Der chinesische Nationalismus und der Umgang mit Minderheiten

Die Erben der Qing-Kaiser

Die chinesische Expansionspolitik folgt vor allem wirtschaftlichen Interessen. Der Nationalismus Chinas ist nach innen gerichtet und soll das Land mit seinen vielen Minderheiten zusammenhalten.

Benedict Anderson hat in »Die Erfindung der Nation« die These aufgestellt, dass Nationalbewusstsein vom Staat erst geschaffen werden musste. Der Aufstieg der Idee der Nation hinge mit der Entwicklung des westlichen Kapitalismus und den modernen Printmedien zusammen. Am Beispiel Chinas wird besonders deutlich, wie schwer es ist, eine Nation zu konstruieren. Bis heute gibt es für Nation, Staat und Land im Chinesischen nur ein Wort: guojia. Nationalismus war der chinesischen Kultur bis Mitte des 19. Jahrhunderts fremd. Gemäß dem traditionellen sino-zentrischen Weltbild war das »Reich der Mitte« das Zentrum der Welt und alle Menschen »unter dem Himmel« galten als Untertanen des Kaisers. Das Reich hatte weder klar definierte Staatsgrenzen noch Vorstellungen von moderner Souveränität. Im Zentrum wurde eine direkte Herrschaft ausgeübt. In der Peripherie des Reiches begnügte sich die Hauptstadt mit Steuerzahlungen oder symbolischen Tributen.

Vom »Barbaren« zum Chinesen konnte jeder werden, der sich Schrift und konfuzianische Riten aneignete. Während der Yuan-Dynastie (1279–1368) regierten sogar Mongolen und während der Qing-Dynastie (1644–1911) Mandschuren das Reich. Das sinozentrische Weltbild brach Mitte des 19. Jahrhunderts durch die koloniale Expansion des Westens zusammen. China wurde vor die Frage gestellt, wie man auf die Bedrohung des militärisch und ökonomisch überlegenen Westens reagieren sollte. Seit dieser Zeit, im Grunde bis heute, schwanken die Debatten in China zwischen zwei Extremen. Erstens: Man sei dem Westen eigentlich moralisch überlegen, müsse sich nur technisches und militärisches Wissen des Auslands aneignen. Zweitens: China müsse sich vollständig verwestlichen, um nicht unterzugehen.
1911 stürzten bürgerliche Revolutionäre die Qing und riefen die Republik der »fünf Rassen« aus (Han, Mandschuren, Mongolen, Tibeter und Hui). Die Nationalisten aller Couleur wollten einen modernen Nationalstaat schaffen, erbten jedoch ein multiethnisches Reich. Die Qing hatten seit dem 17. Jahrhundert das Reich weit nach Westen ausgedehnt und somit Millionen von Muslimen und Nicht-Hanchinesen integriert. Die 1921 gegründete Kommunistische Partei Chinas (KPCh) forderte zunächst das Recht auf unabhängige Sowjetrepubliken für Mongolen, Tibeter und Uiguren, gab diese Vorstellung im Rahmen der nationalen Einheitsfront gegen die japanischen Invasoren jedoch wieder auf. Auf Druck der Sowjetunion musste die KPCh 1949 widerwillig die Unabhängigkeit der Äußeren Mongolei anerkennen. Bis heute definiert und verteidigt die KPCh die Grenzen des Qing-Imperiums ironischerweise als die »natürliche Grenzen« der chinesischen Nation. Auslandschinesen in Südostasien sollen hingegen nicht Heim ins Reich geholt werden. Trotzdem wirbt Peking um sie, um seinen außenpolitischen Einfluss auszudehnen. Internationale Konflikte könnten sich eher um umstrittene Inseln wie Taiwan, Senkaku/Diaoyu oder Spratly entzünden.
In der Tat ist das chinesische Projekt des nation building nach innen gerichtet. Die Homogenisierung der Bevölkerung zu einheitlichen Staatsbürgern ist vor dem multiethnischen Hintergrund des Landes keine realistische Option. Stattdessen übernahm die KPCh von der frühen Sowjetunion die Politik, ethnische Minderheiten zu definieren, ihre Kultur und Sprache zu fördern und in autonomen Regionen und Bezirken zu organisieren. Die Minderheiten machen zwar nur acht Prozent der Bevölkerung aus, besiedeln aber rund 50 Prozent der gesamten Staatsfläche, vor allen in strategisch wichtigen Grenzregionen. In den fünfziger Jahren schickte die Partei Hunderte ethnologische Untersuchungskommissionen aus, um Minderheiten ausfindig zu machen und Schriftsprachen für sie zu entwickeln, falls sie keine besaßen. 400 Gruppen bewarben sich um den Status einer ethnischen Minderheit, aber nur 55 wurden schließlich offiziell anerkannt. Die KPCh erkannte zum Beispiel die Zhuang an, die vor 1949 kein einheitliches ethnisches Bewusstsein hatten und heute mit über 16 Millionen die größte Minderheitengruppe sind. Unter die Bezeichnung Hui wurden vor 1949 alle muslimischen Bewohner gefasst, nun wurden sie in einzelne »Ethnien« wie Uiguren, Hui oder Kasachen eingeteilt.

Jeder Bürger ist gezwungen, sich einer »Ethnie« zuzuordnen, die im Personalausweis vermerkt ist. Fragwürdig ist auch die Konstruktion der Han, die über 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Während man die Zugehörigkeit zu den anderen 55 »Ethnien« durch Abstammung nachweisen muss, reicht bei den Han eine Erklärung der Zugehörigkeit ohne Begründung. Wie im Fall der Sowjetunion stellt sich die Frage, ob die Kommunisten nicht selbst ethnische Konflikte verschärft haben, indem sie ethnische Identitäten erst schufen, die vorher nur schwach ausgeprägt waren. Wenn die chinesische Regierung das chinesische Volk als nationale Einheit beschwört (zhonghua minzu), dann sind damit alle 56 »Ethnien« gemeint. Ein guter Staatsbürger ist also in erster Linie Chinese und erst dann z.B. Tibeter. Wenn Mao davon sprach, dem »Volk zu dienen« (renmin), hatte das keinerlei ethnische Implikationen. Im Unterschied zu minzu ist renmin ein rein politischer Begriff. Welche Klassen zum Volk und welche zu den Feinden gehörten, definierte Mao immer wieder neu.
Seit den achtziger Jahren hat die chinesische Regierung die »patriotische Erziehung« in den Schulen verstärkt. Neben dem Stolz auf die Errungenschaften der »5 000jährigen chinesischen Zivilisation« werden auch Erinnerungen an die »nationale Schmach« wach gehalten. Dabei stehen die Kriegsverbrechen der japanischen Armee im Vordergrund. Während in der Mao-Ära fast ausschließlich der heldenhafte Widerstand betont wurde, verbreiteten Medien nun fast täglich Darstellungen von Massakern und Vergewaltigungen durch japanische Soldaten. Als Folge hat sich ein Nationalismus von unten verselbständigt, der sich vor allem auf die gebildete städtische Jugend und die Studenten stützt. Diese Nationalisten richten sich gegen alle, die China angeblich beleidigen. Einen großen Auftrieb erhielt die Bewegung, als 1999 die USA im Krieg gegen Jugoslawien die chinesische Botschaft in Belgrad bombardierten.
Demonstrationen gegen japanische Geschäfte oder der Boykott französischer Supermarktketten haben zeigt, dass die chinesische Regierung den Nationalismus von unten nicht vollständig kontrollieren kann. Die KPCh braucht den Nationalismus zwar als Legitimation nach innen, zu den ausländischen Regierungen und Investoren möchte man aber gute Beziehungen pflegen.
In der Bevölkerung ist außerdem, das wird gerade auch im Internet immer wieder sichtbar, ein Han-Chauvinismus weit verbreitet. Ethnische Minderheiten, die von der Zentralregierung viel zu großzügig subventioniert würden, werden als rückständig und faul angesehen. Es wird moniert, dass Minderheiten durch Quoten leichteren Zugang zu Universitäten haben sowie in vielen Fällen von der Ein-Kind-Politik befreit sind. Kommt es zu Unruhen wie 2008 in Tibet, dann ereifern sich Han-Chinesen über die »Undankbarkeit« der Minderheiten.

Die Zukunft wird zeigen, ob sich der Nationalismus von unten auch mit Rassismus verbinden wird. Rassentheorien wurden zwar Ende des 19. Jahrhunderts auch unter chinesischen Intellektuellen populär, nach 1949 aber von der KPCh unterdrückt. Studenten und Händler aus Afrika haben es in China heute dennoch nicht leicht. Die Ablehnung von »schwarzer« Hautfarbe ist tief in der Bevölkerung verankert. Selbst bei Chinesen gilt dunkle Haut als Zeichen für bäuerliche Herkunft und niedere Arbeit. Gemäß dem Schönheitsideal sind Models in der Werbung kreideweiß. Es ist eher unwahrscheinlich, dass die Regierung rassistische Ressentiments schüren wird, da sie sich in Afrika bemüht, die Übernahme ganzer Wirtschaftszweige als freundschaftliche Hilfe durch ein anderes Dritte-Welt-Land zu verkaufen.
Die Welt hat vom chinesischen Nationalismus nichts zu befürchten, solange die Grenzen des Qing-Reichs nicht in Frage gestellt werden. Für die KPCh geht es vor allem darum, die Einheit des chinesischen Staats trotz aller »ethnischen« und sozialen Konflikte aufrechtzuerhalten. Aus dem Zerfall der Sowjetunion hat sie die Lehre gezogen, dass die Aufgabe des Machtmonopols der Partei auch das Ende der Vereinigung der vielen Minderheiten in einem einheitlichen Staat bedeuten würde.