Revolution oder Palastrevolte?

Die Bresche

Die tunesische Revolte hat eine Bresche in das autoritäre System des Landes geschlagen. Aber sind die alten Machtstrukturen bereits besiegt?

Die tunesische Revolution ist ein Moment in der Geschichte, in dem plötzlich alles möglich erscheint. Der schnelle Sturz des autoritären Regimes von Ben Ali, das gestern noch als Hort der Stabilität galt, versetzt die Autokraten weltweit in eine präventive Panik und die Rebellen, auch die in spe, in Entzücken. Im Iran etwa unterwarf das Regime die Nachrichten aus Tunesien einer strengen Zensur, während, wie der exilierte iranische Schriftsteller Ali Schirasi auf seinem Blog schreibt, die Studenten und Intellektuellen »die Grüne Bewegung im Iran als Erdbeben und das, was derzeit in Tunis zu beobachten ist, als ein Nachbeben« bezeichnen. In Algerien hat die Macht in der Hauptstadt bereits Polizeitruppen aufmarschieren lassen, Fußballspiele und kulturelle Events suspendiert, Handynetze und die Facebook-Seite wurden gestört.
Es ist gerade die soziale Zusammensetzung der tunesischen Revolte, die das Verallgemeinerbare ausmacht: Von den Mittelklassen (Anwälte, Lehrer usw.) über die – oft hochqualifizierten – Arbeitslosen und in der informellen Ökonomie prekär Beschäftigten bis zu den Industriearbeitern, sie alle hatten die Nase voll; und der Anteil der Frauen an den Demonstrationen war hoch.
Aber handelt es sich in Tunesien tatsächlich um eine Revolution? Oder nicht eher um eine Palastrevolte? Für eine politische Revolution sprechen die heftigen Riots und Streiks im ganzen Land, die Ben Alis Herrschaft entscheidend erschütterten, für eine Palastrevolte könnte sprechen, dass die Armee Ende voriger Woche Ben Ali überzeugend nahelegte, das Land zu verlassen. Aber sie tat dies erst in Reaktion auf die Insurrektion, verweigerte sich Ben Alis Schießbefehl und zeigt bislang keine Ambitionen, selbst die Macht auszuüben.
Zwar ähnelte die Übergangsregierung, die nach Ben Alis Abflug installiert wurde, verdächtig der alten: der gleiche Premierminister, die gleichen Figuren in den Schlüsselressorts. Die auf einen starken Mann zugeschnittene Präsidialverfassung blieb zunächst unangetastet, und die schnell angesetzten Neuwahlen ließen Befürchtungen wach werden, dass die institutionelle Dominanz zu einer runderneuerten Herrschaft der alten Kräfte führen könnte – minus Ben Ali und seiner Entourage.
Aber die Dynamik der aufständischen Bewegung ist nicht gebrochen. Das bezeugen die überall im Lande weitergeführten Demonstrationen, auf denen nun die Auflösung von Ben Alis Partei RCD gefordert wird, das bezeugt der Rückzug der designierten Minister von der Gewerkschaft UGTT und den oppositionellen Parteien aus der Übergangsregierung. Und die neu errungenen Freiheiten, etwa ohne Angst vor Spitzeln über alles reden zu können, werden sich nicht einfach wieder abschaffen lassen.
Die entscheidende Frage ist, wer die Initiative ergreifen kann. Wird die Bewegung sich besser organisieren und die praktische Kritik an den Verhältnissen weitertreiben? Werden die bewaffneten marodierenden Banden, die sich offenbar teils aus Ben Alis Polizeitruppe rekrutieren, in der Lage sein, den Ruf nach einer autoritären Krisenlösung zu provozieren? Das sind nur zwei mögliche Szenarien in einer grundsätzlich offenen Situation.