der das Ich immer sein soll und wird. Der Wunsch, die eigenen Erinnerungsbilder als Kunst- und Wunderkammer auf der Haut zu tragen, illustriert das so tragische wie legitime Bedürfnis nach Selbstvergewisserung. Dabei wird Originalität zum entscheidenden Aspekt der Tätowierung; der vor etwa zwei Jahren in einem deutschen Tätowiermagazin abgebildete »Fingermoustache«, eine ursprünglich humorvolle und charmante Tätowierung, ist ein Beispiel dafür, wie innerhalb weniger Monate Massen von Nachahmern die Freude am Anblick dieses Motivs verderben können. Bei einem Fingermoustache handelt es sich um eine auf dem Zeigefinger angebrachte Tätowierung, die einen stilisierten Schnurrbart zeigt. Hält man sich nun den Zeigefinger auf eine bestimmte Weise zwischen Nase und Oberlippe, entsteht der Eindruck eines künstlichen Oberlippenbarts. Immer wieder wird in szeneinternen Diskussionen dazu aufgerufen, keine individuell angefertigten Entwürfe nachzuahmen, denn je mehr Leute ein Motiv trügen, desto weniger Bedeutung habe es. Und gerade damit beschädigten Kopien auch Authentizität und Einmaligkeit des Originals.
Der Spielraum, den die Einzelperson in der Gestaltung ihres Körpers auslotet, ist der zwischen Zugehörigkeit und Abgrenzung, Konformität und Individualismus. Als Schnittstelle von Individuum und Gesellschaft folgen Tätowierungen einer subjektiv und biografisch vermittelten Bildwahl, die sich notwendig aus kollektiver Ikonografie speist. Wer ein Tattoo sieht, wird es in den meisten Fällen nach Technik und Motivik recht mühelos einem Jahrzehnt zuordnen können. Selten illustriert es allein den Erlebnishorizont des Trägers, fast notwendig ist es auch eine Spiegelung seiner Zeit. Als überindividuelle, ans Individuum gebundene Kodifikationen gesellschaftlicher Praxis wirkt die Überlagerung von Identität und Identifizierung in den Tätowierungen fort – so archaisch ist die Postmoderne. Auch wenn jede tätowierte Person beteuern wird, ihr Motiv nur für sich allein zu tragen, trägt sie doch das, was das Innerste sein soll, sofort nach außen. Sie erlaubt die Möglichkeit der Identifizierung durch andere ebenso, wie sie eine Kommunikation jenseits spontaner Interaktion eröffnet. Das Tätowieren ist die Beschreibung einer Person im wörtlichsten Sinn.

Quellen:
Beeler, Karin: Tattoos, desire and violence. Jefferson 2006
Caplan, Jane (Hrsg.): Written on the Body. London 2000
Oettermann, Stephan: Zeichen auf der Haut. Frankfurt/Main 1979
Rubin, Arnold: »Tattoo Renaissance«. In: Arnold Rubin (Hrsg.): Marks of Civilisation. Los Angeles 1988
Spamer, Adolf: Die Tätowierung in den deutschen Hafenstädten. Hrsg. v. Markus Eberwein und Werner Petermann. München 1993
Vandekerckhove, Lieven: Tätowierung. Frankfurt/Main 2006
Verbreitung von Tätowierungen, Piercing und Körperhaarentfernung in Deutschland: /