Die deutsche Asylpolitik

Bloß nicht an Schikanen sparen

17 Jahre nach dem »Asylkompromiss« kommen wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland. Noch immer werden ihnen hier viele Rechte vorenthalten. Gleich mehrere der Asylgesetze kommen nun auf den Prüfstand. Ob danach irgend etwas besser wird, ist offen.

Auf dem Flugblatt hatten sie ihn »Lagerleiter« genannt. Christian Lüttgau, einstiger Chef der »Zentralen Aufnahme- und Ausländerbehörde« des Landes Niedersachsen (ZAAB), glaubte, ganz genau verstanden zu haben, wie das gemeint war: als »Assoziation zur Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus«. Und deswegen zeigte er den Aktivisten Malte M. aus Oldenburg, der das Flugblatt verteilt hatte, wegen Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte an.
Lüttgau leitete zwei Sammelunterkünfte für Asylbewerber des Landes Niedersachsen. Eine davon ist in Hesepe bei Osnabrück. Sie liegt in einem Wald, mehrere Kilometer von der nächsten Stadt entfernt, umgeben ist sie von einem Zaun, am Eingang stehen Wachmänner neben einer Schranke. Ein »Heim« ist das wohl nicht. Alles hier soll verhindern, dass sich bei den Bewohnern das Gefühl einstellt, sie seien hier zu Hause. Denn wenn es nach Lüttgaus Arbeitgebern ginge, wären sie längst aus Deutschland verschwunden.
Zu arbeiten oder sich fortzubilden, ist den meisten Flüchtlingen verboten, sie bekommen nur ein kleines Taschengeld von 40,90 Euro im Monat. Um ganz sicher zu gehen, dass sie es nicht irgendwie aufbessern, ließ Lüttgau sich in einer seiner Sammelunterkünfte von der Polizei helfen. Die durchsuchte im Jahr 2008 auf sein »Amtshilfeersuchen« hin mehrfach die Zimmer der Asylbewerber – und beschlagnahmte alles an Bargeld, was über 50 Euro hinausging. »Es muss davon ausgegangen werden, dass es unrechtmäßig erworben wurde«, sagte Lüttgau. Zurückbekommen sollte das Geld nur, wer den »Anfangsverdacht auf eine Straftat oder auf illegale Beschäftigung« ausräumen konnte (vgl. Jungle World 46/2008). Was wie eine außergewöhnliche schikanöse Praxis wirken mag, verrät den Charakter der deutschen Asylbewerberunterkünfte. Die »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migranten« schreibt: »Die Flüchtlinge durch Isolation zu schwächen, eine politische Organisierung zu unterlaufen und praktische Solidarität unmöglich zu machen: Das sind die Ziele der Residenzpflicht und des Lagersystems«.
All dies sieht das »Asylbewerberleistungsgesetz« (AsylbLG) vor. Es ist ein Resultat des »Asylkompromisses« von 1992, auf den sich CDU/CSU, SPD und FDP einigten, um den »außer Rand und Band geratenen Asylantenstrom« einzudämmen, wie der damalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber im Bundestag zur Begründung formulierte. Sie erreichten ihr Ziel: Kamen damals etwa 320 000 Flüchtlinge im Jahr nach Deutschland, so sank die Zahl bis 2006 auf etwa ein Zehntel.

Seither schien das rigide Migrationsregime in Deutschland schier unverrückbar, doch nun zeichnen sich Veränderungen ab. Seit einiger Zeit steigen die Asylbewerberzahlen wieder: Im Oktober waren es fast doppelt so viele wie im Januar dieses Jahres. Und im ganzen Jahr dürften es an die 50 000 werden – 2008 waren es noch 28 000. Gleichzeitig protestieren Flüchtlinge in vielen Teilen Deutschlands. Und auch auf der legislativen Ebene ist viel in Bewegung: Residenzpflicht, Zwangsunterkünfte, das »AsylbLG« – all dies steht in der nächsten Zeit auf der Tagesordnung von Parlamenten. Mitte November räumte die Bundesregierung ein, dass das »AsylbLG« verfassungswidrig ist. Nach dem Karlsruher Hartz-IV-Urteil vom Februar müssen auch die Sätze der Sozialleistungen für Asylbewerber neu berechnet werden. Derzeit liegen sie rund ein Drittel niedriger als die für deutsche Sozialleistungsempfänger. Im Frühjahr dürfte der Bundestag die Angelegenheit beraten.
Auch wenn die Zeiten andere sind als 1993, als unverblümt von einer »Asylantenflut« gesprochen wurde, sind Zuwanderer auch heute nicht willkommen – höchstens, wenn man sich von ihrer Präsenz Abhilfe gegenüber dem angeblich drohenden Fachkräftemangel oder der »Über­alterung« der Deutschen verspricht. Kürzlich sprachen Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) und die grüne Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt in einer ARD-Talkshow über Migranten. Schünemann schlug vor, dass bei geduldeten Familien von einer Abschiebung abgesehen werde, wenn die Kinder gute Schulnoten haben. Die Grüne Göring-Eckardt fand, dass dies »in die richtige Richtung gehe«. Allenfalls, so regte sie an, könne man statt Schulnoten auch das »Engagement in kirchlichen Jugendgruppen« als Kriterium hinzunehmen. Das ist schwarzgrüne Einwanderungspolitik im Jahre 2010: Kinder wird aufgebürdet, mit guten Noten oder wenigstens durchs Mitsingen im evangelischen Kinderchor ihre Familie vor der Abschiebung zu retten.

Am Wochenende trafen sich rund 300 Aktivisten aus antirassistischen Initiativen in Frankfurt zur »No Border lasts forever«-Konferenz. Nach der von Thilo Sarrazin geprägten sogenannten Inte­grationsdebatte, zeigten sich viele Teilnehmer besorgt. »Gehetzt wurde gegen die türkischen Migrantinnen und Migranten, aber natürlich ist auch der Flüchtling im Lager gemeint«, meint etwa Volker Möller vom No-Lager-Netzwerk. »Wir haben es mit einem neuen rassistischen Angriff zu tun«, sagte auch der Migrationsforscher Bernd Kasparek. »Und das Problem ist, dass es keine organisierte migrantische Linke gibt, die darauf antworten könnte.« Eine Aktivistin aus Thüringen befürchtet angesichts der Debatte um die Novellierung des Asylbewerberleistungsgesetzes: »Die Stimme der Flüchtlinge wird nicht zu hören sein.«
Dabei melden sich die Flüchtlinge in der letzten Zeit durchaus zu Wort, und zwar nicht nur in den beiden Sammelunterkünften Lüttgaus sondern auch in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern. Erst kürzlich begannen in sieben bayrischen Zwangsunterkünften (Jungle World 48/2010) Essenspaketboykotts und Hungerstreiks. Oft drohen die Ausländerbehörden den protestierenden Flüchtlingen mit Abschiebung und verteilen vermeintliche Rädelsführer an andere Orte. Doch manche Proteste hatten Erfolg: Das »Schimmelasyl« in Katzhütte etwa wurde nach ausdauernden Protesten geschlossen (Jungle World 22/2008).
Allianzen zwischen den protestierenden Flüchtlingen und ihren deutschen Unterstützern und Unterstützerinnen sind dabei oft mühsam. »Die Kluft zwischen der Linken und den Flüchtlingen ist riesengroß«, sagt Osaren Igbinoba, Sprecher von »The Voice«, einer Organisation überwiegend afrikanischer Flüchtlinge aus Jena. Um dies zu ändern, beschlossen die versammelten Initiativen auf der Frankfurter Konferenz für das kommende Frühjahr eine ganze Reihe von Aktionen. Gemeinsam wollen sie für eine »Abschaffung aller rassistischen Sondergesetze« kämpfen.

Etwas Ähnliches hat auch Filiz Polat vor. Nur will sie das Problem auf dem parlamentarischen Weg angehen. Die Grüne ist Abgeordnete im niedersächsischen Landtag, zu ihrer Herkunftsstadt Bramsche gehört die Sammelunterkunft Hesepe. Im Juni hat Polat einen bundesweit einmaligen Entwurf für ein neues Aufnahmegesetz in den Landtag eingebracht. Sie will, dass Niedersachsen künftig alle Asylbewerber und Geduldeten in Wohnungen unterbringt. Doch die regierende CDU denkt nicht daran. Eine »Unterbringung in Wohnungen würde bei den Ausreisepflichtigen zu einer faktischen Verfestigung des Aufenthalts führen«, sagte die CDU-Abgeordnete Edith Loberberg. »Den Aufenthalt von ausreisepflichtigen Personen zu beenden, würde dadurch erschwert.« Die Zwangsunterbringung habe sich bewährt, denn durch sie habe »eine Vielzahl von Fällen unberechtigten Aufenthalts erheblich verkürzt werden können«. Polat will das nicht hinnehmen. Ihr Gesetzentwurf liegt derzeit im Rechtsausschuss des Landtags, im Januar will sie Schünemann »Druck machen«, sagt sie.
Frank Stein, Sozialdezernent der Stadt Leverkusen, hat auf kommunaler Ebene bereits im Jahr 2000 verwirklicht, was Polat noch vorhat. 950 Flüchtlinge waren Leverkusen damals zugewiesen worden. Doch in den Sammelunterkünften herrschten »unvertretbare bauliche und sanitäre Zustände«, sagt Stein. »Vor allem für Flüchtlingskinder ist es sehr belastend, im Heim aufzuwachsen.« Hinzu kam eine »massive Haushaltskrise« – einen Neubau konnte sich die Stadt nicht leisten. So begann Stein alle Flüchtlinge in privaten Wohnungen unterzubringen. »Das war eine gravierende humanitäre Verbesserung«, sagt er. »Brennpunkte« seien nicht entstanden, und bis heute gebe es keinen Fall, in dem Flüchtlinge wegen »Konflikten mit dem Umfeld« eine Wohnung wieder hätten verlassen müssen. Hinzu komme, dass sich das Pioniermodell für die Stadt gerechnet habe. Die veranschlagte Miete lag dabei 20 Prozent niedriger als die für deutsche Sozialleistungsempfänger. »Wir haben dadurch Einsparungen im deutlich siebenstelligen Bereich.« Warum andere nicht nachziehen, darüber mag er nur mutmaßen. Das Thema sei »nicht ideologiefrei«. Doch die Devise »Wir machen es möglichst unangenehm, dann kommt keiner mehr hierher«, sei »sehr zynisch«.
Weil die verantwortlichen Behörden sich meist weigern, die Kosten der oft privat betriebenen Sammelunterkünfte anzugeben, mussten Flüchtlingsräte diese meist schätzen. Ihren Vorwurf, es würde auch noch Steuergeld verschwendet, um Flüchtlinge aus Deutschland wegzuekeln, konnten sie daher oft nicht erhärten. Doch kürzlich bekam Alexander Thal vom Bayrischen Flüchtlingsrat »belastbare« Zahlen des bayrischen Sozialministeriums über die größte Sammelunterkunft des Landes in Aschaffenburg. Demnach gibt Bayern für die 314 dort lebenden Flüchtlinge jeden Monat 461 Euro aus – der SGB II-Mietsatz liegt bei nur 408 Euro. »Das Ziel, mit den Lagern die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland zu fördern, lässt Bayern sich allein hier 640 000 Euro mehr im Jahr kosten«, sagt Thal.
Etwas fortschrittlicher geben sich derzeit die Länder Bremen, Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen. Am Freitag berät der Bundesrat ihre Initiative, die Residenzpflicht für Geduldete und Asylbewerber weitgehend abzuschaffen. Derzeit dürfen sie den Landkreis oder das Land, dem sie zugewiesen sind, nur mit einer besonderen Erlaubnis verlassen. Künftig soll die »räumliche Beschränkung« nur für Straftäter und Ausländer gelten, die nicht mit der Ausländerbehörde kooperieren. Die Residenzpflicht führe »insbesondere bei einem längerfristigen geduldeten Aufenthalt oder einem langen Asylverfahren zu einer Isolation«, begründeten die Länder ihren Vorstoß. Flüchtlingsräte begrüßten die Initiative als einen »ersten Schritt«.

Begrüßt hat auch der Aktivist Malte M. aus ­Oldenburg die Entscheidungen zweier Gerichte. Nach dem Amtsgericht entschied schließlich auch das Oberlandesgericht Oldenburg, dass Christian Lüttgau die Bezeichnung als »Lager­leiter« und sogar als »rassistische Autorität« erdulden müsse. Als einstiger Chef der »Zen­tralen Aufnahme- und Ausländerbehörde« Niedersachsens müsse er zugespitzte Kritik hin­nehmen, so das Gericht.