Nationalistische Gewalt an türkischen Universitäten

Gefährliche Transparente, harmlose Messer

An den türkischen Universitäten bleiben rechte Schläger unbehelligt, doch gegen Proteste geht die Polizei hart vor.

Studenten müssen in der Türkei eine widerstandskräftige Natur haben. Bereits in ihrer Kindheit mussten sie ein ungerechtes Schulsystem bewältigen. Es gibt schlechte staatliche Schulen, teure Privatschulen und gute staatliche Eliteschulen, die aber nur Schüler mit überdurchschnittlichen Leistungen aufnehmen. Gefragt ist nicht Intelligenz oder gar Kritikfähigkeit, sondern stoischer Fleiß. Viele Kinder gehen schon während der achtjährigen Grundschule in Förderschulen, um auf ein Elitegymnasium zu kommen. Das erleichtert dann die Aufnahmeprüfung für die Universität, auf die wieder eine spezielle Förderschule, die Dershane, vorbereitet. Wörtlich übersetzt heißt das »Schulstundenhaus«, türkische Jugendliche besuchen sie am Wochenende. Eine gute Dershane kostet 800 Euro im Monat.
Daher lastet ein unerträglicher Leistungsdruck auf den Kindern und auch auf den Eltern. Jedes Jahr wird das Zeugnis oder eine Prüfung zur Bewährungsprobe. Manche Kinder bringen sich ängstlich nach Hause, weil sie als Versager dastehen, für die man viel Geld verschwendet hat. Die Satirezeitung LeMan schenkt jedes Jahr dem Kind mit dem schlechtesten Zeugnis ein Fahrrad, nur um diesen Wahnsinn zu karikieren.

Hat der junge Mensch es geschafft, auf eine staatliche Hochschule zu kommen, sollte er auch einen Kampfsport gelernt haben. Denn jetzt heißt es: Nahkampf mit den staatlichen Sicherheitskräften. Nicht, dass diese eingreifen würden, wenn im Fastenmonat Ramadan ultranationalistische Studenten ihre Kommilitonen in der Mensa verprügeln, wie es alljährlich wieder vorkommt. Das polizeiliche Aufsichtspersonal, das an jeder Hochschule die Eingänge und den Campus überwacht, hat andere Aufgaben.
Sobald mehr als drei Studierende, womöglich noch mit Transparenten, vor der Universität stehen, werden sie behandelt, als trügen sie Sprengstoffgürtel unter der Kleidung: Pfeffergas, Wasserwerfer, stürmende Spezialeinheiten, Untersuchungshaft, Gefängnis – das volle Programm. Meist geht es den Studierenden um berechtigte und höchst harmlose Forderungen. Gegen zu hohe Studiengebühren sind sie, und wegen der momentanen Diskussion um die Zulassung von Kurdologie-Abteilungen an den Universitäten wagen einige Verwegene, ein zweisprachiges Bildungssystem zu verlangen.

Aber manchmal ist die Polizei nachlässig. Auf dem Campus der ideologisch vielfältigen Istanbuler Marmara-Universität verletzten ultranationalistische Studenten vergangene Woche linke Kommilitonen von der politikwissenschaftlichen Fakultät mit einem Döner-Messer. Ob dieses recht große Messer dem polizeilichen Aufsichtspersonal nicht aufgefallen ist? Man kann den Angriff auch als Erfüllung einer Prophezeiung betrachten. Wer Gewalt anwende, müsse mit Gewalt rechnen, sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, nachdem er im Dezember in Ankara mit Eiern beworfen worden war, die ihn allerdings verfehlten. Derzeit eskaliert sowohl der Protest als auch die polizeiliche Gewalt gegen die Studierenden. Im Dezember hatte eine Istanbuler Studentin eine Fehlgeburt, weil sie mit Pfeffergas besprüht und trotz ihrer Beteuerungen, schwanger zu sein, vor ihrer unberechtigten Festnahme von Beamtinnen der Spezialeinheiten verprügelt worden war. Erdogan sprach danach von »faschistischen Studenten« und »Terroristen«. Drei der angeblichen Rädelsführer sitzen seitdem in Untersuchungshaft und können damit rechnen, wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung angeklagt zu werden. Ihr Studium ist auf jeden Fall zu Ende, denn in solchen Fällen werden Studierende von der Lehranstalt entfernt und an keiner anderen mehr zugelassen.
Für die Istanbuler Universität wurden kurz vor Silvester Notstandsverordnungen erlassen. Im neuen Jahr hat das polizeiliche Aufsichtspersonal dort uneingeschränkte Autorität. Da bleibt nur zu hoffen, dass die Schläger zumindest ihre Döner-Messer nicht mehr mitbringen dürfen.