Über die Hartz-IV-Reform

Eine Frage der Berechnung

Der Bundestag hat der sogenannten Hartz-IV-Reform zugestimmt. Mit dem Gesetz ist es der Regierung gelungen, den Armuts­kreislauf noch konsequenter zu schließen.

Eines muss sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales nicht vorwerfen lassen: Termine nicht einzuhalten. Im Februar hatte das Bundesverfassungsgericht eine Neuberechnung der Regelsätze für die Bezieher von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld bis zum Jahresende angeordnet. In der vergangenen Woche hat der Bundestag nun die Gesetzesvorlage des Arbeitsministeriums verabschiedet.
Wer allerdings angesichts der Kritik des Bundesverfassungsgerichts, das unter anderem »Schätzungen ins Blaue hinein« bemängelte, große Veränderungen erwartet hat, wird von der sogenannten Reform enttäuscht. Die Neuberechnung der Regelsätze folgt den derzeitigen politischen Vorgaben: Die Hartz-IV-Sätze sollen ab Januar nur um fünf Euro auf 364 Euro für Alleinstehende und 328 Euro für Ehe- oder Lebenspartner steigen. Die Bezüge für Kinder bleiben unverändert, diese erhalten lediglich einige zusätzliche Leistungen aus dem sogenannten Bildungspaket. Die Leistungen für behinderte Menschen, die weiter bei ihren Eltern leben, werden sogar um 20 Prozent auf 291 Euro im Monat gekürzt. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) nennt die Neuerungen einen »Riesenfortschritt«.

Die Vorgaben der Haushaltspolitiker aus den Regierungsparteien waren eindeutig. Nach Ansicht des stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden Michael Fuchs sollte »die Konsolidierung des Staatshaushalts durch Hartz IV nicht gefährdet werden«. Der CSU-Politiker Max Straubinger mahnte: »Man muss das Lohnabstandsgebot beachten.« Heinrich Kolb, der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion, forderte, das Arbeitsministerium müsse »Vorschläge für Einsparungen an anderer Stelle machen«, sollten durch die Neuberechnung höhere Ausgaben für Hartz-IV-Empfänger anfallen.
Diese Vorgaben wurden in dem neuen statistischen Verfahren zur Berechnung der Regelsätze mit großer Sorgfalt berücksichtigt. Denn zukünftig werden nicht mehr die ärmsten 20 Prozent, sondern nur noch die ärmsten 15 Prozent der Einkommensbezieher als statistische Bezugsgruppe für die Kalkulation herangezogen. Viele Menschen aus dieser Einkommensgruppe leben am Existenzminimum und erhalten selbst ergänzend ALG II oder Sozialgeld. Der Armutskreislauf bleibt so geschlossen. Mit der vom Verfassungsgericht geforderten Orientierung am tatsächlichen Bedarf und der Sicherung der gesellschaftlichen Teilhabe haben derartige Rechentricks nichts zu tun.
Von dem so ermittelten Bedarf der ärmsten Einkommensbezieher werden zudem noch die durchschnittlichen Ausgaben für Alkohol und Zigaretten abgezogen, Genussmittel sind für die Armen nicht mehr vorgesehen. Auch die Leistungen für private Krankenkassen sollen zukünftig nicht mehr übernommen werden. Die Gesamtkosten für die Erhöhung der Regelsätze liegen bei 290 Millionen Euro, für das Bildungspaket werden etwa 740 Millionen Euro veranschlagt. Von steigenden Kosten kann aber nicht die Rede sein. Das Elterngeld und die Rentenbeiträge für Hartz-IV-Empfänger sowie das Übergangsgeld beim Wechsel von ALG I zu ALG II hat die Regierung mit dem sogenannten Sparpaket abgeschafft und so eine Einsparung von 3,9 Milliarden Euro auf Kosten der Armen durchgesetzt.

Am deutlichsten kritisierte das Bundesverfassungsgericht im Februar die Regelsätze für Kinder: »Der Gesetzgeber hat jegliche Ermittlungen zum spezifischen Bedarf eines Kindes unterlassen.« Der prozentuale Abschlag von der Regelleistung für einen Erwachsenen beruhe »auf einer freihändigen Setzung ohne empirische und methodische Fundierung«. Trotz dieser Ermahnung werden die kläglichen Regelsätze für Kinder nicht erhöht. Denn die Berechnungen des Ministeriums sollen ergeben haben, dass Kinder sogar mit noch weniger Geld ausreichend versorgt werden können. Deshalb wird die Erhöhung der Kinderregelsätze auch in den kommenden Jahren einfach ausgesetzt.
Den 1,7 Millionen Kindern, deren Eltern ALG II beziehen, soll stattdessen mit dem sogenannten Bildungspaket geholfen werden: Die Kinder haben Anspruch auf Nachhilfeunterricht, Schulausflüge, Zuschüsse zum Mittagessen, die Mitgliedschaft in Sportvereinen und zusätzlichen Musikunterricht. Doch nur höchstens zehn Euro stehen im Monat für die Teilnahme an Sport-, Musik- oder Kulturangeboten zur Verfügung. Zudem erhalten die Eltern lediglich Gutscheine, das Geld geht direkt an die Anbieter. Nachhilfe gibt es nur, wenn die Versetzung des Kindes gefährdet ist und durch die Nachhilfe Aussicht auf ein erfolgreiches Weiterkommen besteht. Für eintägige Schulausflüge sind 30 Euro im Jahr vorgesehen. Mehrtägige Klassenfahrten werden nicht finanziert. Über entsprechende Anträge entscheiden die »Fallmanager« in den Arbeitsagenturen, die über keinerlei Kompetenzen in Fragen kindlicher Bildung und Betreuung verfügen.
Experten kritisierten in einer Anhörung des Bildungsausschusses des Bundestages das »Bildungspaket« einhellig als »nicht bedarfsgerecht«. Die Orientierungsgröße für die Berechnung des Bedarfs sei der Bildungskonsum einer selbst schon »bildungsfernen Schicht«. »Damit wird jedoch die Bildungsferne der Betroffenen weiter zementiert«, sagt Heinz-Jürgen Stolz vom Deutschen Jugendinstitut. Verena Göppert vom Deutschen Städtetag kritisierte zudem den hohen Verwaltungsaufwand: »Allein 135 Millionen Euro, also fast ein Fünftel der eigentlichen Leistung, sind für Verwaltungskosten vorgesehen.«
Das Verfassungsgericht hatte im Februar ein »Grundrecht auf die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums« festgelegt, das nicht nur »die Sicherung der physischen Existenz, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben« umfassen müsse. Dieses Urteil hat jedoch keine gesellschaftliche Debatte darüber angestoßen, unter welchen materiellen Bedingungen ein menschenwürdiges Leben überhaupt möglich ist. Der skandalöse Zustand, dass eine wachsende Armutsbevölkerung gesellschaftlich ausgegrenzt wird, entfachte keine Diskussionen.

Auch die für diesen Herbst angekündigten Sozialproteste gegen die rigorose Sparpolitik der Regierung blieben größtenteils aus. Solange sich erfolgreicher Widerstand in Deutschland hauptsächlich aus der bürgerlichen Mittelschicht rekrutiert und nur gegen Bahnhofsumbauten oder Castortransporte richtet, die Aufrufe zu sozialem Protest aber selbst bei den unmittelbar Betroffenen wenig Zuspruch finden, wird sich die Bundesregierung kaum beeindrucken lassen. So bleiben als letzte Hoffnung derzeit tatsächlich nur die demokratischen Institutionen: Der Bundesrat könnte die Gesetzesvorlage in der nächsten Woche ablehnen. Sollte er dies nicht tun, könnte der endgültigen Verabschiedung des neuen Gesetzes eine weitere Klage vor dem Bundesverfassungsgericht folgen.