Über Feminismus und Frauenrechte in Marokko

Im Frauenhaus von Casablanca

Marokkanische Feministinnen engagieren sich für die Gleichstellung von Frauen und gegen patriarchale Strukturen, die trotz einer relativ fortschrittlichen Gesetzgebung in der islamisch geprägten Gesellschaft dominieren. Doch es gibt auch Frauenrechtlerinnen, die nach einem »dritten Weg« suchen, der feministische Ansätze mit der Ethik des Islam vereinen soll.

Assisa glaubt nicht mehr ans Heiraten. Und nicht mehr an die Männer. »Sie nehmen die Ehe nicht ernst«, sagt die junge Marokkanerin mit fester Stimme. Weder Schmerz noch Abscheu sind in ­ihrem Gesicht zu erkennen. Dabei hätte sie jeden Grund, solche Regungen zu zeigen. Assisa sitzt in einem kleinen Büroraum im Untergeschoss des Centre Tilila und schildert ihre schrecklichen Erfahrungen. Von oben dröhnt Kindergeschrei, dort spielt in einem der Zimmer des geräumigen Landhauses ihre einjährige Tochter mit den Kindern der anderen Mütter, die in dieses Frauenhaus am Rande von Casablanca geflüchtet sind. Im Nebenraum sitzt ein halbes Dutzend erwach­sene Frauen mit Schiefertafeln um einen großen Tisch herum und lernt lesen und schreiben.
Assisa erzählt von ihrem Mann, der keinen festen Job hatte und ihr dennoch kurz nach der Hochzeit verbot, weiter arbeiten zu gehen. Die 31jährige erwartet gerade ihr zweites Kind. In ihren Jeans und der grünen Fleece-Jacke, das knappe Kopftuch im Nacken zusammengeknotet, sieht sie deutlich jünger aus. »Vor allem am Ende des Monats, wenn das Geld nicht reichte, hat er die Nerven verloren und fing an, mich zu schlagen«, berichtet sie. »Bevor wir heirateten, war alles ganz anders. Er konnte die Verantwortung nicht tragen.«
Das Frauenhaus wurde vor vier Jahren von der »Ligue Démocratique pour les Droits des Femmes« (LDDF) gegründet. Bis heute ist es die einzige Einrichtung dieser Art in der Drei-Millionen-Metropole Casablanca. Höchstens 20 Frauen können hier untergebracht werden, die Überbelegung droht permanent. Das Zentrum wurde mit Hilfe von Geldspenden finanziert, eine Anfrage an die Regierung, einen Raum zur Verfügung zu stellen, blieb bislang ohne Erfolg.

Leila ist seit zwei Wochen hier. »Ich bin froh, dass ich diese Entscheidung getroffen habe«, sagt die 35jährige. Als sie ihren Job verlor und das Geld kaum mehr zum Leben reichte, wurde ihr Mann immer brutaler. Und als Leila schließlich von Scheidung sprach, drohte er, sie umzubringen. In ihrer Umgebung kümmerte das niemanden. »Ich ging jedes Mal zu seinen Eltern und erzählte ihnen, was passiert war«, berichtet Leila. Doch sie rieten ihr, Geduld zu haben und »keine Familiengeheimnisse auszuplaudern«. Auch ihre eigenen Eltern wollten sich nicht einmischen.
Hilfe fand sie nach langer Suche im »Centre d’écoute« in der rue Rahal Meskini, mitten im belebten Viertel Mers Sultan im Zentrum von Casa­blanca. Bevor Leila und Assisa im »Tilila« unterkamen, waren sie hier zum Beratungsgespräch. »Die Gesellschaft treibt die Frauen oft dazu, die Gewalt zu akzeptieren und sich unterzuordnen«, bestätigt Tikerouine Khadja. Die Juristin arbeitet seit acht Jahren für die Ligue. »Die Nachfrage nach Unterstützung ist groß«, sagt sie. »Die meisten Frauen kennen ihre Rechte nicht.«
Dabei hat sich die rechtliche Lage für Frauen gerade in Marokko entschieden verbessert. Vor sieben Jahren, am 10. Oktober 2003, kündigte König Mohammed VI. eine Reform der Moudawana an, des Familienrechts, die dafür sorgte, dass sein Königreich zumindest auf dem Papier über eine der fortschrittlichsten Familiengesetzgebungen der arabischen Staaten verfügt.
Seitdem können Frauen gleichberechtigt heiraten und die Scheidung ohne Einwilligung des Mannes einreichen. »Das ist zweifellos der größte Erfolg des neuen Gesetzes«, sagt Fouzia Assouli, Präsidentin und Mitbegründerin der LDDF. Die Ligue unterhält im Stadtteil Mers Sultan auch das »Centre d’Information et d’Observation des Femmes Marocaines« (Ciofem), in dem sich an diesem Morgen eine Hand voll Mitarbeiterinnen eingefunden hat. Als »Brücke zwischen der prak­tischen Arbeit und der Forschung« beschreibt die 52jährige Rechtsberaterin das kleine Zentrum. An den Wänden hängen neben Plakaten mit arabischen Texten auch bekannte Poster wie etwa das der französischen Initiative »Ni putes ni soumises« (Weder Huren noch Unterwürfige) oder die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
»Wir versuchen, die Verhältnisse, die auf der Dominanz der Männer beruhen, zu verändern«, stellt Fouzia Assouli klar. Auch Studien über die neue Moudawana gehören zu den Aufgaben des Ciofem. Darin zeigt sich, dass Theorie und Praxis noch weit voneinander entfernt sind. »Das Gesetz lässt den Richtern viel Spielraum«, sagt Assouli. Etwa wenn es darum geht, Minderjährige zu verheiraten. Das neue Gesetz legt ein Heiratsmindestalter von 18 Jahren fest. Dennoch sind es der Statistik nach immer noch zehn Prozent der Frauen, die minderjährig verheiratet werden. Sie bekommen vom Richter eine Ausnahmegenehmigung. Die Begründungen dafür seien inakzeptabel, sagt die Feministin: »Da heißt es etwa, es sei Brauch, die Mädchen früh zu verheiraten.«
Den Erfolg der neuen Moudawana macht die Ligue von der Alphabetisierung der Frauen abhängig. Man muss seine Rechte kennen, um sie einfordern und durchsetzen zu können. Derzeit können jedoch in Marokko weit weniger als 50 Prozent der Frauen lesen und schreiben. Die LDDF tourt deshalb in ihren »Caravanes de l’égalité« mit mobilen Fortbildungsstätten durch das Land. Auch in der Großstadt findet diese Arbeit statt.

Ein paar Straßen vom Ciofem entfernt hat die LDDF ein kleines Lokal im dritten Stock eines Wohnhauses gemietet. Ein Dutzend Frauen sitzt im Kreis, sie beugen sich über arabisch-französische Lesebücher. »Ich möchte einen Scheck auf der Bank korrekt ausfüllen können«, sagt die 29jährige Alioune Khadija. Am Flipchart steht Hamid Eddokakali. Für den freiwilligen Unterricht hat der frühere linke Kämpfer einen weißen Kittel übergestreift. Auf allgemeinen Wunsch wird der Leseunterricht durch Alltagsthemen ergänzt. Heute ist das menschliche Blutbild dran. »Die weißen Blutkörperchen sind das Verteidigungsministerium, wenn wir sie verlieren, bricht die totale Anarchie aus«, doziert der Lehrer.
Noch tiefer im Zentrum der pulsierenden Metropole, am Boulevard Hassan II, nahe des Justizpalasts und der berühmten Place Mohammed V, hat Fadela Sebti ihre Kanzlei. Sebti ist eine Feministin der ersten Stunde. 20 Jahre lang kämpfte sie für die Reform des Familienrechts. Die Anwältin verfügt, so lässt es bereits diese Adresse in downtown Casablanca erahnen, über eine Klientel aus der gehobenen Mittelschicht. Die moderne Kanzlei liegt im 9. Stock eines älteren Bürogebäudes. Vom Balkon aus kann man die Aussicht über die Dächer der Stadt bis zum Meer genießen.
Der jung gebliebenen 60jährigen hört man an, dass sie zehn Jahre in Frankreich gelebt hat. 15 Jahre ist es her, dass sie ihren Roman »Moi Mireille quand j’étais Yasmina« geschrieben hat, mit dem sie über Marokkos Grenzen hinaus berühmt wurde. Die Geschichte handelt vom Kulturschock, dem die Französin Mireille und ihr marokkanischer Ehemann ausgesetzt sind. Würde es Mireille im heutigen Marokko anders ergehen? Dieser Frage geht Fadela Sebti etwas aus dem Weg. »Die Situation hat sich verändert. Unsere Töchter können sich nicht vorstellen, wie die Gesetze früher waren«, sagt sie. Ist der Feminismus in Marokko noch lebendig? »Die jungen Frauen sind weniger motiviert, weil viele Probleme zumindest gesetzlich gelöst sind.« Rückschritte gab es auch. »Sehen Sie sich nur in meiner Kanzlei um: Drei meiner fünf Angestellten tragen ein Kopftuch.« Noch vor fünf Jahren hättee sie das nicht für möglich gehalten. »Ich habe vergeblich versucht, mich dagegen zu wehren«, sagt Sebti lachend.
Ihre Bilanz der Reform fällt wie jene der Ligue-Frauen sehr gemischt aus. »Die materiellen Probleme der Frauen wurden nicht gelöst«, lautet ihre Hauptkritik. Etwa, weil den Frauen bei der Kalkulation der Unterhaltspflicht die Hausfrauentätigkeit nicht angerechnet wird. Für Frauen ohne Beruf stellt somit die Scheidung ein Problem dar. Zudem bleibt nach dem neuen Recht der Vater weiterhin Vormund der Kinder. »Und ich bin noch keinem Mann begegnet, der in einem Ehevertrag auf dieses Recht verzichten wollte«, beteuert die Juristin.
Der Gesetzgeber, davon ist Sebti überzeugt, wäre weitergegangen, als Richter es in ihren Urteilen tun. Doch von der Legislative erwarten Feministinnen in Marokko derzeit wenig Unterstützung. Der König wird von vielen als fortschrittlicher eingestuft als die Versammlung der gewählten Volksvertreter. »Wenn wir vom Parlament abhängig wären, hätten wir viel weniger erreicht«, sagt etwa Fouzia Assouli.

Die Regierung und das Parlament tagen in der Hauptstadt. Casablanca und Rabat sind durch 100 Kilometer Autobahn miteinander verbunden, die Straße verläuft entlang der Küste. Im Vergleich zu der lauten, mit Autos und Menschen vollgestopften Metropole wirkt Rabat recht überschaubar und ruhig. Die Abgeordnetenkammer liegt etwas zurückversetzt an der vierspurigen Mohamed V Avenue. An diesem Dienstagmorgen demonstriert vor den schweren Eisentoren ein Grüppchen von Menschen. Einige der Protestierenden haben sich auf den mit Palmen gesäumten Mittelstreifen zurückgezogen, der Verkehr fließt weiter. Entspannt stehen einige Polizisten hinter den Absperrungen herum. »Das sind Arbeitslose, aber solche mit Diplomen«, sagt der Parlamentarische Sekretär des Parti de la Justice et du Déve­lopement (PJD), der uns am Hintereingang abholt. »Nicht nur in Tunesien und Algerien ist Krise, auch in Marokko«, fügt er in gebrochenem Französisch hinzu und führt uns nach oben in den dritten Stock. Wir nehmen in einem nüchternen Wartezimmer Platz und warten auf Bassima Haqqaoui, seine Chefin, eine Frau, die in der islamistisch orientierten Partei eine bemerkenswerte Karriere hingelegt hat. Seit acht Jahren sitzt sie nun schon im Parlament. Bei den vergangenen Wahlen trat sie als Spitzenkandidatin an. Nun ist sie das einzige weibliche Mitglied des Parteivorstands. Der PJD hat inzwischen 46 von 325 Sitzen inne und ist zweitstärkste Partei. Bei den Wahlen vor drei Jahren gelang 34 Politikerinnen der Einzug ins Parlament, das sind vier mehr, als es die seit 2002 festgelegte Quote vorschreibt. Sechs davon stellt der PJD.
»Der PJD bewertet die weiblichen Kompetenzen sehr positiv«, sagt Bassima Haqqaoui. »Ich trage Verantwortung in einem Maß, wie es Frauen in anderen Parteien untersagt ist.« Die promovierte Sozialpsychologin ist traditionell gekleidet, das braune Kopftuch ist farblich mit der Tunika abgestimmt. Ihre Antworten kommen schnell. Sie ist es gewohnt, Interviews über Frauenfragen zu geben.
Haqqaouis Partei wird eine widersprüchliche Auffassung vorgeworfen, was die Moudawana angeht. Zwar hat sie für die Reform gestimmt, regelmäßig machen Mitglieder des PJD jedoch auf die »Gefahren« aufmerksam, die sich daraus angeblich ergeben. Etwa in Hinblick auf die Scheidung. »Angesichts der hohen Scheidungsraten kann man sich fragen, ob die Prozedur wirklich positiv ist«, erklärt Haqqaoui. Als »falsche Debatte«, die von »außen bestimmt wird«, bezeichnet die Abgeordnete die Diskussion um die Ehe von Minderjährigen. »Wir sind für eine Gleichberechtigung im Sinne der Gerechtigkeit«, stellt sie klar und lässt gewisse Sympathien für das islamische Recht, die Sharia, durchblicken. »Wir sind uns jedoch bewusst, dass es derzeit nicht möglich ist, diese Praxis einzuführen.« Sie glaube an »Gottes Gerechtigkeit«, sagt Haqqaoui zum marokkanischen Erbrecht, das sich weiterhin am Koran orientiert und unterschiedlich große Erbteile für Töchter und Söhne vorsieht. »Die Männer bekommen in manchen Fällen mehr, weil sie die Familie beschützen und unterhalten müssen.«

Sich auf den Islam zu stützen und dennoch feministische Ambitionen zu haben, das fordern seit einiger Zeit andere muslimische Frauen. Sie haben dafür den Begriff »islamischer Feminismus« geprägt. Um eine der bekanntesten Verfechterinnen dieser Idee zu treffen, verlassen wir das Zentrum Rabats und fahren in ein Viertel am Rande der Stadt namens Les Ambassadeurs. Die Gegend hat ihren Namen verdient. Links und rechts der planquadratisch angelegten Straßen liegen großzügige Residenzen, deren Ausmaße sich vor den Mauern, die sie umgeben, nur er­ahnen lassen. Asma Lamrabet empfängt uns in der vorderen der drei Sofagarnituren, die in der großen Eingangshalle verteilt sind.
Vormittags arbeitet die Ärztin im Krankenhaus, nachmittags studiert sie die heiligen Schriften und befasst sich mit Religionsphilosophie. Ihr »dritter Weg« sieht vor, »sich vom Inneren des ­Islam her für die Rechte der muslimischen Frauen einzusetzen«. Die überzeugte Kopftuchträgerin wendet sich entschieden gegen die enge Verbindung von islamischem Glauben und Staat: »Man muss die Religion von der Instrumentalisierung durch die Politik befreien«, meint sie. Denn diese habe dazu geführt, dass der Islam zur »Quelle der Unterdrückung« wurde. Sie verurteilt diesen politischen Islam ebenso wie die Jahrhunderte lange »patriarchale und diskriminatorische Lesart« des Koran, in dem es »keine Probleme« mit der Gleichstellung von Mann und Frau gebe. Man müsse die Texte neu interpretieren, sagt die Ärztin, »mit dem Ziel, eine universelle Ethik herauszuziehen«. Ob und wie sich diese Lesart von westlichen Werten unterscheidet, bleibt offen. »Es gibt keinen Unterschied«, ist Lamrabet überzeugt, doch ihre Referenz sei der Koran.
Die islamische Feministin stößt bislang bei den Gelehrten zumeist auf Widerspruch. Ein hoher Rat lehnte ihr jüngstes Buch »Der Koran und die Frauen« ab. Weniger groß ist der Abstand zu den säkularen Feministinnen. Dennoch gehen diese auf Distanz. »Man kann nicht gleichzeitig Feministin und islamisch sein«, sagt etwa die Anwältin Fadela Sebti, »es gibt einen Widerspruch zwischen den beiden Begriffen, denn im Islam gibt es keine Gleichstellung von Mann und Frau.« Für Fouzia Assouli steht ebenfalls fest: »Der Feminismus kämpft gegen die Ungleichheiten. Diese Bewegung braucht kein anderes Etikett.« Sehr viel deutlicher fällt das Urteil über den islamistischen PJD aus: »Die nehmen den Feminismus als Geisel und wollen uns wieder zu Gehorsam und Sklaverei nötigen. Und da sagen wir: Diese Zeit ist vorbei.«