Über Polyamorie und Neoliberalismus

Die Liebe und die Logik des Marktes

Die auch unter Linken vieldiskutierte »Polyamorie« sieht vor, dass man mit Wissen und Einverständnis aller Beteiligten mehrere Liebesbeziehungen führen darf. Ist das damit die passende Beziehungsform für den Neoliberalismus? Na, und wenn schon!

»Was interessiert mich der Vietnam-Krieg, wenn ich Orgasmusprobleme habe?« fragte einst, durchaus berechtigt, Dieter Kunzelmann. Eine naheliegende Gegenfrage wäre, ob nicht gerade Orgasmus- und ähnliche Probleme viele, insbesondere adoleszente Politaktivisten antreiben. Üblich ist in der Linken allerdings eher die ungleich dümmere Frage: Große Teile der Welt werden von Krieg und Elend beherrscht – wie kannst du dich da für deine banalen Orgasmusprobleme interessieren? Nun mag die Vorstellung ja schockierend sein, dass schon während der Dauer eines nur 15minütigen Geschlechtsakts statistisch gesehen über 1 000 Menschen an Hunger oder den Folgen von Mangelernährung sterben. Wer aber mit dem Hinweis auf das größere Elend anderer individuelles Glücksstreben und subjektives Leid, und sei es das Leiden an »Wohlstandsproblemen«, denunziert, verrät damit eben den Wert, auf den er sich zu berufen vorgibt.

Entsprechend fragwürdig ist die unter Bewegungslinken verbreitete Tendenz, bei Diskussionen über Sexualität und intime Beziehungsformen abzuwinken mit der Aufforderung, sich doch lieber den Kopf über »ernsthafte« Probleme zu zerbrechen – also solche der Ökonomie und Politik. Man sollte meinen, dass das eine das andere nicht ausschließe. Tatsächlich kommt in dieser Fixierung auf die großen, die Welt bewegenden Fragen aber auch eine immense Bequemlichkeit zum Ausdruck. Denn die Ökonomie beeinflussen Linke allenfalls durch den Konsum von »fair gehandeltem« Kaffee und Sojamilch, Politik und Gesellschaft durch Demonstrationen und andere Protestformen, die vereinzelt kleine Erfolge zeitigen, aber kaum die kapitalistische Weltordnung ins Wanken bringen.

Ein »Privatleben« haben selbst die meisten Linken. Hier hätten sie die Gelegenheit, ihren unerbittlichen Scharfsinn an nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch belangvollen Fragen zu üben. Doch leider erweisen sich Linke, in dieser wie so vieler Hinsicht von der sie umgebenden Restmenschheit nicht verschieden, in den meisten Fällen als unfähig, Kritik auch dort vernünftig zu üben, wo sie unmittelbar die eigene Lebenspraxis beträfe. Wenn Fragen des Umgangs mit Sexualität aufkommen, dann hauptsächlich zu dem Zweck, sich in ein endloses Ringen um oberflächliche Fragen der politischen Korrektheit zu stürzen. Das Ziel ist es, szeneinterne Kodizes für ein vermeintlich feministisches und gewaltfreies Privatleben durchzusetzen und eventuell noch anklagend mit dem Finger auf alle anderen zu zeigen. Die etwas Intelligenteren oder auch nur weniger autoritär Gesinnten, die sich dieser konformistischen Regulierung durch die linke Ersatzfamilie verweigern, beharren zu Recht darauf, einen Schutzraum des Privaten zu wahren, in dem Individualität und Intimität sich frei von Rechtfertigungsdruck entfalten können.

Gemeinsam ist beiden Gruppen die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft, sich mit den eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen. Während die einen nicht begreifen, dass die Orientierung an äußerlichen Regeln Selbstreflexion nicht ersetzen kann, tendieren die anderen dazu, Gefühle der kritischen Diskussion gleich ganz zu entziehen. Was als Abwehr autoritärer Regulierungsansprüche berechtigt sein mag, schlägt schnell in eine Abwehr von Selbstreflexion um, denn anders als das Wort vielleicht vermuten lässt, kann Selbstreflexion auf den Austausch mit anderen kaum verzichten. Wenn Liebe und Sexualität zu sakrosankten Themen erklärt werden, läuft das praktisch darauf hinaus, den romantischen Mythos der Authentizität des Herzens zu reinstallieren. Dabei versteht es sich von selbst, dass ein angemessenes Empfinden und Verhalten auch in Liebesdingen nicht einfach vom Himmel fällt. In diesem Bereich liegt schließlich nicht weniger im Argen als in anderen Teilen unserer Kultur.

Unter dem Begriff der Polyamorie ist nun erstmals seit längerem ein Trend aufgekommen, der den konventionellen Umgang mit Sexualität und Liebe in Frage stellt. Es gibt an der allerdings überaus heterogenen Polyamorie-Bewegung genug zu kritisieren, aber grundsätzlich müsste, so sollte man meinen, eine sich freiheitlich und progressiv verstehende Linke es begrüßen, wenn Alternativen zum Einheitsmodell der bürgerlichen Monogamie eröffnet werden. Doch natürlich sind die meisten Linken eher konservativ als progressiv, eher Spießer als Libertins. Und wenn ein linker Spießer entdecken muss, dass andere nicht nur heimlich, sondern offen und selbstbewusst eine Lebensform wählen, die seinen Horizont sprengt, ist die Reaktion dieselbe wie bei allen Konservativen: Er kompensiert seine Verunsicherung durch das Ressentiment gegen die Nonkonformen.

Seinen theoretischen Ausdruck findet dieses Ressentiment unter anderem in der Verurteilung der Polyamorie als originärer Beziehungsform des Neoliberalismus. Zum einen ist die Diagnose selbst fragwürdig. Sehen wir einmal ab davon, dass der Begriff des Neoliberalismus zur Kritik der Verhältnisse kaum taugt, trifft sie zwar, wohlwollend interpretiert, durchaus einige wichtige Punkte: Natürlich macht ein relativ offenes Beziehungsmodell wie Polyamorie es möglich, vielfältigere Beziehungen zu pflegen, und vereinfacht es daher, das Privatleben mit dem Imperativ der Flexibilität und unsteten, mehrfach gebrochenen Karrierewegen in Einklang zu bringen. Und in gewisser Weise passt ein polyamores Beziehungsmodell auch besser zu verbreiteten Formen des konsumistischen und des technokratischen Denkens als die altmodische Monogamie mit ihrer unpraktischen Verherrlichung von sinnlosen Sexualtabus und »ewiger Liebe«.

Aber Polyamorie ist jedenfalls bislang ein viel zu marginales Phänomen, um als Charakteristikum des neoliberalen Zeitalters gelten zu können. Es ist auch eher die Monogamie, die einem von Besitzdenken geprägten Verständnis von Liebe und einer der Logik des Marktes folgenden Kultur der Partnersuche Vorschub leistet. Man erinnere sich außerdem daran, dass an anderer Stelle mit einiger Plausibilität argumentiert wird, der Neoliberalismus sei die Grundlage für ein konservatives rollback in Sachen Familienleben: Durch den Abbau sozialer Sicherungssysteme geraten Menschen wieder zunehmend in Abhängigkeit vom Rückhalt in der Familie, während zugleich die verschärfte Konkurrenz in allen Lebensbereichen die Sehnsucht nach dem trauten Heim jenseits von Leistungsdruck und Unsicherheit wiederbelebt. Wie passt das zusammen? Ist Polyamorie nur eine Lebensform für die Sieger des Neoliberalismus? Oder für die privilegierte Jugend, die den Härten des Arbeitsmarkts noch nicht ausgesetzt war? Es reicht jedenfalls nicht, einfach »Flexibilität« und »Konsumdenken« zu rufen, um zu erklären, woher das erstaunlich große sowohl praktische als auch das mediale Interesse an Polyamorie rührt.

Ob die Verknüpfung von Polyamorie und Neo­liberalismus nun richtig, falsch oder doch nur zu undifferenziert ist – erstaunlich ist, dass sie fast ausschließlich in polemischem Tonfall vorgebracht wird. Von der negativen Dialektik ist, so scheint es, bei den meisten Linken leider nur die Negativität geblieben. Sollte Monogamie tatsächlich nicht mehr zum Leben im Neoliberalismus passen, warum dann als Linker an ihr festhalten? Man kann in der Monogamie schließlich manches sehen, aber sicher keine Vorwegnahme des Kommunismus im Privatleben.

Die eigentliche Frage müsste lauten, welche Maßstäbe der Kritik Linke an Beziehungsmodelle sinnvollerweise anzulegen haben und wie verschiedene Modelle anhand dieser Maßstäbe zu bewerten sind. Polyamorie mag noch so sehr ein Nebenprodukt des Neoliberalismus sein, wenn sie menschliche Freiheit und menschliches Glück, im Vergleich zur bisherigen Praxis der seriellen Monogamie, eher befördert als behindert, dann verdanken wir dem Neoliberalismus in diesem Punkt eben einen begrüßenswerten Fortschritt.