Die Proteste gegen den G20-Gipfel in Seoul

Bitte nicht lächeln!

Beim G20-Gipfel inszenierte sich Südkorea für die Weltöffentlichkeit als Land der Harmonie. Doch nicht alle Bürger zeigten sich lächelnd vor den Kameras aus aller Welt. Bereits vor dem Gipfel protestierten Gewerkschaften, Studenten und oppositionelle Gruppen gegen die internationale Wirtschaftsordnung, aber auch gegen die nationalistische Kampagne der Regierung.

Schon von weitem wirkt die erste Demonstration gegen den G20-Gipfel am 7. November beeindruckend. Eine Unmenge von Fahnen ist aus der Entfernung gut zu sehen, der Wind trägt die rhythmisch vorgetragenen Sprechchöre zu einem herüber. Um zur Seoul Plaza im Zentrum der Stadt zu kommen, müssen massive Polizeikräfte passiert werden. Viele der Polizisten wirken weder glücklich noch motiviert, hier zu stehen. Daran ändert auch die martialische Ausrüstung nichts.
Aber in der Masse kann man den Eindruck gewinnen, dass man sich hier auf ein Bürgerkriegsszenario vorbereitet hat. Die Passanten nehmen das Ganze eher gelassen, auch wenn die Gesamtzahl von 50 000 eingesetzten Polizisten ein neuer Rekord sein dürfte.
Sobald man die Plaza erreicht hat, wird man von einer Vielzahl von Arbeiter-Interessengruppen, Ständen mit Literatur (Marx und Mao sind hier gut vertreten) und Essensverkäufern umringt. Nachdem man dann noch einen Schrein für die »Märtyrer der Bewegung« mit Fotos der getöteten Oppositionellen der vergangenen Jahrzehnte passiert hat, erreicht man endlich die große Bühne. Von dort aus wird die gesamte Protestveranstaltung choreografiert. Neben Reden, die von Führungsmitgliedern der einzelnen Gewerkschaften gehalten werden, werden Theaterstücke aufgeführt, die die mehr als 30 000 Demonstranten zum Kampf gegen den Kapitalismus motivieren sollen. Diese Performances erinnern stark an die Lehrstücke aus der Zeit der chinesischen Kulturrevolution, doch scheinen sie noch immer gut anzukommen.
Von der Bühne aus kann man den steten Zustrom von Aktivisten gut beobachten. Jede Fabrikbelegschaft und jede Gewerkschaftsgruppe trägt jeweils eigene Banner, farbige Stirnbänder und uniformartige Kleidung. Nur die Studenten und einige andere fallen aufgrund ihrer normalen Straßenkleidung aus dem Rahmen. Die Arbeiter sind in festen Blöcken gegliedert und stehen in Reih und Glied, recken regelmäßig die Fäuste und rufen gemeinsam »Stop FTA!« oder »Nieder mit G20!« Die Atmosphäre changiert zwischen orthodox kommunistischer Parteiveranstaltung und ausgelassenem Happening eines Kulturfestes.

Nach drei Stunden, am frühen Nachmittag, kommt Bewegung in die Reihen. Der Platz ist lägst überfüllt, doch die umliegenden Straßen sind weiterhin für den Verkehr freigegeben. Nach einigen Kommandos bewegen sich einzelne Arbeitergruppen geschlossen auf die Hauptverkehrsader von Seoul zu und blockieren sie. Sofort wird der Platz von den neu ankommenden Gruppen belegt. Die Polizei belässt es bei Drohgebärden, der Umleitung des Verkehrs und der Verstärkung der Polizeikräfte.
Am späten Abend – die Veranstaltung läuft schon seit über sieben Stunden – formieren sich auf der einen Seite Studenten der Gruppe »All together«, auf der anderen Seite militante Arbeiter der linken Gewerkschaft Korean Confederation of Trade Unions (KCTU). An zwei Stellen wird es hektisch, und die Arbeiter machen einen Durchbruchversuch, um auf den mittlerweile hermetisch abgeriegelten Platz zu gelangen. Doch weit über zehn Reihen von Riotcops, flankiert von Barrieren aus Polizeibussen, und der vereinzelte Einsatz von CS-Gas verhindern jedes Durchkommen. Dennoch rennen die Arbeiter eine halbe Stunde lang immer wieder gegen die Polizei an. Mehrmals werden dabei Polizisten aus der Polizeikette herausgerissen, entwaffnet und unter dem Johlen der Menge verprügelt. Nur das Einschreiten von Demonstranten verhindert, dass die Wut an diesen einzelnen Polizisten ausgelassen wird.
Ohne Vorwarnung werden die Durchbruchversuche eingestellt, und immer mehr Arbeitergruppen machen sich geschlossen auf den Weg zurück zu ihren Bussen – die Mehrzahl der Arbeiter wohnt nicht in Seoul, sondern in den Hafenstädten Incheon und Busan. Auch dies geht diszipliniert und zügig vonstatten, es bleiben bis Mitternacht nur die Christen, die Studenten und die Umweltschützer (immer noch eine Zahl von gut 4 000) auf dem Platz. Zurück bleibt der Eindruck, Teil einer direkt aus dem Lehrbuch der K-Gruppen entsprungenen Inszenierung gewesen zu sein.

Das für Europa typische Bild der autonomen Bewegung oder auch von Subkulturen, wie Hardcore oder Punk, ist hingegen nicht zu finden. Die Punk-Bewegung ist in Korea weitestgehend unpolitisch oder nationalistisch, es finden sich nur kleine Gruppen von politisch linken Subkulturen, welche aber die Massenaufmärsche mit ihrer strikten Reglementierung ablehnen.
Die Medienaktivisten von Indymedia Korea teilen diese Ablehnung der dominierenden Strömungen. »Die Gruppen sind zu dogmatisch und orientieren sich an einem überholten Marxismusverständnis«, sagt J., ein Medienaktivist aus Seoul. »Sicherlich haben sie noch immer ein großes Mobilisierungspotential, und auch die Arbeiterkämpfe werden militant ausgetragen. Doch es hat mehr als zehn Jahre aktive Intervention gebraucht, um den großen Arbeiterorganisationen die Situation migrantischer Arbeiter ins Bewusstsein zu bringen. Von anderen Themen ganz zu schweigen.«
Neben den Gewerkschaften und anderen Arbeiterorganisationen spielt auch die Democratic Labor Party (DLP) eine wichtige Rolle für die Organisierung von Protesten. Die linksnationalistische Partei wurde im Jahr 2000 mit dem Ziel ­gegründet, die KCTU auch politisch zu vertreten.
Die DLP hatte vor dem Gipfel zahlreiche kleinere Proteste veranstaltet, wobei speziell das Freihandelsabkommens zwischen den USA und Südkorea im Mittelpunkt stand. Das Abkommen wurde schon vom vorherigen Präsidenten und ehemaligen Menschenrechtsaktivisten Roh Moon-hyun mit George W. Bush in den Jahren 2006/2008 ausgehandelt. Es sieht unter anderem eine weitgehende Öffnung des südkoreanischen Markts für amerikanische Agrarprodukte vor, was bei den Bauern große Sorgen auslöst. Der BSE-Skandal bei amerikanischem Rindfleisch verstärkte die Angst vor einer Öffnung der Handelsgrenzen und führte schließlich zum politischen Ende von Moon-hyun.
Sein konservativer Nachfolger, Lee Myung-bak, hat nun in Geheimverhandlungen mit Barack ­Obama kurz vor dem G20-Gipfel Konzessionen gemacht und das Abkommen erweitert. Hier setzt die Kritik der protektionistischen DLP an, die dem Präsidenten eine Verschwörung und den »Ausverkauf des Volkes« vorwirft. Dass die Menschen Angst haben und sich daher bereitwillig an Protesten beteiligen, konnte 2008 bei den Kerzenlichtdemonstrationen beobachtet werden, wo beinahe eine Million Menschen gegen die Außenhandelspolitik der damaligen Regierung auf die Straße gingen.
Prägend für fast alle linken Proteste in Südkorea ist ein dezidierter Antiamerikanismus, der von einer Kritik an der Stationierung von US-Truppen in Südkorea bis hin zu Verschwörungstheorien reicht, wie jener, wonach der Untergang des Kriegsschiffs »Cheonan« im Mai nicht von Nordkorea, sondern durch eine Geheimaktion der USA verursacht worden sei.
Eine eher ungewöhnliche Rolle bei militanten Protesten in Südkorea spielen immer wieder pensionierte Militärs. Diese rechten Gruppen fordern höhere Renten und versuchen, mit nationalistischer Rhetorik die demokratischen Regierungen als »Verräter an der Nation« darzustellen. Die Proteste schlagen fast immer in massive Gewalt um. Dabei werden selbstgebaute Flammenwerfer und Nahkampftechniken eingesetzt und die Polizisten sind meist überfordert. Auch zum G20-Gipfel hatten ehemalige Militärs Proteste angekündigt, diese traten am Ende jedoch nicht ein.

Am 11. November fand der offizielle Protest gegen den Gipfel statt. Mit 10 000 Teilnehmenden fiel er weit hinter die Demonstration zurück, die fünf Tage zuvor stattgefunden hatte. Das mag an dem Werktag gelegen haben, der die außerhalb von Seoul lebenden Arbeiter davon abhielt, an der Demonstration teilzunehmen. Das gesamte Spektrum der koreanischen Linken ist erneut vertreten, wobei das geringe Alter vieler Demonstrierenden auffällt. Studenten und auch Umweltschützer scheinen die Mehrzahl zu bilden. Unterstützt werden sie von vereinzelten internationalen Aktivisten, insbesondere Gewerkschaftsführern aus Südafrika, den USA und Lateinamerika. Abgesehen von einem erfolgreichen Durchbruch der Absperrungen, der den Marsch erst in Gang setzt, bleibt die Demonstration friedlich.
Offensichtlich hat die Studentenbewegung einiges von ihrer Stärke der vergangenen Jahrzehnte verloren. Es hat sich ein unpolitischer Konsens durchgesetzt, der eher auf gemeinsame Wohnprojekte und eine alternative Lebensweise Wert legt. Eine politische Schulung und Indoktrination wie in den siebziger Jahren ist nur noch vereinzelt zu finden. Das hat einerseits die hierarchischen Strukturen verändert, andererseits aber auch zu einem generellen Desinteresse an explizit linker Politik geführt. Proteste und Demonstrationen finden mittlerweile nur noch aus tagesaktuellen Anlässen statt und werden durch Diskussionen in Internetforen ausgelöst.

Auffällig ist, mit welcher Verve die Regierung von Myung-bak seit über einem Jahr den G20-Gipfel vorbereitet und dabei massive Propaganda wie auch eine kulturelle Neuorientierung forciert hat. Das Ganze fing mit der Einführung des »rechts stehen, links gehen« an allen Rolltreppen an. Alle »Hochkulturen« aus Europa und den USA hätten diese Regelung, und Südkorea, das nun zu diesen »Hochkulturen« aufgestiegen sei, könne sich dem nicht entziehen. Auch wurde behauptet, dass solch ein öffentliches Verhalten schon in der ­alten königlichen Zeit auf der Straße üblich gewesen sei. Schnell kamen weitere Maßnahmen zur Disziplinierung der Bevölkerung hinzu. Von der Aufforderung, ausländische Besucher überall mit einem offenen Lächeln zu begrüßen – was eigentlich der reservierten Etikette der koreanischen Gesellschaft widerspricht –, bis hin zum mit angeblicher Geruchsbelästigung der Besucher begründeten Verbot, den eigenen Müll während des Gipfels auf die Straße zu stellen, reichte dabei das Repertoire.
Die Lächeln-Kampagne und Maßnahmen wie das Müll-Verbot werden von einem massiven Kulturnationalismus begleitet. Viele Linke fürchten, dass sich hier eine kulturelle Wende hin zu einer neuen Autokratie abzeichnet. »All diese Maßnahmen der Disziplinierung und Einschwörung auf ein sauberes und gehorsames Südkorea sind eine andere Form der nordkoreanischen Juche-Ideologie«, meint Shinichi, ein Japaner, der seit knapp 25 Jahren in Seoul lebt. »Hier wird das dem Konfuzianismus inhärente Hierarchiedenken mit einer modernen nationalistischen Ideologie verknüpft. Alles deutet darauf hin, dass Myung-bak die Gesellschaft in eine moderne Autokratie umwandeln will, koste es, was es wolle«, erklärt er.
Selbst die traditionell koreanischen Straßenhändler wurden, wie auch die Obdachlosen, aus der Innenstadt vertrieben. Der Höhepunkt der nationalistischen Kampagne wurde gut eine Woche vor dem Gipfel erreicht, als die Abschiebung von illegalen migrantischen Arbeitern als »Konjunkturmaßnahme« und »Eindämmung der Kriminalität« verkauft wurde.
Wenige Tage vor dem Gipfel wurden zwei der am längsten bestreikten Fabriken in Südkorea, teils nach fünf Jahren Ausstand, durch weitreichende Zugeständnisse an die Arbeiter befriedet. Bei den Samsung-Werken, wo die Belegschaft gegen die drohenden Entlassungen protestiert, will der Staat jedoch weiterhin gegen jede Form von Streik vorgehen. Die Opposition wie auch die Gewerkschaften haben bis jetzt keinen adä­quaten Umgang damit gefunden.
Neben dem Verharren in orthodox marxistischen Strukturen, das viele junge Aktivisten abschreckt, ist eine Überalterung der klassischen Arbeiterbewegung zu beobachten. Auch die Studentenbewegung hat dadurch, dass sie sich als unpolitisch begreift, stark an Zugkraft verloren.
Relevante Gruppen bleiben die christlichen und weitere Organisationen, die sich primär den Themen Menschen- und Frauenrechte sowie dem Schutz der Migranten vor Ausbeutung verschrieben haben. Inwiefern diese Gruppen erneut die Führungsrolle in der Opposition gegen eine sich verschärfende autokratische Tendenz einnehmen werden, muss sich zeigen. Viele fürchten die starke Repression, die erneut droht, und so kommen zu Friedensgebeten und Menschenrechtsaktionen derzeit kaum mehr als 40 Personen zusammen.
Dass eine Modernisierung der Bewegung hin zu Kampagnen wie dem internationalen Mayday oder gegen die Gentrifizierung einzelner Stadtteile Seouls diese Probleme lösen kann, wie es in Japan teilweise geschehen ist, muss derzeit eher bezweifelt werden.