Streit um Stammzellenforschung in den USA

Patente sind gut, Patienten sind besser

Die US-amerikanische Biotech-Firma Geron hat weltweit zum ersten Mal einen querschnittsgelähmten Patienten mit embryonalen Stammzellen behandelt. Das beruhigt die ungeduldigen Investoren, doch der Erfolg des Experiments ist fraglich.

Lahme können wieder laufen und Blinde wieder sehen – derlei wurde lange Zeit nur von Wunderheilern wie Jesus vollbracht. Doch die US-amerikanische Firma Geron behauptet, dass solche Heilungen in Zukunft kein Wunder mehr sein werden. In einem spektakulären Versuch hat die Firma zum ersten Mal einen querschnittsgelähmten Patienten mit abgewandelten embryonalen Stammzellen behandelt.
Über den Patienten ist nur bekannt, dass er oder sie erst seit kurzer Zeit querschnittsgelähmt ist. In der vergangenen Woche wurden ihm im Shepherd Center in Atlanta die abgewandelten Zellen direkt ins Rückenmark gespritzt. Dort sollen sie sich im Idealfall zu Nervenzellen wandeln und so helfen, die Verbindung zwischen Hirn und Beinen wiederherzustellen. Der Patient hätte dann vielleicht wieder ein Gefühl in den Beinen, im Idealfall wird er in Zukunft wieder laufen können.
Die Hoffnung der Forscher beruht auf den besonderen Eigenschaften der embryonalen Stammzellen. Sie sind noch pluripotent, d.h. sie können sich zu allen menschlichen Zellen entwickeln. Spritzt man diese Zellen ins Gehirn, bilden sie Hirnzellen, spritzt man sie in die Haut, bilden sie Hautzellen – das jedenhalls hoffen die Wissenschaftler.
Beim Experiment in den USA arbeiten die Forscher mit abgewandelten Stammzellen. Diese Zellen sollen im Labor so vorbereitet worden sein, dass sie sich nur noch zu Nervenzellen weiterentwickeln können. Das Verfahren mit dem Versuchsnamen GRNOPC1 soll das enorme Krebs­risiko vermindern, das mit der Verwendung reiner embryonaler Stammzellen bisher verbunden ist. Im Tierversuch entwickelten sich nach der Injizierung immer wieder bösartige Tumore. »Das Ri­siko ist beim aktuellen Versuch gering, weil die Zellen weitgehend ausdifferenziert sind«, sagte Otmar Wiestler vom Deutschen Krebsforschungszentrum.

Ob sich die nun injizierten Zellen jedoch wirklich wie gewünscht entwickeln, ist fraglich. »Die Forschung steckt noch absolut in den Kinderschuhen. Es handelt sich um Grundlagenforschung. Ich bin sehr skeptisch im Hinblick auf den Versuch in den USA«, sagte Ingrid Schneider, Expertin für Technologiefolgenabschätzung bei Biogum, einem Forschungsprojekt der Universität Hamburg, der Jungle World. »Das primäre Ziel dieser Phase-1-Studie ist es, die Sicherheit und Verträglichkeit von GRNOPC1 bei Patienten mit Verletzungen des Rückenmarks zu beurteilen«, gibt Geron in einer Presseerklärung an. Vorsichtig äußerte sich Anna Krassowska von der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit der Firma gegenüber der Jungle World: »Ob das Verfahren generell zur Anwendung kommt, können wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sagen.«
Also müssen sich die Öffentlichkeit und Patient Nr. 1 einige Monate gedulden, bis erste Resultate vorliegen. Wenn Geron dann einen Erfolg meldet, wird allerdings unklar bleiben, ob es sich um einen Behandlungserfolg handelt. Gerade im frühen Stadium einer Querschnittslähmung treten oftmals spontane Verbesserungen ein. Die Firma wird diese Möglichkeit wahrscheinlich geflissentlich ausblenden. »Es ist aber immer die Frage, von wem die Informationen zum Ausgang eines Experiments stammen. Geron ist börsennotiert und braucht unbedingt wieder einen Forschungserfolg«, gibt Erika Feyerabend von der Zeitschrift Bioskop zu bedenken.
Das 1992 von privaten Investoren gegründete Unternehmen ist in der Tat dringend auf einen Erfolg angewiesen. Bereits seit zehn Jahren kündigt Geron einen Heilversuch am Menschen an, doch statt Erfolgsmeldungen gibt es jährlich etwa 30 Millionen Dollar Verlust und schlechte Börsenwerte. »Das Unternehmen steht unter Zeitdruck. Viele Patente z.B. für die Ausdifferenzierung von Stammzellen laufen aus, doch mit Patenten allein verdient man kein Geld. Die Verfahren müssen wirtschaftlich umgesetzt werden«, urteilt Ingrid Schneider von Biogum.
Daher bauscht die PR-Abteilung des Unternehmens den Versuch kräftig auf: »Ein neues Kapitel in der medizinischen Therapie – eines, das jenseits von Pillen eine neue Ebene der Heilung erreicht.« Doch schon der Versuchsaufbau ist umstritten. »Keine seriöse wissenschaftliche Studie hat nur einen Teilnehmer«, kritisiert Erika Feyerabend.
In der Vergangenheit hatte die US-Arzneimittelbehörde FDA der Firma Geron diverse Male die Versuchsgenehmigung entzogen. Immer wieder waren bei Tierversuchen Tumore aufgetreten, sodass die Firma ihre Investoren Mal um Mal vertrösten musste. Erst im Juli genehmigte die Behörde schließlich die Behandlung des Patienten Nr. 1.

Die US-amerikanischen Regeln für die Biotech-Branche erhöhen den Druck. Denn die öffentliche Förderung für diese Art von Forschung hat die Regierung George W. Bushs gestrichen. Deshalb ist der Markt auf private Geldgeber angewiesen. Zwar will Präsident Barack Obama die Stammzellenforschung wieder staatlich fördern, doch es gibt einschränkende Gerichtsurteile, und eine endgültige juristische Entscheidung steht noch aus. Für die auf Heilung wartenden Patienten sind die Regeln alles andere als erfreulich. »Es geht bei dem Versuch in Atlanta nicht um einen Heilungsversuch, sondern erst mal um Patente und Aktienkurse«, sagte Alexander Schwerin vom Gen-ethischen Netzwerk der Jungle World.
Problematisch ist aber nicht nur der Verwertungszwang, die Versuche mit den embryonalen Stammzellen werfen auch diverse ethische Fragen auf. Ein erbitterter Streit tobt um die Frage, ob man für die Forschung Embryonen töten darf. Sollte der Versuch in Atlanta aber erfolgreich sein, wird die Nachfrage nach Eizellen immens steigen. Denn ohne sie lassen sich die begehrten Stammzellen noch nicht gewinnen. In der Regel stammen sie von überzähligen Embryonen, die bei künstlichen Befruchtungen anfallen.
In diesem Geschäft haben sich bereits einige unheilvolle Allianzen gebildet. So erhält die kalifornische Biotech-Firma International Stem Cell Corporation (ISCO) nach Recherchen von Susanne Schultz, einer Redakteurin der Zeitschrift GID, ihre für die Forschung benötigten Eizellen von Reproduktionskliniken, mit denen die Firma kooperiert. Mit der Eizell-Agentur Stem Cell Options arbeitet die Firma sehr eng zusammen. Die Frauen, die sich einer künstlichen Befruchtung unterziehen, werden zum egg-sharing ermuntert, d.h. sie erhalten eine vergünstigte In-vitro-Fertilisation und »spenden« dafür einige der überzähligen Eizellen. Die Firma ISCO nutzt diese für ihre Forschung.

Vor allem ärmere Frauen könnten gedrängt werden, Eizellen zu verkaufen. »Ein Szenario, in dem Frauen mit Hartz IV zu bezahlten Spenderinnen werden, ist dann nicht ausgeschlossen«, sagt Ingrid Schneider. Denkbar wäre aber auch, Spenderinnen in ärmeren Staaten zu suchen. Die Firma ISCO bezog ihre Eizellen vor dem Deal mit Stem Cell Options z.B. von Spenderinnen aus Russland.
Eine Alternative wäre die Verwendung von adulten oder iP-Stammzellen. Während die adulten Stammzellen im Körper von Erwachsenen vorkommen (z.B. im Knochenmark oder der Haut) und einfach entnommen werden können, handelt es sich bei den iP-Zellen um umprogrammierte Hautzellen, die künstlich verjüngt wurden. Ob solche Ersatzstammzellen in Zukunft die embryonalen Stammzellen jedoch gänzlich ersetzen werden, ist fraglich. Auch bei der Verwendung dieser Zellen zeigte sich in der Vergangenheit ein erhöhtes Krebsrisiko.
Während in den USA nach dem Beginn des aufsehenerregenden Versuchs vorerst wieder Ruhe herrscht, wird in Deutschland umso heftiger diskutiert. Hier ist es nach wie vor die Präimplan­tationsdiagnostik (PID), die die Gemüter erhitzt. Seit der Bundesgerichtshof (BGH) im Juli einen Berliner Reproduktionsmediziner freigesprochen hat (Jungle World 33/10), schwelt der Konflikt. Er habe nicht gegen das Embryonenschutzgesetz verstoßen, entschied das BGH, da es nicht verboten sei, die künstlich erzeugten Embryonen vor einer Einpflanzung auf mögliche Gendefekte zu untersuchen.
Durch den offenen Streit ist deutlich geworden, dass das deutsche Embryonenschutzgesetz nicht ausreicht, um alle Sachverhalte zu klären. Während die einen nun von einer neuen Form von »Selektion« sprechen, ist es für andere nur konsequent, die PID zuzulassen, da ja auch im Mutterleib während der Schwangerschaft nach Gendefekten gesucht wird. Werden diese gefunden, ist das ein Abtreibungsgrund und ermöglicht unter Umständen eine Spätabtreibung.
Vergangene Woche sprach sich, wie nicht anders zu erwarten, die FDP für eine begrenzte Zulassung der PID aus. Kanzlerin Angela Merkel überraschte die Öffentlichkeit mit ihrer offenen Forderung nach einem Verbot. Bislang galt Merkel, wie Bundesforschungsministerin Annette Schavan, als eher aufgeschlossen gegenüber der PID. Ende Oktober verhandelt der Gesundheitsausschuss der CDU/CSU über diese Frage. Doch trotz Merkels Ablehnung, die als Zugeständnis an die christlichen Konservativen in der Partei gewertet wird, scheint eine gemeinsame Gesetzesvorlage derzeit nahezu ausgeschlossen. Zu unterschiedlich sind die Ansichten auch innerhalb der einzelnen Parteien.
Wie eine Abstimmung im Bundestag ausgehen würde, ist offen. Sicher ist nur, dass bei einer Zulassung der PID die nächsten Fragen geklärt werden müssen. Erlässt man einen Katalog der Krankheiten oder Gendefekte, bei denen das Töten der Embryonen erlaubt ist? Oder regelt man die Angelegenheit analog zum Abtreibungsrecht? Dann könnten die Eltern entscheiden, ob sie mit einem schwerkranken Kind leben wollen oder nicht. Die Entscheidung des Bundestags kann ihnen eigentlich egal sein. Sollte ein Verbot erlassen werden, fahren die Eltern einfach zur PID ins Ausland.