Michel Houellebecqs neuer Roman »La carte et le territoire«

Fotografien vom Zerfall

Michel Houellebecq schaut in seinem neuen Roman der Zivilisation bei ihrem Niedergang zu.

Der Triumph der Vegetation ist total.« Der Endzustand der modernen Industriegesellschaft stellt sich als grün wucherndes Dickicht dar. Mit dieser Vision endet das neue Buch von Michel Houellebecq, der im November den Prix Goncourt erhalten hat. Es hat den Titel »La carte et le territoire« (Die Landkarte und das Gebiet). So stellt sich der Autor das Frankreich des späten 21. Jahrhunderts vor – geschildert von einem Ich-Erzähler, der Soziologen und Kunsthistoriker zu Rate zieht, um die Ereignisse seit der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts zu rekons­truieren. Dabei erschließt sich auch die Bedeutung, die der wichtigste Protagonist des Romans, ein einst erfolgreicher Fotograf und Millionär namens Jed Martin, und ein Schriftsteller namens Michel Houellebecq vor einigen Jahrzehnten hatten.
Houellebecq kommt in seinem eigenen Roman als Figur vor, und zwar in einer dreifachen Rolle: zuerst als misanthropischer Schriftsteller, später als Vorreiter einer Bewegung namens »Zurück auf’s Land« und schließlich als Opfer eines blutrünstigen Mordes. Dieser lässt die Romanhandlung über einige Dutzend Seiten in andere Geleise übergehen: Wird sonst die Biographie Jed Martins erzählt, so liest man nun vorübergehend einen Krimi. Beschrieben werden die Ermittlungen einer Sonderkommission, die an der Aufklärung des Falles Houellebecq arbeitet. In einer Art Ritualmord ist dieser fein säuberlich zu Fleischstücken verarbeitet worden. Nachdem der Mordfall aufgeklärt ist, setzt sich die Haupthandlung fort, bis Jed Martin an einer Krebserkrankung stirbt.
Die Welt im ausgehenden 21. Jahrhundert: Die industrielle Zivilisation ist in Europa untergegangen, während sie in den aufstrebenden Ländern China, Indien und Russland fortbesteht – allerdings um den Preis gigantischer Krisen. Die Chinesen besiedeln einen Teil Frankreichs neu, dessen Städte sich teilweise geleert haben, weil die Bewohner wieder in die Dörfer gezogen sind. Jed Martin hat sich nicht nur in den Herkunftsort seiner Familie im zentralfranzösischen Departement Creuse zurückgezogen, sondern dank seiner Millionen ein Riesenterrain von 700 Hektar erwerben können. Sein Gelände schützt er mit einem elektrischen Zaun, in den er nur eine Öffnung hat einbauen lassen, die direkt auf eine Ausfallstraße führt. Über diese fährt Martin regelmäßig in einen Supermarkt in Limoges, um – zu Zeiten, in denen der Laden möglichst menschenleer ist – seine Einkäufe zu erledigen. In der letzten Phase seines Schaffens hat sich Martin auf das Fotografieren von Pflanzen spezialisiert – auf die Darstellung »des pflanz­lichen Standpunkts zur Welt« – und erneuert seine Technik: Er überlagert Bilder pflanzlichen Wachstums mit Aufnahmen von Personen oder industriell fabrizierten Gegenständen. Diese Bilder montiert er zu Videofilmen, auf denen die Pflanzen immer schneller zu wuchern und die Personen oder Gegenstände immer schneller zu degenerieren scheinen.
Die beiden Figuren Martin und Houellebecq erscheinen gleichermaßen als Menschenfeinde. Der Hauptprotagonist, Martin, absolviert zunächst sein Kunststudium und unterhält dabei eine Beziehung zu einer Kommilitonin – Geneviève –, die als Prostituierte arbeitet. Prostitution, Sextourismus, kosmetische Chirurgie: Die warenförmigen Aspekte zwischenmenschlicher Beziehungen spielen in Houellebecqs Roman eine wichtige Rolle, freilich nicht im kapitalismuskritischen Sinn, sondern als Ausdruck eines diffusen Unbehagens an der Zivilisation. Martin beginnt nach Beendigung seines Studiums ein Einsiedlerdasein. Irgendwann fällt ihm auf, »dass er in den letzten sechs Monaten kein Wort gesprochen hat, außer mit der Kassiererin im Supermarkt«. Der Name der Supermarktkette Casino fällt mit ebenso penetranter Häufigkeit wie die Markennamen von Autos oder Fotoapparaten. Der Roman liest sich passagenweise wie ein in ironischer Absicht erstellter Warenkatalog.
Später gibt Martin sein Emeritendasein auf, um als Künstler Karriere zu machen. Er kommt auf die Idee, aus verschiedenen Blickwinkeln Nahaufnahmen von Straßenkarten zu machen, und stellt sie als Großformate aus. Dies verschafft ihm absurd anmutende Elogen von Kunstbeflissenen – etwa von einem Kritiker von Le Monde, dessen Namen und Funktion übrigens einem realen Vorbild entsprechen. Kéchichian, so heißt er, versteigt sich zu Lobpreisungen wie jener, durch seine Aufnahmen von oben mache sich Jed Martin »den Standpunkt Gottes zu eigen«.
Bei der Schau in einer Galerie werden die Bilder Martins unter dem Titel »Die Karte ist interessanter als das Gebiet« ausgestellt. Bei dieser Gelegenheit wird deutlich, dass die Käufer sich, in verzweifelter Suche nach ihren verlorenen Wurzeln, auf die Karten ländlicher Zonen ihrer familiären Herkunftsgebiete stürzen. Wie Martin zieht im Laufe der Handlung auch die Roman­figur Houellebecq in das Ursprungsdorf seiner Familie um. Einer der Helden des Romans ist der Fernsehjournalist Jean-Pierre Per­naut, im wirklichen Leben Sprecher im Sender TF1, der seine romantisierende Sicht auf die französische Provinz auch medial verbreitet. Im Roman taucht er verfremdet auf, mit einem Outing als Homosexueller – der wirkliche Pernaut ist ­heterosexuell.
In der letzten Phase seines Schaffens arbeitet Martin als Auftragsmaler für »die produktiven Schichten der Gesellschaft«, deren Wirtschaftsführer er porträtiert, was die Absurdität der medialen Lobhudelei nur verstärkt. Der Kritiker von Le Monde geht so weit, im Porträt eines Indus­triellen »Gott, der unter die Menschen herabsteigt«, zu erkennen. Außerdem stellt Martin christliche Priester als tragische Helden dar, die »niemand mehr versteht«. Die »Beobachtungsstelle Glauben und Kultur« der französischen Bischofskonferenz empfiehlt Houellebecqs Buch deswegen zur Lektüre.
Aus konservativer Sicht hat die Wochenzeitung Le Figaro Magazine Houellebecqs Schaffen auf den Punkt gebracht: »Es ist das schamlose, nicht gehaltene und auch nicht haltbare Versprechen der Moderne, ihren Zeitgenossen das Glück schlüsselfertig zu liefern, solange sie nur ihre Dogmen annehmen: Relativismus, Individualismus, Materialismus. Doch die Erfahrung der zeitgenössischen westlichen Gesellschaften, die in den Romanen Houellebecqs beschrieben werden, zeigt genau das Gegenteil. Der Mensch, der jede moralische, spirituelle, kollektive Beschränkung abgelegt hat, ist ein reines Individuum geworden (…). Verdammt zur Einsamkeit (…), wird er (…) entmenschlicht enden.«
Das Streben nach Glück und Fortschritt – nicht nur in seiner kapitalistischen Form – ist für Houellebecq ein unheilvolles Unterfangen. »Der Mensch ist nicht gut« oder »Sex ist eine traurige Angelegenheit«, so fassen die Zwischentitel im Porträt des Figaro Magazine seine Botschaften zusammen. In den Augen Houellebecqs gibt es aber auch keine Lösung, was ihn von Reaktionären, Faschisten oder religiösen Eiferern klar unterscheidet. Praktizierende Christen erscheinen ihm als sympathisch, aber auch ein wenig weltfremd. Der Islam kommt in seinem Buch nicht vor, ist aber für Houellebecq sonst eher ein Hassobjekt. Im Herbst 2002 stand er vor Gericht, weil er vom Islam als »der dümmsten aller Religionen« gesprochen hatte, wurde jedoch freigesprochen.
In seinem Roman »Elementarteilchen« hatte der Autor noch jene angegriffen, die sich – etwa in Gestalt der Achtundsechziger-Bewegung oder der Hippies – um einen im weitesten Sinne progressiven Ausbruch aus den bestehenden Verhältnissen bemühten. Das Bestreben nach »sexueller Befreiung«, hieß es dort, habe dazu beigetragen, das Individuum aus tradierten Bindungen zu lösen. Nichts dergleichen findet sich in »La carte et le territoire«. Der Roman enthält auch nicht die für Houellebecq typischen Theoriepassagen über den »Selbstmord des Abendlandes«.
Obwohl sie in seinem neuen Buch eher implizit bleibt, ähnelt Houellebecqs Haltung gegenüber der Moderne aber seiner damaligen. Mittlerweile übernimmt er lediglich die Rolle des Kommentators, der über die Gesellschaft und ihre Absurdität hinwegblickt, sich dabei aber auch amüsiert, statt sich nur zu ereifern. So lässt er sich und andere reale Personen als Romanfiguren auftreten: seinen Kollegen Frédéric Beigbeder, Jeff Koons und diverse französische TV-Prominente. Diese ironische Distanz zu sich und anderen, die lockere Verbindung unterschiedlicher Genres sowie ein entspannterer Schreibstil kennzeichnen Houellebecqs neuen Roman. Sie dürften ihm auch den Weg zum Prix Goncourt geebnet haben. Dennoch hat der Houellebecq von 2010 einige frühere Charakterzüge behalten. Noch immer möchte er seinen »Röntgenblick«, seine schonungslose Nüchternheit, bewahren. Und wie in »Elementarteilchen« zeigt er sich fasziniert vom Zerfallsprozess einer Leiche. Nur dass es sich nun um die Leiche seines alter ego handelt. In einigen Passagen von »La carte et le territoire« übertrifft er sich selbst bei dem Versuch, mit zynischer Sachlichkeit den Prozess der Verwesung zu schildern. So hat er Beschreibungen der Entwicklung der Schmeißfliegenlarve, die für den Zerfallsprozess von Leichen wichtig ist, in den Roman aufgenommen und dabei, ohne die Quelle anzugeben, mehrere Seiten aus einem Wikipedia-Eintrag entlehnt.
Dieser »Diebstahl« hat nach Erscheinen des Romans kurzzeitig zu einigen Polemiken geführt. Sie verstummten jedoch nach kurzer Zeit. Ende November hatte ein auf Medienrecht spezialisierter Jurist, Florent Gallaire, erneut für Streit gesorgt. Er stellte Houellebecqs Roman ins Internet, mit dem Argument, da sich Houellebecq aus der Wikipedia bedient habe, sei auch sein Roman als öffentlich zugängliches Werk zu betrachten. Das Verlagshaus Flammarion drohte mit einem Prozess, der Jurist zog seine Gratis­publikation zurück.
Es gibt keine Hoffnung, die Gesellschaft ist absurd, aber ihre Schilderung kann uns reich und berühmt machen: Diesen Standpunkt nimmt nicht nur Houellebecq ein, bei dem man in der Vergangenheit zumindest bisweilen den Eindruck hatte, dass er an der von ihm dargestellten Sinnlosigkeit irgendwie leidet. Frédéric Beigbeder steht für ein vergleichbares Genre. Und auch die Autorin Virginie Despentes fügt sich mit ihrem neuesten Buch »Apocalypse bébé«, für das sie Ende vergangenen Jahres den Literaturpreis Renaudot erhielt, in dieses Bild. Despentes war in den vergangenen Jahren dadurch bekannt geworden, dass sie in Trash-Filmen und -Romanen die Kaputtheit der Welt im Allgemeinen und, wie in ihrem Film »Baise-moi!«, der Sexualität im Besonderen darstellte. In »Apocalypse bébé« schildert sie in einem Rundumschlag, der von den »besseren Kreisen« in Paris über »neoliberale Islamisten« in den Banlieues und strenge Katholiken bis in Despentes’ heutigen Wohnort Barcelona führt, die Verlogenheit diverser sozialer Milieus. Ihre Heldin ist die 15jährige, »nymphomane, kaputte und hyperaktive« Valentine Galtan, die von zu Hause ausbricht. Kein Milieu wird verschont, stets die Hohlheit des jeweils »höheren« Anspruchs offengelegt. Und verglichen mit Houellebecq geht es dabei sogar äußerst bunt und abwechslungsreich zu.

Michel Houellebecq: La carte et le territoire. Flammarion 2010, 428 Seiten, 22 Euro
Virginie Despentes: Apocalypse bébé. Grasset 2010, 352 Seiten, 19 Euro