Stéphane Sirot im Gespräch über die Aussichten der Streiks

»Sie blicken auf das Leben nach dem Arbeitsleben«

Steuert Frankreich zum ersten Mal seit dem Jahrtausendwechsel auf einen Generalstreik zu? Es sieht ganz danach aus. Ein Gespräch mit dem französischen Historiker Stéphane Sirot, der zur Geschichte des Streiks in Frankreich und zu sozialen Bewegungen forscht.

Seit Wochen protestieren Millionen Menschen. Es gibt Streiks, Krawalle, nun wird das Benzin knapp. Stehen wir vor der entscheidenden Phase des Rentenkampfs?
Ich würde sagen, dass bereits die vergangene Woche eine entscheidende Phase darstellte. Da haben wir gesehen, welches Potential es für unbefristete Streiks gibt. Davor wusste man noch nicht wirklich, ob gewisse Branchen bereit für einen langen harten Streik sind. In den französischen Medien spricht man nur von dem, was sichtbar ist, also von den Zügen, die nicht fahren, und vom Benzin, das an den Tankstellen knapp wird. Von dem, was weniger sichtbar ist, wird auch weniger gesprochen, also von der Vielzahl der Arbeitsniederlegungen in der Privatwirtschaft. Gerade die sind jedoch bemerkenswert, denn man muss schon lange zurückgehen in der Geschichte, um im Rahmen einer großen sozialen Bewegung eine derart starke Streikbetei­ligung in der Privatwirtschaft zu finden. Das erscheint mir wichtig, einerseits für die Dauer der Bewegung und andererseits für ihre Popularität.
Immer mehr Streiks gehen also heute über einzelne Aktionstage hinaus?
Genau. In immer mehr Branchen zeigen die Beschäftigten seit voriger Woche, dass sie bereit sind, für längere Zeit zu streiken. Dass sie auch bereit sind, ihre Kämpfe zu verschärfen. Und zwar insbesondere in den Privatunternehmen, wo es immer wieder zu kurzen, aber nicht minder störenden Arbeitsniederlegungen kommt. Auf diese Weise beteiligen sich diese Beschäftigten effektiv an der Bewegung. Dies zeigt, dass es in Frankreich heutzutage eine sehr weit verbreitete Unzufriedenheit gibt, wie wir sie wohl seit fast 40 Jahren nicht mehr hatten. Denn wenn man sich die vergangenen großen sozialen Bewegungen ansieht, dann hatten diese praktisch alle Ursachen, die die Beamten oder den Öffentlichen Dienst betrafen. Anders als 1995 betrifft die Rentenreform diesmal alle Beschäftigtengruppen. Hinzu kommt, dass sich die Regierung heute noch viel unnachgiebiger zeigt.
Haben die Gewerkschaften begriffen, dass Aktionstage nicht ausreichen, um die Regierung zum Einlenken zu bewegen?
Man muss unterscheiden zwischen der Basis und den Vorständen der Gewerkschaften. Die Vorstände der zwei größten Gewerkschaften, CGT und CFDT, hatten sich zu Beginn für Aktionstage entschieden und hofften, das würde genügen, um die Regierung zu Verhandlungen zu bewegen. Aber das war nicht der Fall. Dies hat nun dazu geführt, dass die Gewerkschaften und die Beschäftigten zu unbefristeten Streiks übergehen.
Bis in die achtziger, neunziger Jahre führten starke Aktionstage zu einer Reaktion der politischen Macht, zu Zugeständnissen und Verhandlungen. Insbesondere seit 2003 ist das nicht mehr der Fall. Ich glaube, die Beschäftigten heute sind sich darüber im Klaren, dass sie zu einer härteren Gangart gezwungen sind, wenn sie wirklich etwas erreichen wollen. Und zwar zum Missfallen der Gewerkschaftsfunktionäre. Der CGT-Vorsitzende Bernard Thibault etwa muss sich heute auf Druck der Organisationsbasis hin offener zeigen gegenüber unbefristeten Streiks. Vor zwei Wochen war er noch viel zurückhaltender. Nun wird deutlich, dass er dem Willen seiner Basis folgen muss. In der CGT gibt es ja eine Debatte über den Charakter der Gewerkschaft. Da gibt es einerseits den Vorstand, der Kontakte zur CFDT pflegt und recht gemäßigt ist; andererseits haben wir einen Teil der Basis, der offensiver auftritt. Bei der CFDT liegt die Sache anders: Sie scheint bereit zu sein, die Mobilisierung zu beenden. Ich denke aber, auch der CFDT-Vorstand verfolgt die Entwicklungen an der Basis sehr genau. Denn dass sich die CFDT 2003 für die Fillon-Reform ausgesprochen hat, kam sie sehr teuer zu stehen: Sie verlor zehntausende Mitglieder.
Spielt die Regierung mit dem Feuer?
Natürlich zeigt sich anfangs jede Regierung unnachgiebig und entschlossen. Da heißt es, es werde weder Verhandlungen noch Konzessionen geben. So hoffen sie, die Proteste auszusitzen. Zurzeit sehen wir, dass die Bewegung anhält und nicht rückläufig ist. Trotzdem behält die Regierung ihre Haltung bei und provoziert damit eine Blockadesituation. Dann gibt es noch diese sehr spezielle politische Situation, in der sich Frankreich befindet: Der Protest gegen die Reform ist auch ein Ausdruck für etwas, das weit über die Rentenproblematik hinausgeht. Es gibt heutzu­tage eine sehr starke Ablehnung der Politik, wie sie die Regierung seit 2007 entwickelt hat und die zunehmend als Politik nur für einige privilegierte Staatsbürger wahrgenommen wird. Diese Situa­tion, in der Nicolas Sarkozy als »der Präsident der Reichen« erscheint, trägt einerseits zur Ablehnung der politischen Macht bei und andererseits zur Popularität der Bewegung. Die Rente ist stellvertretend zum Streitthema geworden. Ich glaube, es geht der Bewegung von heute eher um den französischen Gesellschaftsvertrag insgesamt.
Und deswegen gehen auch die Schüler auf die Straße?
Meiner Meinung nach demonstrieren die Jugendlichen vielleicht auch für die Rente, aber ganz gewiss nicht nur dafür. Sie sind unzufrieden und greifen ein gesellschaftliches Unbehagen auf. Sie demonstrieren eine Ablehnung der politischen Macht. Es sind die Jugendlichen, die die derzeitige Ausrichtung der Politik am schärfsten zurückweisen. Ich denke, sie eignen sich die Rentenfrage an, um eine Unzufriedenheit auszudrücken, die viel allgemeiner und tiefgreifender ist.
Ist denn die Rentenfrage in Frankreich besonders wichtig? Immerhin gab sie 1995 den ­Anlass zum dritten landesweiten Generalstreik im 20. Jahrhundert.
Nein, eigentlich nicht. Erst seit 1995 ist sie ein wichtiges Thema geworden. Davor hat es nur eine einzige größere Bewegung gegeben, in der es um die Renten ging, das war 1953. Da protestierten Beamte und der Öffentliche Dienst, weil sie schon damals länger arbeiten sollten. Nach 1995 hat sich das dann beschleunigt: 2003, 2007 und nun 2010. Denn mit der Wirtschaftskrise sind die Renten zu einer ökonomischen Stellschraube ­geworden. Ein Bereich, in dem man Einsparungen für möglich hält, wenn es konjunkturelle Schwierigkeiten gibt.
Andererseits ist heute die Aussicht auf die Rente für die Beschäftigten gewissermaßen die letzte Hoffnung. Denn die Arbeitswelt hat sich ja gewaltig verändert, nicht nur in Frankreich. Die Beschäftigten richten ihren Blick zunehmend auf das Leben nach der Arbeit. Dieser Gedanke ist für viele der einzige Trost, mit dem sich die sich tendenziell verschlechternden Arbeitsbedingungen hinnehmen oder ertragen lassen. Und wenn nun auch dieses Leben nach dem Arbeitsleben in Frage gestellt wird, schafft das notwendigerweise Unzufriedenheit. Klar, die Lebenserwartung steigt, wie es so schön heißt. Was aber gar nicht oder weniger stark steigt, das ist die Lebenserwartung bei guter Gesundheit. Und das haben viele Menschen wohl verstanden: Wenn sie mit wahrscheinlich 67 Jahren in Rente gehen sollen, dann nimmt man ihnen ihren letzten Hoffnungsschimmer. Und das ist anscheinend besonders unerträglich, weil man heutzutage kaum mehr eine Arbeit findet, die auch Befriedigung verschafft.
Die Position der Regierung ist umso komfortabler. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist schließlich ein europaweites Phänomen.
Das mag richtig sein. Aber dieses Argument wird entkräftet dadurch, dass die Reform in Frankreich sehr kurzfristig realisiert werden soll, was in der Mehrzahl der EU-Staaten nicht der Fall ist. Hier haben wir also eine gewisse Brutalität. Und die trifft vor allem jene, die kurz, also sechs, sieben Jahre vor der Rente stehen. Ich denke, diese kurze Frist hat auch dazu beigetragen, dass die Reform so unpopulär ist. Die zweite Besonderheit bei der französischen Reform ist, dass es sowohl um das Eintrittsalter als auch um die Beitragsjahre geht. Diese Verquickung führt dazu, dass das Argument, es handele sich um ein gerechtes, nachhaltiges Reformwerk, kein Gehör findet. Zudem hat die Regierung auch dadurch Mißfallen erregt, dass sie die Mäßigung der französischen Gewerkschaften nicht beachtet hat. Frankreich hat zwar das Image, dass die Gewerkschaften hier unnachgiebig sind und oft streiken, ich halte das aber zumindest teilweise für falsch: Die Gewerkschaften wollen heute eher eine Neuorientierung vollziehen und würden Verhandlungen den Blockaden vorziehen. Die Regierung hätte ­einen Teil der Gewerkschaften auf ihre Seite ziehen, die Opposition aufspalten und eine Verhärtung der Bewegung verhindern können. Diese Gelegenheit hat sie nicht genutzt. Weil sie unbedingt durchsetzungsfähig erscheinen wollte, hat sie nun alle gegen sich aufgebracht.
Vielleicht suchte Sarkozy die Konfrontation, weil er mal wieder einen Sieg braucht. Vielleicht ist es aber auch nur eine Fehleinschätzung der Lage. Das wäre naheliegend, denn ich glaube, nachdem sich die Regierung 2007 gegen die streikenden Eisenbahner durchgesetzt hatte, wähnte sie sich den Gewerkschaften überlegen.
Wenn die Regierung versuchen würde, die ­Bewegung zu spalten, wie ginge es dann weiter?
Meiner Meinung nach wird es immer schwieriger, zu einem Kompromiss zu gelangen. Denn die Entwicklung ist weit fortgeschritten. So weit, dass es kaum vorstellbar ist, dass der Protest ohne die Niederlage der einen oder anderen Seite endet: Entweder zwingt die Bewegung die Regierung zum Einlenken, oder der Regierung gelingt es, den Streik zu brechen. Der Verhandlungstisch erscheint mir außer Reichweite.